von Ricky Trang
Wenn es etwas Lächerliches daran gibt, von der Revolution zu sprechen, dann natürlich deshalb, weil die organisierte revolutionäre Bewegung aus den modernen Ländern, in denen die Möglichkeiten zu einer entscheidenden Gesellschaftsveränderung konzentriert sind, seit langem verschwunden ist. Dass alles andere noch viel lächerlicher ist, da es sich um das Bestehende und um die verschiedenen Formen seiner Duldung handelt, bedarf keiner besonderen Erwähnung.
Besonders lustig ist es trotzdem nicht, wenn alle organisierten Kräfte jene sind, die das Spektakel wollen. Längst schon sind auch jene, die vorgeben etwas ändern zu wollen, kein Feind mehr dessen, was ist. Wenn der Änderungswunsch darin besteht, die Zeit zurückzudrehen und den fleißigen und anständigen 99% wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, wenn jede kritische Reflexion über die historische Entwicklung entfällt und revolutionäre Bestrebungen durch den frommen Glaubenssatz „die Welt sollte am besten so bleiben, wie sie früher einmal war“ und ein völliges Unverständnis innerkapitalistischer Gesetzmäßigkeiten ersetzt werden, droht die Existenz fetischistischen Bewusstseins total zu werden.
Dabei muss eine Revolte gegen das Spektakel ebenso total sein wie das Spektakel selbst. Dementsprechend rückten die Situationisten vor einem halben Jahrhundert die Kritik des Alltags ins Zentrum und verlangten die Aufhebung der Ware und die Abschaffung der Arbeit. Sie wussten, dass es, um die bestehende Gesellschaft wirklich erschüttern zu können, einer umfassenden Erklärung derselben bedarf. Zweifellos muss eine solche Erklärung zunächst vermeiden, sichtbar falsch zu sein. Sie darf daher nicht von den Folgen der Ereignisse widerlegt werden. Trotzdem muss sie völlig unannehmbar sein, da sie ja die bestehende Welt selbst für schlecht erklärt. Eine Erklärung, die laufend um die Entwicklungen des Spektakels und die Erkenntnisse seiner Feinde erweitert werden muss.
Wer mit der Zeit, dem Spektakel und dem sich herauskristallisierenden Wissen über seine Funktionsweise und Geschichte nicht mithalten kann, der darf sich nicht wundern, wenn er mit seinem neuen Buch auf einer Auswahl an Büchern rund um das Thema „Occupy“ landet.
Zwischen der Trauer um die Welt und der Lust am Leben
Raoul Vaneigems Buch war eigentlich als Autobiografie angekündigt. Was Vaneigem in den fünf Kapiteln abhandelt, ist aber nicht die Chronologie seines Lebens, sondern eine Betrachtung der Haltungen, die er seit seiner Kindheit in einer belgischen Arbeiterfamilie als Revolutionär, als Alkoholiker und Intellektueller, als Familienvater und als alter Mann gewonnen, überwunden oder modifiziert hat.
Und es ist ein Buch, das einen ratlos und im Zwiespalt zurücklässt. Ein typischer Vaneigem, der gegen die Herrschaft des Geldes, die Tyrannei entfremdeter Arbeit und überhaupt gegen alles zu Felde zieht, was der Kunst, ein gutes Leben zu führen, zuwiderläuft. Aber, wie wir sehen werden, auch ein alter paranoider Mann, der mit der Entwicklung des Spektakels nicht mehr mitkommt und für den hinter jeder Ecke ein Spekulant lauert.
Doch beginnen wir am Anfang, in den sechziger Jahren. Heute erinnere ihn so manches an die Stimmung dieser Zeit, schreibt er, als er zu dem neuen Proletariat gehört habe, das im Konsumüberfluss seine Ärmlichkeit entdeckte. Er versucht in der gelebten Erfahrung einer chaotischen Vergangenheit jene Elemente zu finden, deren Genese und Entwicklung ihm in der Gegenwart einen stabileren Halt geben sollen, um jene Umkehrung der Perspektive darauf zu gründen, die er nie aufgehört hat herbeizuwünschen. Wenn er dem Faden seiner Irrwege folgend, seine Lehrzeit in der Umkehrung der Perspektive nachzeichnet, ist es nicht überraschend, dass die Ereignisse des Mai 1968 ihm als immer wiederkehrender Referenzpunkt dienen.
Wir nahmen die auf uns lastende Entfremdung mit dem Skalpell der Hellsicht auseinander, um sie weniger drückend zu machen
Was sich im Mai 1968 mit der Klarheit einer jähen, schroffen Offenbarung Ausdruck verschafft hat, ist ihm nicht mehr und nicht weniger als die Ablehnung des Überlebens im Namen des Lebens. So wie die Französische Revolution Gott getötet hat, hat die Bewegung der Besetzungen vor aller Augen die Stützpfeiler einer jahrtausendealten Zivilisation untergraben, deren Fundament schon ausgehöhlt war und nun darauf reduziert ist, den schauerlichen Prunk ihres Zerfalls zu zelebrieren.
