von Franz Schandl
Ewig hat es sie ja nicht gegeben. Der Geschlechtstrieb ist lediglich ein Instinkt, aber noch keine Lust. Lust entsteht erst historisch mit der Entwicklung der Sexualität, die über den Sex hinausreicht. Lust ist nicht instinktgesteuert. Lust ist also etwas anderes als der direkte Trieb oder die unmittelbare Begierde. Die Sexualität der Menschen ist mehr als die Befriedung der Instinkte, in ihr wird die Befriedigung eines Bedürfnisses zum Akt eines selbstständigen, ja tendenziell selbstbestimmten Genusses. Lust ist ein Artefakt. Natur ist ihr nur Stoff, nicht Inhalt. Mag Sex noch Natur sein, so ist es Sexualität nicht mehr. Kurzum, die Menschen vögeln tatsächlich um des Vögelns willen. Sexualität hat mit der Fortpflanzung nur noch am Rande zu tun, der Instinkt selbst ist bloß noch ein ferne Quelle, die mit der Etablierung der Erotik jeden Vorrang verloren hat. Der Menschen Lust ist originell, aber nicht originär.
In der Lust entfalten sich vielmehr die besten Momente der Humanisierung, von der zartesten Berührung bis zur heftigsten Durchdringung. Ganz allgemein ist die Lust als eine spezifische Kultivierung menschlicher Grundbedürfnisse zu fassen und somit weit über diese hinausweisend. Was auflebt, ist die Fantasie. In der Lust geben sich die Menschen nicht den Trieben hin, sondern in der Lust wird der Trieb transformiert. Kein basic instinct steht an, mag eins sich einbilden, was es will. Lust reflektiert und zelebriert das Begehrte. So sehr, dass ihr eine andere Qualität zugestanden werden muss. Dezidiert pflegt die Lust Prozeduren, die in der Natur nicht vorgesehen sind. Sie ist keine Manifestation der Überwältigung, so sehr eins sich auch „überwältigt“ fühlt. Lust ist nur beiläufig läufig, im Prinzip hat sie sich von der Läufigkeit emanzipiert.
Empfindung samt Findung
Nennen wir sie vorerst das Affizieren und Partizipieren von Annehmlichkeiten. Sie ist etwas, das aus dem Inneren kommt, aber der Äußerung via Betätigung bedarf, um dann wiederum als Innerung auszuklingen. Lust genügt sich nicht im Schwelgen des Gefühls, sie will den Effekt spüren und genießen. Lust verlangt nach Erleben und Befriedigung. Kennzeichnend dafür der Wechsel von Spannung und Entspannung. Sie ist nicht das eine oder das andere, sondern in der Lust wird das eine im anderen aufgehoben. Lust orientiert in ihrem Werden auf das Resultat, sie ist Wollen samt Können. Die Scheidung in eine Lust als Möglichkeit und eine Lust als Wirklichkeit ist nur bedingt zulässig. Sie gehören zusammen. Zwar nicht eins, aber wollen sie es werden.
Die Kurve der Lust ist eine der Intensivierung, sie verläuft von der Regung über die Steigerung zur Beruhigung. Lust will Erlösung. Sollte die Vorfreude die Freude stets übertreffen, dann läuft etwas schief. Vorfreude ist ein schönes Gefühl, aber die Freude kann sie nicht ersetzen. Ziel der Lust ist natürlich ein Glückserlebnis, ein Zustand höchster Lebenserfüllung, „denn das Glück ist frei von Mangel: es genügt sich selbst“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt von Franz Dierlmeier, Stuttgart 1969, S. 286). Glücklich sein heißt, unmittelbar kein Verlangen mehr zu haben. Der Hunger ist dazu da, gestillt, der Durst ist dazu da, gelöscht, und die Lust ist dazu da, befriedigt zu werden.
