Die Casting-Show als Krisen-Phänomen? Ernst Blochs Schrift »Erbschaft dieser Zeit« lässt darauf schließen
von Tomasz Konicz
Der Faschismus kam nicht aus heiterem Himmel über Deutschland. Angefacht von der Weltwirtschaftskrise der frühen 30er Jahre, machten sich in der Weimarer Zeit lange vor der Machtergreifung der Nazis autoritäre und reaktionäre Anschauungen breit, die oftmals gänzlich »unpolitisch« wirkten, aber beim genaueren Hinsehen einen Ausblick in den Abgrund erlaubten, auf den das Land zusteuerte. Eine scharfsinnige und immer noch beeindruckende Auseinandersetzung mit dem deutschen Präfaschismus, der genau dieses Kunststück gelang, ist die 1932 von Ernst Bloch verfasste, 1935 in Zürich publizierte Schrift »Erbschaft dieser Zeit«, in der an ein Tabu der damaligen linken Faschismusdebatte gerührt wurde: Der Verfasser benennt nicht nur die Finanziers und Unterstützer der NSDAP in Kapitalkreisen, Militär und Staatsapparat, er legt auch die autoritären Dispositionen bei großen Teilen der Bevölkerung offen, die in der Linken immer noch allzu oft als einfaches »Volk« idealisiert wird.
Bloch identifizierte – hierbei Siegfried Kracauer folgend – als einer der ersten Beobachter eine damals »neue Art Mitte«, die in der Krise um sich zu schlagen beginne, »besonders nach unten, wohin sie zu sinken« drohe. Neben dem klassischen Kleinbürgertum, den in den Krisenwirren irrlichternden Krämerseelen und der niederen Beamtenschaft, zählte er zu dieser »Mitte« vor allem das rasch anwachsende Heer der Angestellten, das sich in der gleichen Zeit verfünffacht habe, »in der sich die Arbeiter nur verdoppelt haben«. Trotz krisenbedingter faktischer Proletarisierung fühlten sich diese Angestellten »noch als bürgerliche Mitte«. Auf diese sich damals in der Weltwirtschaftskrise konstituierende, hasstriefende und angstschwitzende »Mitte« war Blochs Allegorie von den Kälbern gemünzt, »die ihren eigenen Metzger wählen, wäre der Geruch vieler dieser Kälber nicht gerade der von Metzgern«.
Der Metzgergeruch der »Kälber« stieg besonders intensiv überall dort auf, wo die gerade im Entstehen begriffene Kulturindustrie in ersten zaghaften Schritten die aufgestaute Wut der desperaten Massen zu ihrer Geschäftsgrundlage machte. In dem Abschnitt »Wut und Lachlust« beschreibt Bloch einen 1929 abgehaltenen Marathon-Tanzwettbewerb, bei dem die teilnehmenden Paare über Wochen nach dem KO-Prinzip buchstäblich gegeneinander antanzten. Dem Siegerpaar, das die wochenlange Tortur überstand, winkte ein Preisgeld von 6000 Reichsmark. Dabei waren die Regeln dieses Tanzmarathons auf langsamen, qualvollen Verschleiß der Teilnehmer ausgelegt. Diese Veranstaltung hätte »kein anderes Ziel als den am längsten hinausgeschobenen Zusammenbruch«, so Bloch. Jede Stunde erhielten die Tanzpaare eine absichtlich viel zu kurz bemessene Ruhepause von 15 Minuten, die es ihnen erlaubte, auch nach 300 Stunden »mit blutigen Füßen, Folteraugen und einem Leib aus Blei« zurück auf die Tanzfläche zu taumeln, »die Hand des einen Partners auf dem blutigen Fleisch des anderen«.
Bloch beobachtete aber auch das dort versammelte Publikum, das mit Pfiffen und Gejohle die geschundenen Marathonteilnehmer in den Kollaps trieb. Versammelt seien dort zu Tausenden nicht nur Kleinbürger, sondern auch »Proleten« und Arbeitslose, die schon damals ermuntert wurden, ihre »Favoriten« zu unterstützen und sich an dem sadistischen Spektakel zu beteiligen – 1000 Reichsmark erhielt jeder, der nachweisen konnte, dass die Tanzpaare ihre vorgeschriebene Ruhezeit von 15 Minuten überschritten haben. Damals habe bereits ein Drittel der Wähler den Nazis die Stimme gegeben, so Bloch, »hier im Saal dürfte ihrer mehr als die Hälfte tonangebend sein«. All das, was die »Volksseele« bei diesem Spektakel auskoche, »wird man in Kürze nicht schlecht anrichten«.
