Wie Griechenland von der Regierung Merkel in den Kollaps getrieben wurde – und wieso sich die Hölle von Hellas bald überall auftun könnte.
von Tomasz Konicz
Wir erleben mitten in Europa gerade richtig großes Krisenkino. Der Film, der sich in ewiger Wiederholung vor unser aller Augen entfaltet, gleicht einer perversen Interpretation des Klassikers „Und täglich grüßt das Murmeltier“: Griechenland scheint in einer desaströsen Zeitschleife gefangen, in der immer wieder dieselbe Krisenspirale abgespult wird. Immer wieder nötigen Berlin und Brüssel die griechische Regierung zu drastischen „Sparpaketen“, um die ausartende Verschuldung des Landes abzubauen. Im Gefolge dieser verheerenden Kahlschlagswellen bricht die private und staatliche Nachfrage ein, wodurch die seit Jahren andauernde Rezession verstärkt, und das Heer der griechischen Arbeitslosen vergrößert wird. Dadurch sinken die Steuereinnahmen des griechischen Staates, während seine Ausgaben aufgrund der anschwellenden Arbeitslosigkeit steigen. Das Ergebnis: trotz „Sparprogrammen“ steigt das Haushaltsdefizit Athens weiter an, abermals müssen auf Druck der deutschen Regierung harte Steuererhöhungen, Lohnsenkungen und Massenentlassungen in Griechenland gegen den verzweifelten Widerstand der Bevölkerung durchgesetzt werden – und das sadistische Spielchen fängt von vorne an.
Griechenland wird derzeit auf Betreiben Berlins buchstäblich in den gesellschaftlichen Kollaps „gespart“, während in der deutschen Öffentlichkeit das evidente Scheitern dieser von der Regierung Merkel durchgesetzten Austeritätsstrategie mit Verbissenheit ignoriert wird. Das öffentliche historische Gedächtnis schein inzwischen auf einen Zeitraum von wenigen Wochen geschrumpft, und kaum jemand nimmt noch die Zeitschleife wahr, in der sich die europäische Krisenpolitik dreht. Stattdessen wird an deutschen Stammtischen und in Boulevardzeitungen auf die Vetternwirtschaft und Steuerflucht in Hellas verweisen, was doch angesichts der deutschen Realitäten, die von jährlichen Steuerhinterziehungen von rund 30 Milliarden Euro und einem gerade wegen Vetternwirtschaft zurückgetretenen Präsidenten geprägt sind, doch recht skurril anmutet.Zuletzt setzte eine weitere Abfolge dieser sozioökonomischen Todesspirale nur einen Tag nach der Einigung über ein weiteres „Hilfspaket“ für Griechenland ein. In der vergangenen Woche gab die Regierung in Athen bekannt, dass das griechische Haushaltsdefizit in diesem Jahr mit 6,7 Prozent mal wieder höher ausfallen werde als prognostiziert (5,4 Prozent), da die Rezession immer mehr an Schärfe gewinne.
Damit verliert das gesamte Maßnahmenpaket der EU zur Stabilisierung Griechenlands, dass nach langen und aufreibenden Verhandlungen am 21. Februar beschlossen und kürzlich vom Bundestag abgesegnet wurde, seine haushaltspolitische Grundlage. Laut der in Brüssel nach monatelangen Verhandlungen erzielten Vereinbarung sollten Griechenland in den kommenden Jahren 130 Milliarden Euro an weiteren Krisenkrediten zur Verfügung gestellt werden, um den abermaligen Staatsbankrott zu verhindern. Die Gläubiger sollen formell auf 53,5 Prozent ihrer Forderungen gegenüber Athen verzichten, wodurch die Staatsverschuldung Griechenlands trotz der andauernden Rezession von 160 Prozent des BIP auf 120 Prozent im Jahr 2020 gesenkt werden sollte. Damit würde somit der Schuldenberg in Griechenland auf ein Niveau absinken, das Athen vor Beginn der “Sparmaßnahmen” in 2008 aufwies.
Der in bundesdeutschen Medien irrwitzigerweise als „zweites Rettungspaket“ bezeichneter Maßnahmenkatalog treibt den offensichtlich gescheiterten sadistischen Sparterror gegen Athen ins extrem, indem zusätzliche Auflagen die haushaltspolitische Souveränität der griechischen Regierung beschränken. Athen wird künftig permanent von einer „Expertengruppe“ der EU-Kommission und des IWF überwacht werden. Zudem muss Griechenland künftig auf deutschen Druck Gelder auf ein Sperrkonto überweisen, auf das die Regierung in Athen keinen Zugang haben wird. Auf diesem Konto müssen ausreichende Finanzmittel für die Tilgung der griechischen Verbindlichkeiten eingezahlt werden, die innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten fällig werden. Somit hat sich die deutsche Regierung mit ihrer Forderung weitgehend durchgesetzt, künftig dem Schuldendienst in Griechenland die oberste Priorität einzuräumen.