Wenn ich Lust empfinde, geht mir etwas ab. Wenn ich Lust finde, ist mir etwas abgegangen. Ob wir jetzt in den sexuellen Jargon gestolpert sind? Zweifellos, der trifft mehr, als er erkennt. Dass der Artikel immer wieder in die Erotik rutscht, ist aber kein Zufall, denn dort liegt auch das Zentrum der Lüste. Aufgabe dieses Beitrags ist es nicht, bestimmte Lüste einzuschätzen oder gar zu vergleichen. Hier werden aber grobe Umrisse einer Typologie angeboten, einige notwendige Unterscheidungen getroffen und Abgrenzungen vorgeschlagen.
Lust meint Empfindung samt Findung. Sie „hat die Gewissheit, dass an sich schon dies Andere es selbst ist“ (G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (1806), Werke 3, S. 270). Das An-Sich wird zum Für-Sich, folgen wir dieser Denkfigur. „Die genossene Lust hat wohl die positive Bedeutung, sich selbst als gegenständliches Selbstbewusstsein geworden zu sein, aber eben sosehr die negative, sich selbst aufgehoben zu haben.“ (S. 272) Sie negiert die Spannung, indem sie diese positiv einlöst. Aber die Verwirklichung zeitigt eine Wirkung, die das Verwirken in sich trägt. Lust geht also im Lust-gehabt-Haben, das dem Lust-Haben folgt, unter. Lust ist kein Zustand von Dauer, sondern einer von Momenten. Lust hat demnach eine gewisse Eile, sie lässt sich nicht perpetuieren oder gar konservieren. Sie blüht in den Augenblicken der Diskontinuität, sie ist nicht planbar und auch nur eingeschränkt steuerbar.
In ihren Genüssen ist die Lust schier unendlich. Ein Zuviel kann es kaum geben. Es mag eine Fresssucht, eine Spielsucht, eine Drogensucht ausmachbar sein, eine Lustsucht gibt es mitnichten. So ist die Lust ein Ansinnen, das alles treffen könnte, aber dann doch dieses oder jenes trifft, also sich konkretisieren muss, will sie Wirklichkeit werden, nicht reines Verlangen bleiben. Erfüllte Lust meint Verschmelzung. Immer geht es um eine reelle oder ideelle Einverleibung. Stets regt sich Appetit. Was außen ist, soll zu mir kommen oder auch in mir werden. Das Terrain der Lust ist grenzenlos, kein Gebiet, auf dem sie nicht ihre Mannigfaltigkeit demonstriert.
Unweg
Kann das Realitätsprinzip als Einsicht in die Notwendigkeit charakterisiert werden, so das Lustprinzip als Aufleben der Bedürftigkeit. Das Realitätsprinzip beschreibt Freud als „den Aufschub der Befriedigung, den Verzicht auf mancherlei Möglichkeiten einer solchen und die zeitweilige Duldung der Unlust auf dem langen Umwege zur Lust“ (Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips (1920), Studienausgabe, Band III, Frankfurt am Main 2000, S.220). Der Umweg ist freilich ein Unweg. Eine Straße, die nicht zur Lust leitet, sondern die Lust um- und letztlich ableitet. Lust wird dabei zwar nicht verboten, sondern als ewiges Versprechen installiert. Somit ist sie aber bloß noch leere Projektion, verliert sich in einem Wollen, das zu keinem Vermögen mehr findet.