Unterschätzt das Ausmaß der Flutwelle nicht, die entstand, als eine erste Bewusstwerdung unter dem Schaum einer gewaltigen Ablehnung aufbrandete, die Nein sagte zu Lohnarbeit und Aufopferung, zu Ideologien, Schuldgefühlen, Macht und Zwang, zu Raub und Hierarchien, zum Herr-Knecht-Verhältnis, zu Ausbeutung und einem „um alles gebrachten Leben“. Aus dieser Brandung ist der ununterdrückbare Wunsch nach einem anderen Leben entstanden, das erst erfunden werden muss.
Das Unbehagen an der Warenzivilisation brachte 1968 eine Realität ans Licht, die die Fiktion von konsumierbarem Glück nicht länger verbergen konnte: die lukrative Ausbeutung des schöpferischen Potentials des Menschen, das allein fähig ist, eine wahrhaft menschliche Gesellschaft zu begründen. Seither hat der Konsumismus die todbringende Illusion verbreitet, das Überleben könne so weit verbessert werden, dass es einen Komfort garantiert, der das Fehlen echten Lebens vergessen macht.
Sich einem Leben zu überlassen, dessen Herz beim geringsten seiner Wünsche zu klopfen beginnt
Wie haben wir es so lange ertragen, in einer Welt dahinzuvegetieren, in der das erste Gebot befiehlt, sich selbst und die anderen um ihr Leben zu bringen? Alles in und um uns hat die Gestalt einer Sünde angenommen, von der wir uns freikaufen müssen. Eine solche Zivilisation, die den Menschen und die Welt in Gewinnobjekte verwandelt, lässt den Tod ihre Geschicke lenken.
So ist Vaneigem zu dem Entschluss gekommen, auf nichts mehr zu warten und alles auf die Leidenschaft des Lebendigen zu setzen. Er hat lange genug gebraucht, um zu verstehen, dass es nur einen Stützpunkt gibt, der den Plänen zum Umsturz der Welt festen Halt und beständige Sicherheit verleihen kann: den nämlich, sein Glück zu erschaffen, und zwar so, dass es, um das Glück der anderen bereichert, sich nur darum kümmert, es voranzubringen.
Für ihn haben jene Orte und Zeiten absolute Priorität, zu denen Liebe und Freuden ihn hinziehen. Dort entstehen Augenblicke, die gerade in ihrer Flüchtigkeit dem Glück Beständigkeit verleihen. Sie sind weder Obdach noch Zuflucht, sondern ein Vorposten, Enklave seiner Lebenskräfte in einem Land, das er von den tödlichen Strahlungen des Geldes befreien will.
Den Plan, die Meute der Umweltverschmutzer und Plünderer von Leben und Erde zu vernichten, hat er nie aufgegeben und heute weniger denn je. Doch hat er beschlossen, künftig auf den Lebenswillen zu bauen und nicht mehr auf den Todestrieb, der sich aus dessen Verkehrung speist. Er nährt nicht mehr die Träume vom Racheengel, ob er Emile Henry, Ravachol oder Bonnot heißt. Seiner Überzeugung nach ist der beste Weg nicht, seine Feinde und sich gleich mit zu zerstören, noch sie durch Selbstaufopferung zu erledigen, sondern sich sein eigenes Leben aufzubauen und in ihm und um es herum die Unentgeltlichkeit des Lebendigen herzustellen.
Die besten Absichten sind tödlich, wenn nicht der Wunsch nach einem besseren Leben, sondern Berechnung sie nährt
Als die Situationisten die Unlebbarkeit der Warengesellschaft hervorhoben, schien sich alles zusammenzutun, um sie zu widerlegen: Öffnete der Triumph des Konsums dem Proletariat nicht die Tür zu einer Selbstbedienungs-Demokratie, die mit den Fanfaren der euphorischen Reklame des Marktes das Zeitalter des Glücks prophezeite? Sie ahnten, welche Verheerungen diese Enthirnung anrichten würde, die, ohne grobe Propagandamethoden zu brauchen, überall die Keime eines konsumierbaren Hedonismus aussäte, indem sie ein Warenparadies eröffnete, das gegen einen bescheidenen finanziellen Beitrag jedem zugänglich sein sollte. Auch fünfzig Jahre später noch sind die proletarisierten Massen in ihrer existenziellen Verwirrung von einem Konglomerat aus Reklame-Träumen in all ihrer Nichtigkeit fasziniert, die ihnen um den Preis einer aller wahren Wünsche und infolgedessen auch ihrer lebendigen Substanz entleerten Existenz geboten werden. Die Profitmaschinerie hat aus dem Planeten eine demokratisch geführte Strafkolonie gemacht, in der die Folterknechte austauschbar sind und an ihrer eigenen vorprogrammierten Vernichtung arbeiten.