Es ist nicht schwer, in diesem barbarischen Spektakel die primitive Vorform der Casting- und Demütigungs-Shows zu erkennen, die heutzutage ein Millionenpublikum vor den Fernsehern fesseln. Das Grundprinzip dieses kulturindustriellen Spektakels – das nach dekadenlanger Vergessenheit in den letzten Jahren ein Revival erlebt – besteht sei den 1930er Jahren in der Veranstaltung eines brutalen Rattenrennens, das von beständig angefachter Konkurrenz, gnadenloser Selektion und dem Kollaps der unterlegenen Kandidaten lebt. Hierin unterscheiden sich die Marathontänze des frühen 20. Jahrhunderts nicht grundlegend von den Demütigungsakten und der Erschöpfungsfolter im »Dschungelcamp« oder den Ausscheidungskämpfen bei »Germany’s Next Topmodel«, der Prügelshow »The Ultimate Fighter« und »Big Brother«.
Die heutigen Nachfolger der brutalen Tanzwettbewerbe scheinen zumindest die körperliche Unversehrtheit ihrer Teilnehmer zu garantieren, sodass hier auf den ersten Blick ein gewisser Zivilisierungsprozess konstatiert werden könnte. Selbst im »Dschungelcamp« ist bislang niemand tot zusammengebrochen, was bei den Tanzwettbewerben während der Weltwirtschaftskrise durchaus vorkam. Doch gehen diese Mindeststandards mit einer womöglich noch größeren psychischen Belastung der Teilnehmer einher, die mit ausgefeilter Perfidie dazu animiert werden, vor dem Millionenpublikum ihr Innerstes zu exponieren. Und wehe, wenn die teilnehmenden Desperados sich dem erbärmlichen Seelenstriptease verweigern – dann werden sie schnell rausgewählt, denn die pseudodemokratische Massenabstimmung über das Schicksal der Teilnehmer ist fester Bestandteil nahezu jedes dieser Spektakel. An den Demütigungs-Shows sollen sich alle Zuschauer beteiligen. Jeder wird so in die Lage versetzt, auch mal den Knopf drücken zu dürfen, der über das Schicksal anderer entscheidet. Letztendlich können die heutigen Reality-Shows auf einem reichhaltigen kulturindustriellen Erfahrungsfundus in Manipulation und Verblödung aufbauen. Das hat zu einer stärkeren Ausdifferenzierung dieser Spektakel geführt, die schon aufgrund der immer schnelleren Abstumpfungs- und Abnutzungseffekte beim sedierten Massenpublikum notwendig ist.
Was aber kochte die »Volksseele« bei den Tanzwettbewerben aus? Und ist das, was da gärte, vergleichbar mit den Gefühlen der heutigen »Mitte«? Es sei eine »rohe, auch lachlustige Wut«, die sich bei den Tanzwettbewerben des Publikums bemächtige, schrieb Bloch. Sie gebe »die Tritte von oben nach unten« weiter.
Dem autoritären Charakter ist eine Untertanenmentalität eigen, die in Krisenzeiten ihre Servilität gegenüber dem herrschenden System psychisch nur aufrechterhalten kann, wenn sie sich Möglichkeiten der Triebabfuhr verschafft. Die Unterordnung unter die Systemimperative geht während der Krise mit immer größerem Triebverzicht einher, während die Gratifikationen wegfallen. Da dem autoritären Charakter ein Aufbegehren gegen die Verhältnisse, die ihn in den Irrsinn treiben, unmöglich scheint, bricht sich die so angestaute Wut gegen Schwächere Bahn. Menschen, die von der kriselnden Kapitalverwertung zu Objekten gemacht und ausgepresst werden, ergötzten sich daran, andere zu Objekten degradiert zu sehen. Der angestaute Druck muss weitergeleitet werden, weswegen das Publikum es liebte, »arme Hunde so zu hetzen, wie es die Reichen mit einem selber tun« (Bloch).