„Wie das Lust-Ich nichts anderes kann als wünschen, nach Lustgewinn arbeiten und der Unlust ausweichen, so braucht das Real-Ich nichts anderes zu tun, als nach Nutzen zu streben und sich gegen Schaden zu sichern. In Wirklichkeit bedeutete die Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip keine Absetzung des Lustprinzips, sondern nur eine Sicherung desselben. Eine momentane, in ihren Folgen unsichere Lust wird aufgegeben, aber nur darum, um auf dem neuen Wege eine später kommende, gesicherte zu gewinnen.“ (Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens (1911), Studienausgabe, Band III, S. 21f.) Und Freud ergänzt: „Die Lehre von der Belohnung im Jenseits für den – freiwilligen oder aufgezwungenen – Verzicht auf irdische Lüste ist nichts anderes als die mythische Projektion dieser psychischen Umwälzung.“ (S. 22)
Sigmund Freud hält ganz nüchtern fest, dass das Lustprinzip nicht herrschen kann, denn sonst müsste „die übergroße Mehrheit unserer Seelenvorgänge von Lust begleitet sein oder zu Lust führen, während die allgemeine Erfahrung dieser Folgerung energisch widerspricht“ (Jenseits des Lustprinzips, S. 219). Das soll gar nicht abgestritten werden. Indes, warum widerspricht sie ihr? Diese Frage ist unmittelbar anzuschließen, der Befund nicht als eherne Gegebenheit zu lesen, die keiner weiteren Erläuterung bedarf. Denn tatsächlich geht es im einzigen Leben um das gute Leben, d.h. das Dasein den Lüsten anzunähern, die Notwendigkeiten zurückzudrängen und die Annehmlichkeiten zu erweitern. Es geht darum, soviel als möglich gerne zu tun, nicht weil wir es positiv denkend so zu interpretieren haben, sondern weil es einfach Freude macht.
Lust kann somit nicht als ledige Approximation gelten, sondern bedarf auch der Erreichung ihrer Vorhaben. Lustverlangen und der Lustgewinn gehören unvereinbar zusammen. Unvereinbar deswegen, weil das eine zwar nicht das andere ist, aber das eine ohne dem anderen nicht sein kann. Lust kann nicht auf das Prospektive reduziert werden. Lust auf etwas ist nicht von der Lust bei etwas zu trennen. Erst Lusterfüllung komplettiert Lust, das Begehren allein ist zu wenig. Wenn Lust einen Mangel beheben möchte, dann muss sie sich vollziehen, will Lust nicht in Unlust umschlagen.
„Realitätsprinzip“ contra „Lustprinzip“, das klingt überhaupt so wie: „Zuerst kommt die Arbeit, dann das Vergnügen.“ Schon Meister Kant hat dieses affirmative Programm trefflich vorformuliert: „Junger Mensch! (ich wiederhole es) gewinne die Arbeit lieb; versage dir Vergnügen, nicht um ihnen zu entsagen, sondern, so viel wie möglich, immer im Prospekt zu behalten.“ (Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht (1798), Werkausgabe, Band XII, Frankfurt am Main 1991, S. 559)
Und wenn die Arbeit nie aufhört, ja sich ausweitet? Dann muss man auf das Vergnügen entweder verzichten, es ersetzen oder gleich in ein halluziniertes Jenseits verschieben. Diese Umwege wollen kompensieren, sie anerkennen die Realitäten und führen oftmals zum Verlust der Lust. Das Realitätsprinzip rationalisiert die Menschen auf die bürgerliche Normalität. Ihr sollen sie sich ergeben und zu ihr sollen sie halten. Diese Realität fordert sich durchaus aggressiv ein, indem sie stets ihre Reproduktion voraussetzt und Zuwiderhandeln sanktioniert. Dass es eine Wirklichkeit jenseits dieser Realität geben könnte, soll den Drangsalierten gar nicht erst kommen.