Auch dieses Maßnahmenpaket geht mit einer Reihe brutaler, sadistischer Sparmaßnahmen einher, deren Durchsetzung ja insbesondere der deutschen Politikkaste ein Herzensanliegen ist: Rund 1,1 Milliarden soll Griechenland – wo inzwischen Diabetiker Probleme haben, an Insulin zu kommen – bei den Arzneimittelkosten einsparen. Die Renten werden um 15 Prozent gekürzt, während der Mindestlohn von 751 Euro um 22 Prozent gesenkt wird – bei Jugendlichen und jungen Erwachenden bis 25 Jahre sind es sogar 32 Prozent. Im öffentlichen Dienst Griechenlands werden weitere 150 000 Menschen ihre Anstellung verlieren.
Hierbei handelt es sich inzwischen um die fünfte große Kahlschlagsrunde, die auf deutschen Druck in Athen exekutiert wird. Milliardenschwere Austeritätsmaßnahmen (inklusive Lohn-, Renten-, und Sozialkürzungen, sowie Steuererhöhungen) wurden bereits im März 2010, Mai 2010, Juni 2011 und September 2011 durchgesetzt. Jedes Mal wurden die intendierten Spareffekte und Mehreinnahmen durch den sich beschleunigenden Wirtschaftsverfall vereitelt, der zu einem Einbruch der Staatseinnahmen führte. Jedes Mal insistierte Berlin auf weitere, noch härtere Sparpakete. Inzwischen befindet sich Griechenland seit 2009 permanent in einer Rezession, wobei die letzten „Sparpakete“ den Abschwung in 2011 noch auf den Rekordwert von 6,8 Prozent beschleunigten. Infolge dieser Dauerrezession stieg die Erwerbslosigkeit in Griechenland von rund sieben Prozent in 2008 auf inzwischen 20,9 Prozent. Die von Kleinbetrieben geprägte und auf den Binnenmarkt ausgerichtete griechische Industrieproduktion kollabierte um rund ein Drittel aufgrund der im Krisenverlauf um rund die Hälfte einbrechenden Inlandsnachfrage. Der deutsche Sparterror und die rasch anschwellende Massenarbeitslosigkeit ließen die Arbeitnehmerentgelte um 22 Prozent einbrechen, was zum fortschreitenden Kollaps der Nachfrage und beitrug: Die Einzelhandelsumsätze sanken in Hellas seit Krisenausbruch in 2008 um rund die Hälfte, selbst der Umsatz mit Lebensmittels ging um 35 Prozent zurück!
Dabei waren die Sparmaßnahmen in Griechenland trotz gegenteiliger Behauptungen in den deutschen Medien durchaus „erfolgreich“, wie es an der Entwicklung des sogenannten Strukturellen Staatsdefizits in Griechenland ersichtlich wird. Beim strukturellen Defizit werden die konjunkturellen Einflüsse auf den Haushalt herausgerechnet: Zwischen 2009 und 2011 wurde dieses strukturelle Staatsdefizit in Athen um gewaltige 11,4 Prozent des BIP abgesenkt, während es in Spanien rund 6,2 Prozent und in Irland nur vier Prozent waren. Zum Vergleich: in den vier Jahren nach Implementierung der „Agenda 2010“ sank das strukturelle Haushaltsdefizit in Deutschland um gerade mal 2,6 Prozent. Griechenland hat sein strukturelles Staatsdefizit somit in drei Jahren mehr als vier Mal so stark verringert als Deutschland in vier Jahren während der hierzulande durchgeführten Sozialdemontage und Prekarisierung des Arbeitslebens. Dieser Effekt ist nur deswegen beim griechischen Haushalt nicht wahrnehmbar, weil die Dauerrezession die Steuereinnahmen Athens kollabieren lässt.
Die Durchsetzung des abermaligen Sparpakets in Hellas ging mit einer Eskalation der Spannungen zwischen Berlin und Athen einher. Für Wut und Empörung sorgen die Forderungen deutscher Politiker nach Aushöhlung der staatlichen Souveränität Griechenlands. Neben der Forderung nach der haushaltspolitischen Entmachtung Athens – die mit der Einführung des besagten Sperrkontos größtenteils realisiert wurde -, brachten Forderungen des Deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble nach einer Verschiebung der für April eingesetzten Parlamentswahlen die griechische Öffentlichkeit in Rage. Der greise griechische Präsident Karolos Papoulias, der sich während des Zweiten Weltkriegs als 14-jähriger dem Widerstand gegen die deutschen Besatzer anschloss, kritisierte hiernach öffentlich Schäuble: „Ich lasse nicht zu, dass Herr Schäuble meine Heimat beleidigt.“ Die Schuldenkrise treibe „einen immer tieferen Keil zwischen Athen und Berlin“, bemerkte jüngst selbst das Handelsblatt, da viele Griechen der Ansicht seinen, dass der „der deutsche Sparkurs“ sie in die Armut treibe.