Ne travaillez jamais
Bescheiden gesteht Vaneigem zu, dass es immerhin zwei Bücher waren, die am deutlichsten das Ende der Warenzivilisation und die Geburt einer menschlichen Zivilisation anzeigten. (Er meint damit natürlich sein Handbuch der Lebenskunst und Debords Gesellschaft des Spektakels .)
Zwei Bücher, die auch zeigten, dass die SI keine Analyse des Kapitals hatte – sie hat es verstanden, durch seine Auswirkungen. Sie hat die Ware kritisiert, nicht das Kapital – oder, genauer gesagt, sie hat das Kapital als Ware kritisiert und nicht als Verwertungssystem, das die Produktion wie auch den Tausch beinhaltet. Die SI sah das Kapital in der Form der Ware und ignorierte den Zyklus als Ganzes. Und Vaneigem war immer Visionär – daran lag und liegt seine große Stärke, es kam nicht von ungefähr, dass seine Sprüche und Parolen im Mai 68 die Wände der Sorbonne zierten – und theoretisch das schwächste Glied der SI. Mit diesem Erbe im Gepäck erwies er sich auch in Hinblick auf die seit damals gewonnenen Erkenntnisse der Gegner des Spektakels als entwicklungsresistent. Wobei natürlich nicht alles, was er seitdem sagt, falsch ist, ganz im Gegenteil. Aber lesen wir weiter.
Die Einführung einer auf Lohnarbeit basierenden Wirtschaftsform hat die Wirklichkeit ihren Imperativen unterworfenen. Die Arbeit hat noch die ihr fremdesten Aktivitäten, die Kunst und Liebe, brandig gemacht. Warum sollten uns die Religionen mit ihrem letzten Röcheln verschonen, wenn die Existenz weiter als Kreuzweg erlebt wird? Niemand entkommt dieser Verflechtung von Zwängen und Freuden, in deren Netzen die Söldnertradition die widerspenstige, ausschweifende Natur einfängt. Die Tyrannei der Lohnarbeit, die noch die kleinsten Genüsse ihrem Geist und ihrem Rhythmus anpasst, ist ein Verrat an der Kindheit und den Verheißungen, die sie für die Zeit der Reife erahnen lässt. Der Fluch der Arbeitslosigkeit liegt darin, dass sie den Fluch der Arbeit fortbestehen lässt. Kaum steht das Fließband still, empfindet der Mensch die Abschaffung der Sklaverei, durch deren Einführung er sich einst disqualifiziert hat, als Qualitätsverlust.
Doch was diese Arbeit genau ist, bleibt ihm ebenso verborgen wie die Sache mit dem Gebrauchs- und Tauschwert, vom Verfall der Wertsubstanz ganz zu schweigen.
Wir sind von Schafen umgeben, die davon träumen, Metzger zu sein
Aus diesen Defiziten erwachsen Verschwörungstheorien. Den Schleier der vaneigemschen Sprache beiseite gewischt bleibt das übliche Gejammer all der Ratlosen und Wütenden, die nichts verstanden, aber dafür sofort die Schuldigen gefunden haben, was heute als Gesellschaftskritik salonfähig geworden ist: Der verkalkte Kapitalismus opfert Industrie und staatliche Versorgungseinrichtungen der Börsenspekulation, unter dem Druck der Börsenspekulation zerbröselt die Produktion gesellschaftlicher Güter, und der Spekulations- und Finanzkapitalismus wertet die nützliche Tätigkeit ab und die lukrative Nutzlosigkeit auf, wobei der Tauschwert auf Kosten des Gebrauchswerts wächst, jener hypertrophe Tauschwert, der über dem seiner Substanz entleerten Gebrauchswert taumelt. Oder kurz zusammengefasst: weil die grotesken, furchtbaren Götter der Börsenspekulation über abgewertete Menschen herrschen…
Es ist dieser neue Obskurantismus, der den Verstand ebenso wirksam verstopft wie einst die religiöse Verdummung, die mit ihrem Geruch nach Scheiterhaufen und Weihrauch heute wieder am Marktstand der Moderne ausliegt. So wird das Anprangern der gesellschaftlichen Barbarei, ohne das Übel an der Wurzel zu packen, zur Gefahr: Es wird nach Schuldigen gesucht, statt an den Bedingungen anzusetzen, die sie hervorbringen.
Raoul Vaneigem: Zwischen der Trauer um die Welt und der Lust am Leben – Die Situationisten und die Veränderung der Haltungen, Edition Nautilus, Hamburg 2011, 192 Seiten, ca. 20,50 Euro.