Unlust
Wenn wir von Lust reden, dürfen wir die Unlust nicht verschweigen. Die Unlust ist tatsächlich Überträger der Konvention. Lust hat ja immer Veränderung im Visier, Unlust nicht. Sie repräsentiert den Tod im Leben. Unlust hat man nicht auf etwas, sondern von etwas. Wer die Schnauze voll hat, hat keinen Appetit mehr. Auch wenn wohl niemand unlustig sein möchte, wird die Unlust doch durch die Handlungen und noch mehr durch die Unterlassungen kultiviert. Vielfach wollen die Unlustigen, weil sie aus ihrer Unlust nicht herauskönnen, diese dann noch verallgemeinern, also auch jenen aufhalsen, von denen sie meinen, es ginge ihnen besser. Es regiert die Gleichheit des Schlechten: Euch werden wir schon noch Mores lehren! Das Leben ist kein Wunschkonzert! Wenn es mir schlecht geht, soll es dir auch nicht besser gehen! – Wo Freude nicht Ziel ist, wird Schadenfreude zum Lückenbüßer. „Je tiefer das Glück, umso weniger wird in dieser Gegend davon gesprochen, damit man sich nicht drinnen verirrt und die Nachbarn nicht neidisch werden“, schreibt Elfriede Jelinek in ihrem Roman Lust (Reinbek bei Hamburg 1989, S. 100).
Die Unlustigen negieren bereitwillig ihre Bedürfnisse und versäumen so ihre Möglichkeiten. Indifferenz und Lustlosigkeit sind zwangsläufig die Folgen. Der Mangel an Lust rührt direkt aus dem Mangel an Empfinden und Empfindlichkeit, und er führt wiederum direkt zu diesen Ausgangspunkten zurück. Trotz aller Propaganda ist unser Leben auf Lustlosigkeit angelegt. Wir sind abgestumpft, mentale Analphabeten, die Ware vermittelt eine Gleichgültigkeit sondergleichen: alles ist kaufbar, alles ist verwertbar, und wir sind als Hüter der Ware die Verhüter des Lebens. Unsere Stärke geht in der Arbeitskraft verloren, anstatt sich als Lebensenergie zu entfalten. Bei Vermögen denken wir nicht an Kenntnisse und Fähigkeiten oder noch naheliegender daran uns zu mögen, sondern an Geld und Immobilien, Autos und Fernreisen.
Glück und Genuss, Lust und Freude haben mit dem Wert nichts zu schaffen, das hat bereits Kant ganz richtig konzediert: „Das gründlichste und leichteste Besänftigungsmittel aller Schmerzen ist der Gedanke, den man einem vernünftigen Menschen wohl anmuten kann: dass das Leben überhaupt, was den Genuss betrifft, gar keinen eigenen Wert und nur, was den Gebrauch desselben anlangt, zu welchen Zwecken es gerichtet ist, einen Wert habe, den nicht das Glück, sondern allein die Weisheit dem Menschen verschaffen kann; der also in seiner Gewalt ist.“ (Immanuel Kant, Anthropologie, S. 562) Des Lebens Wert liegt in der Verwertung, sagt Kant hier. Verblümt, aber doch. Das ist aufrichtig, aber kann man das wollen?
Lust oder Wert?, das ist wieder einmal eine Entscheidungsfrage. Will Wert sich etablieren, muss er die Lust drangsalieren, will die Lust sich erschaffen, muss sie den Wert abschaffen. Und in Ansätzen geschieht das ja auch. Das Leben ist zwar besetzt, doch die Lust ist eine subversive Kraft, die immer wieder jenseits des Tauschs ihre Kunststücke probiert. Nicht alles verunglückt.
Sirenen der Geilheit
Entspannung kennt neben der Befriedigung noch eine zweite Form: die Zerstreuung. Der Begriff legt es schon nahe: Zerstreuung ist Dekonzentration. In der Leistungsgesellschaft folgt sie einer zwingenden Logik. Da die Energie in diversen Arbeits- und Alltagsprozessen verbrannt wurde, bestimmen reaktives Tun und passives Hinnehmen die sogenannte Freizeit. Man hat das Gefühl, dass für nicht wenige die Lust zu einer Last, ja regelrechten Zumutung geworden ist. Eben weil es zusehends schwieriger wird, sich in ihr einzurichten ohne fundamental zu scheitern, sei es auch bloß, weil man nicht die Zeit dafür hat, die man sich nehmen müsste. Sie ist einem genommen.