Es ist gerade diese scheinbare Umkehrung des ohnmächtigen Objektstatus der Lohnabhängigen im heteronomen Prozess der Kapitalverwertung, die zur Einführung der besagten pseudodemokratischen Elemente in den neuen Reality-Shows führte. Wenn die ganze Fernsehnation scheindemokratisch über den Rausschmiss eines Kandidaten abstimmt, dann darf sich jeder mal kurz als ein allmächtiges Subjekt fühlen, ein bisschen Chef oder gar Schicksal spielen – darin erschöpft sich diese Fernsehdemokratie. Vor einem Millionenpublikum wird in der Reality-Show ein ins Extrem getriebenes Untertanentum durchexerziert, das absurdesten Regeln folgt, die dem alltäglichen Irrsinn der kapitalistischen Dauerkrise in nichts nachstehen – und an dem die Zuschauer nach Möglichkeit beteiligt werden sollen.
Je stärker die Krise wütet, desto krasser und brutaler fällt dieses Spektakel aus. So kommt gerade bei der heutigen Reality-Show eine zentrale Diagnose der Kritischen Theorie zur vollen Entfaltung: »Amüsement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus. Es wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozess ausweichen will, um ihm von neuem gewachsen zu sein.« Fun wird in der Krise vollends zu einem »Stahlbad« (Adorno), weil auch das Mobbing, der Druck und die Hetze in der Arbeitswelt zunehmen. Nach der Triebabfuhr an den zu Objekten degradierten Spektakelteilnehmern am Wochenende lassen sich die beständig zunehmenden Nackenschläge in der Arbeitswoche etwas leichter ertragen. Die grundlegende Konfiguration der Reality-Show spiegelt den Zuschauern ihren Arbeitsalltag wider: Der Angestellte, der sich etwa »Germany’s Next Topmodel« anschaut, sieht freiwillig de facto das gleiche brutale Rattenrennen, dem er in der Arbeitswoche ausgesetzt ist.
Inzwischen greift das Prinzip der Casting-Shows übrigens auch auf die Arbeitswelt über: Immer mehr Unternehmen lassen ihre Arbeitsplatzbewerber in mehreren Runden nach dem KO-Prinzip vorsprechen, wobei der Umfang der Prüfungen von Runde zu Runde zunimmt, und die Bewerber immer intimere Fragen über sich ergehen lassen müssen. Längst ist es üblich, in die Arbeitsplatzbewerbung möglichst viel von einer in »Selbstoptimierung« kreierten Persönlichkeit einfließen zu lassen. Die Arbeit wird zur Verlängerung des Amüsements unterm Spätkapitalismus.
Der größte Unterschied zwischen dem autoritären Potenzial, das in den Tanzveranstaltungen der 30er Jahre zum Ausdruck kam, und der blinden Wut, die die heutigen Spektakel so erfolgreich macht, wurde von Bloch mit dem Begriff der »Ungleichzeitigkeit« erfasst. Hierunter verstand er die Existenz – trotz moderner Technik, Industrie und Rationalität – nicht überwundener »Reste älteren ökonomischen Seins und Bewusstseins«, die in Deutschland aufgrund der ausgebliebenen Revolution stärker nachwirkten. Im Zusammenspiel habe diese »Ungleichzeitigkeit« den Faschismus gefördert. Heute kann davon angesichts der jahrzehntelangen Prozesse der Globalisierung auch in Deutschland kaum noch die Rede sein. Deswegen bringt die neue deutsche Wut keine explizit faschistische Ästhetisierung mit sich, die inzwischen nur noch absurd wirkt und die auf die damalige »Ungleichzeitigkeit« – die nicht nur in Deutschland wirkte – zurückzuführen war.
Der heutige Faschist bezeichnet sich nicht selten als Demokrat, der unbequeme Wahrheiten mutig ausspreche. Aus reinen Kostenerwägungen heraus wolle er gegen »Kostenfaktoren« der deutschen Leistungsgemeinschaft vorgehen, die erst wieder am Stammtisch als »Schmarotzer« und »Parasiten« bezeichnet werden.
aus: Neues Deutschland, 5. Mai 2012