Ökonomisch attraktiv ist es, diesen Mangel zu verwalten, zu behandeln und auch zu erzeugen, d.h. Empfindungen anzustacheln und Findungen zu erschweren. Das erhöht die Geilheit und lässt auf diversen Surrogaten Wirtschaftssparten sprießen. Zerstreuung und Ablenkung haben mitgeholfen, die große Unterhaltungs- und Abfütterungsindustrie des Spektakels zu entwickeln. Lustakte werden zu Konsumakten, und zwar auch aufgrund ihrer vermeintlichen Anstrengungslosigkeit. Lust wird begradigt am Highway des Tauschs. Die satten Landschaften des Lebens sind außerhalb der Leitplanken, aber man kommt zügig voran. Man fährt ab, aus Lust wird Unterhaltung, stets geht es darum, die „Kostenlosigkeit der Lust“ (Raoul Vaneigem, Das Buch der Lüste (1979), hier zit. nach http://www.soilant.ch/lueste.html) durch Angebote des Entertainments zu unterlaufen. Aus dem Spiel der Lüste werden Spielräume des Marktes.
Die Befreiung der Lust hin zum Geschäft hat inzwischen ein rasantes Tempo angenommen. Es ist nämlich noch gar nicht so lange her, da wurde Lust (meist flankiert von religiösen Wahnvorstellungen) regelrecht abtrainiert: durch Zucht und Disziplin, durch Drill und Angstmache, Verbot und Strafe. Das gibt es zwar alles noch, aber nicht mehr in seiner offenen und repressiven Form. Nicht die Unterdrückung der Lust ist in den kapitalistischen Metropolen des Westens ein zentrales Problem, sondern deren Zurichtung. Was im Alltag keinen oder immer weniger Platz findet, wird durch die Sexualisierung der Ware im Spektakel substituiert. Warum aktivieren, wenn konsumieren in jeder Hinsicht einfacher erscheint?
Die Sexualisierung der Gesellschaft ist gleichbedeutend mit der Ablenkung der Lüste. Lust zu haben ist keine unanständige Regung mehr, sondern eine ständige Pflicht. Sie wird unablässig dekonstruiert und rekonstruiert, sortiert und filtriert, malträtiert und präpariert, sodass wir oft gar nicht wissen, was da unser ist. Ziel ist es, aus diversen Lüsten Kapital zu schlagen, sie geschäftsfähig zu machen, als sei dies das Selbstverständlichste auf der Welt. Lust wird angeregt, aber auf ganz spezifische Weise. Die Kulturindustrie ist eine große Lustumleitungsmaschine, das Spektakel ein großer Monolog.
Wir sind umstellt. Der erotische Appeal ist die erste Aufgabe der flächendeckenden Werbung. Das Spektakel funktioniert als Appetizer diverser Zerstreuungen. Dauernd prasseln sexuelle Codes auf uns nieder, überfluten unsere Sinne und prägen unsere Sinnlichkeit. Nichts kann dem unbeschadet entgehen. „Psychoanalytiker hätten es nicht schwer nachzuweisen, dass in dem gesamten monopolistisch kontrollierten und standardisierten Sexualbetrieb, mit den Schnittmustern der Filmstars, Vor- und Ersatzlust die Lust überflügelt haben“, schrieb Theodor W. Adorno vor fünfzig Jahren (Sexualtabus und Recht heute (1962); Gesammelte Schriften 10.2, Frankfurt am Main 1997, S. 535). König Sex dominiert, aber nicht, weil Lust und Freude sind, sondern weil sie nicht sind. Mit „oversexed and underfucked“ wird einiges richtig beschrieben. Wir leben in der geilsten, aber wahrscheinlich asexuellsten aller Welten.
Geilheit ist heute ja in aller Munde. Geil zu sein, ist obligat, nicht geil zu sein ein Manko. „Geiz ist geil“, schreit die Reklame. Frisch abgerichtete Youngsters üben fortan die Steigerungsstufen, finden allerlei urgeil, saugeil, megageil. Christl Stürmer war zwischenzeitlich sogar „endgeil“ (Kurier, 25. Februar 2007). Der Aufdringlichkeit des Vokabulars kann niemand entkommen. Zweifellos, es war noch nie so geil wie jetzt. Aber das ist kein gutes Zeichen. So geil muss die Gesellschaft nämlich nur sein, wenn die erotischen Gelüste ihrer Mitglieder so dürftig befriedigt werden wie das gegenwärtig der Fall ist. Begehren und Betätigen sind extrem asynchron.
Wo Geilheit zu nichts führt, wird sie zu einem inflationären Gewese. Sie verwest am lebendigen Leib der Entzündeten. Aber durch die verordnete Geilheit können die Warensubjekte immer im Prospekt gehalten werden. Geilheit mimt das stets verlockende Versprechen. Wir erwarten, dass wir etwas zu erwarten haben, und folgen den Sirenen. Das Wirkliche hat auch hier die Auseinandersetzung mit dem Fiktionalen verloren. Unerlöste Geilheit wird zu einem pathologischen Fall.
Lust und Liebe
Was die Lust von der Liebe unterscheidet, das ist die Bindung. Nicht, dass die Lust nicht zur Bindung fähig wäre, indes sie muss nicht, die Bindung ist ihr kein unhintergehbares Merkmal. Lust hat etwas Vagabundierendes, sie ist zwar nicht ziellos, aber sie ist auch nicht unbedingt zielfixiert. Lust beginnt bei einem selbst und sie gilt einem vorerst auch selbst. Liebe mag ebenfalls bei sich beginnen, aber sie gilt vornehmlich dem anderen, dem Du. Steht bei Lust die eigene Befriedigung im Mittelpunkt, so geht es bei der Liebe ums Herschenken und Hingeben. Liebe ist jenseits des partiellen Bezugs. In ihr will man den anderen ganz. In der Liebe kippt die Zufälligkeit der Begegnung in die Notwendigkeit der Beziehung.
Liebe gibt es bloß zwischen Menschen, Lust hingegen kann sich auch auf Dinge, Zustände und Stimmungen, Landschaften und Musikstücke, Eigenschaften und Merkmale erstrecken, generell ist nicht unbedingt eine zweite Person vonnöten. In der Lust wird eine Potenz abgerufen, in der Liebe eine Potenz potenziert. In der Lust kann man die Lust lieben, aber in der Liebe liebt man nicht die Liebe, sondern die oder den Geliebte(n). Lust ist zuerst ein solistisches Anliegen; Liebe, so sie gelingt, ein Duett. Ohne Lust keine Liebe, aber die Lust muss nicht zur Liebe führen und die Liebe selbst geht in der Lust nicht auf. Es ist also auch viel Lust ohne Liebe in der Welt und die ist in ihren vitalen Formen nicht zu verachten. Wie die Liebe nicht auf die Lust zu reduzieren ist, so ist die Lust nicht nur in der Liebe zu Hause. Lust ist schon ein Verhältnis, aber Liebe ist auch noch eine Beziehung.
Beispiel: „Ich liebe Dich“ und „Ich liebe Schokolade“. Beide machen Lust, aber Liebe machen kann ich nur mit Dir. Eigentlich ist die Aussage „Ich liebe Schokolade“ sowieso fragwürdig. Erstens ist sie eine Überhöhung des Gefühls, zweitens müsste ich sie kaufen oder stehlen, drittens kann sie nicht und niemals Nein! sagen, und viertens hat die Schokolade keine Möglichkeit, zurückzulieben, sie kann nicht einmal Ja! sagen. Sie wird verzehrt, ohne sich zu verzehren. Es ist keine wechselseitige Beziehung, sondern ein absolut einseitiges Verhältnis.
Lust besteht aus Sequenzen, die aufeinander bezogen sein können, es aber nicht müssen. Liebe besteht aus Konsequenzen, die auf ein Du konzentriert sind. Und diesem Du ergeht es ähnlich. Das hat nicht nur Vorteile. Was in den Anfängen sich spielerisch gestaltet und ergibt, wird mit der Zeit zu einer großen Herausforderung aufgrund der in jeder Liebe angelegten Trennung. Der Alltag ist nicht nur ein großer Feind der Lust, sondern insbesondere auch der Liebe, sie ist nicht aus ihm geboren, aber sie wird in ihn gestoßen. So verliert jede Liebe das Originäre, das nicht einfach durch Pflege, Sorge, Achtsamkeit wettgemacht werden kann.
Gerade weil die Begegnung zum Zusammensein führt, verfällt jene in diesem. Es wird immer schwieriger sich zu treffen, wenn man beisammen ist. Will einem die Liebe nicht vergehen, bedarf es stets neuer Anläufe. Anläufe, die sich zusehends komplizierter gestalten. Die weitergeführte Liebe ist also mehr als die Fortsetzung eines Beginns. Das Verlieben verbrennt mit der Zeit, so sehr es einst auch zündend gewesen ist. Keine Flamme ist von Dauer. So ist das Verlieben nicht die Bedingung der Liebe, sondern bloß eine Voraussetzung, deren Kräfte bald erlahmen. Keine Liebe kann sich vom Impetus ihrer Konstitution erhalten – so sehr frisch Verliebte sich das auch einbilden. Kein Anfang, der Kontinuität garantiert. Lieben ist anstrengender als Verlieben.
Ganz zentral ist der Liebe das Verzehren, das mehr ist als ein Gelüsten, auf jeden Fall aber viel umfassender emotionalisiert als die Geilheit. Das Verzehren ist ein seliger Ausnahmezustand, wo der oder die andere das seligmachende Element der eigenen Stimmigkeit ist. Man mag es Harmonie nennen. Liebe ist der intensivste Ausdruck, ohne den anderen nicht sein zu wollen, ja zu können. Deswegen schafft diese Leidenschaft nicht nur immense Freuden, sondern auch unendliche Leiden. Die Liebe selbst ist das entschiedenste Konzentrat unserer Seinsbestimmung. Für nichts lebt man so wie dafür. Lediglich in der Liebe sind die Individuen bereit, ihre Wände abzureißen und sich wirklich zu öffnen, nicht nur Offenheit zu demonstrieren. Die Liebe ist das Erlebnis schlechthin. Nichts vermag das Leben so auszudrücken wie die Liebe.
Denken als Leidenschaft
Bereits Kant feixte: „Man muss sich wundern, wie sonst scharfsinnige Männer einen Unterschied zwischen dem unteren und oberen Begehrungsvermögen darin zu finden glauben können, ob die Vorstellungen, die mit dem Gefühl der Lust verbunden sind, in den Sinnen oder dem Verstande ihren Ursprung haben. Denn es kommt, wenn man nach den Bestimmungsgründen des Begehrens frägt und sie in einer von irgendetwas erwarteten Annehmlichkeit setzt, gar nicht darauf an, wo die Vorstellung dieses vergnügenden Gegenstandes herkomme, sondern nur, wie sehr sie vergnügt.“ (Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), Werkausgabe, Band VII, Frankfurt am Main 1991, S. 129)
Das Denken ist eine große Leidenschaft, die ohne Lust gar nicht in die Welt treten könnte. Denken steht also nicht gegen die Lust (wie es die Konstrukteure des Gegensatzes von Bauch und Kopf gemeinhin behaupten), sondern erfüllt deren Kriterien auf seine Weise. Es ist nicht so, dass es da die Lust gäbe und dort das Denken. Diese Trennung ist fatal. Denken, das über Registrieren hinausgeht, ist eine der größten Empfindungen, die nur irgendwie möglich sind. „Nichts alberner als zu glauben, dass, wer genau denken könne, nicht fühlen könne, und dass Denken nicht leidenschaftlich sei. Das glauben allein Sentimentale. Umgekehrt muss unser Fühlen genau so genau sein wie unser Denken. Und unser Denken genau so passioniert wie unser Fühlen. (…) Nicht nur gilt, dass, wer nicht genau denken kann, auch nicht genau fühlen könne, sondern auch umgekehrt, dass, wer nicht genau fühlen kann, auch nicht genau denken könne. Wer die zwei als antipodische Tätigkeiten oder Zustände hinstellt oder, sich auf sein Fühlen berufend, das Denken verächtlich macht, der weiß ebensowenig, was Fühlen ist, wie was Denken ist, der kann weder das eine noch das andere.“ (Günther Anders, Ketzereien, München 1991, S. 246)
Diese Zeitschrift etwa möchte nicht bloß Erkenntnisse verschenken, sie möchte auch – wie der Untertitel verrät – Transformationslust magazinieren. Lust darf aus dem Denken nicht ausgeschieden werden. Wenn die Lust am Denken in ihrer Situation andere Lüste ausschließt, dann ist das oft keine Frage des Prinzips, sondern eine der aktuellen Kapazitäten. Es geht nicht alles, schon gar nicht auf einmal. Die Lustpotenziale sind nicht unendlich und so hat diese Verdrängung, sofern sie nicht chronisch wird, nichts mit Lustfeindschaft zu tun. Beim Denken ist das Vögeln out und beim Vögeln ist das Denken auch nicht in. Eine Lust sind sie aber beide. Wenn ich esse, kann ich nicht zeitgleich streicheln; wenn ich lese, kann ich nicht im selben Moment gärtnern. Deswegen ist das Lesen aber ebenso wenig gartenfeindlich wie das Essen streichelfeindlich. Der Vorwurf, dass jemand oder etwas verkopft ist, ist also zu präzisieren, ansonsten gehört er ins Reich der Gerüchte bzw. stellt er eine blanke Denunziation dar.
Aber selbstverständlich ist das Denken das künstlichste aller Gelüste, naturfern, ja unnatürlich, wenn auch im Körper sitzend. Nur das Denken kann sich bewusst von der Unmittelbarkeit der Beeindruckung lösen, Kontexte herstellen und Reflexionen pflegen. Und dieses Denken hat auch die anderen Sinne angesteckt. Unser Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten ist ohne die Besonderheit des Denkens nicht zu denken. Wenn eine Kuh und ich Schönbergs Kammersymphonie hören, dann hören wir zwar die gleiche Musik, aber keineswegs das Selbe. Des Menschen Sinne sind nicht einfach da, sie sind rauschfähig und variantenreich, gedopt wie getoppt.
Bezauberung ist ein menschliches Sondervermögen, eben weil die Leute denken können. Das Sich-in-was-Versetzen, das Projizieren und Spekulieren sind ja hervorragende Eigenschaften, ja Kennzeichen. Kein Denken und Fühlen ohne das. Allerdings stellt sich die Frage, ob und inwiefern man sich dieser Merkmale souverän bedienen kann, ohne ihnen hilflos ausgeliefert zu sein. Gerade im Fetischismus kippt die menschliche Bezauberung in eine herrschaftliche Verzauberung. Glauben ersetzt Denken. Indes, nur durch das Denken ist es überhaupt möglich, sich jenseits der Befangenheiten zu positionieren. Lediglich Denken erlaubt etwas wie Souveränität und Willen. Das alles gibt es freilich nur in Ansätzen, aber ohne das Denken wäre es gar nicht möglich.
„Die sinnliche Intelligenz wird die klassenlose Gesellschaft schaffen.“ (Vaneigem) – So ungefähr. Worüber man sich heute lustig macht, dass eben niemand von Lust und Liebe leben kann, gerade das gilt es zu verwirklichen. Justament! Nun, es wird nicht alles Lust und Liebe sein, aber leben davon und damit, das hat schon was. Nichts erscheint reizender.