In Deutschland wiederum gewinnt inzwischen das Bemühen Oberhand, Griechenland möglichst günstig zu entsorgen, nachdem das Land aufgrund der kollabierenden Wirtschaft nicht mehr als Absatzmarkt deutscher Exporte fungieren kann. Inzwischen sprechen sich auch Spitzenvertreter der deutschen Kapitalverbände dafür aus, Hellas aus der Eurozone auszuschließen: Griechenland sei „marode und in einer Solidargemeinschaft eine untragbare Belastung”, polterte etwa der Bosch-Chef Franz Fehrenbach gegenüber dem „Manager Magazin”. Einer Umfrage des Wirtschaftsmagazins zufolge wünschen sich inzwischen 57 Prozent von 300 befragten Funktionsträgern aus dem deutschen Spitzenmanagement, dass Griechenland wieder „die Drachme einführt.“ Der Präsident des deutschen Unternehmerverbandes BDI, Hans-Peter Keitel, bezeichnete die neuen Austeritätsmaßnahmen als eine „letzte Chance“ für Griechenland.
Dabei bildet Griechenland nur den bisherigen Extremfall einer von Berlin der gesamten Eurozone oktroyieren Austeritätspolitik, die mit dem von Kanzlerin Merkel durchgesetzten „Fiskalpakt“ – der die europaweite Einführung von deutschen Schuldenbremsen vorsieht – die knallharte Sparpolitik im gesamten Währungsraum institutionalisiert. Inzwischen sind nahezu alle Länder Europas auf einen strikten Sparkurs umgeschwenkt, was sich in der aufziehenden Rezession in der Eurozone bemerkbar macht. In den Letzten drei Quartalen von 2011 sank das BIP im Euroraum um 0,3 Prozent, während die Industrieproduktion sogar um 1,1 Prozent nachgab (jeweils gegenüber dem Vorjahreszeitraum). Die Arbeitslosigkeit verharrt in der Eurozone auf dem historischen Spitznwert von 10,4 Prozent. Von diesem Abschwung sind insbesondere die südeuropäischen Länder betroffen, die auf deutschen Druck bereits umfassende Austeritätsmaßnahmen eingeleitet haben.
Der Abwärtssog hat sich insbesondere in Italien – der drittgrößten Volkswirtschaft der Eurozone – verstärkt, das einen Wirtschaftseinbruch von 0,7 Prozent im letzten Quartal 2011 erlitt, nach einem Rückgang von 0,2 Prozent im zweiten Trimester. Der auf Druck Berlins und Paris in Rom eingesetzte Regierungschef Mario Monti hat einen harten Sparkurs eingeschlagen, der zu der beschleunigten Kontraktion südlich der Alpen entscheidend beiträgt – und die Arbeitslosigkeit binnen eines Jahres um einen knappen Prozentpunkt auf 8,9 Prozent anschwellen ließ.
Ungleich dramatischer gestaltet sich die Lage bereits in Portugal, wo der maßgeblich von der Regierung Merkel durchgesetzte Sparterror – der im Gegenzug für die Krisenkredite der EU und des IWF vom vergangenen Mai exekutiert wurde – weitaus länger seine verheerende Wirkung entfalten konnte. Die Wirtschaftsleistung Portugals sank im vierten Quartal um 1,5 Prozent gegenüber dem Vorquartal, und um 2,7 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Der harte Sparkurs in Lissabon ließ aufgrund wegbrechender Massennachfrage auch die Arbeitslosigkeit binnen eines Jahres um 1,2 Prozent auf 13,6 Zähler ansteigen, während er zugleich aufgrund wegbrechender Steuereinnahmen die Schulden Portugals anschwellen ließ: Bei erhalt des „Hilfspaketes“ der EU und des IWF betrug der Staatsschuldenstand Portugals 107 Prozent des BIP, derzeit sind es 118 Prozent. Dem Land droht somit eine ähnliche wirtschaftliche Todesspirale aus Rezession, fallenden Steuereinnahmen und ausartender Verschuldung, in die auch Griechenland von der deutschen Regierung getrieben wurde.
In Spanien, der viertgrößten Wirtschaft der Eurozone, gingen am vergangenen Sonntag Hunderttausende auf die Straßen, um gegen neue Arbeitsmarktreformen zu protestieren, die eine weitgehende Entrechtung der Lohnabhängigen und eine umfassende Prekarisierung des Arbeitslebens durchsetzen sollen. Die Arbeitslosigkeit in Spanien stieg aufgrund der diversen Sparmaßnahmen binnen eines Jahres von 20,4 im Dezember 2010 auf den mit 22,9 Prozent europaweit höchsten Wert. Die Wirtschaft auf der Iberischen Halbinsel ging nach einer Phase der Stagnation ebenfalls gegen Jahresende in den Abschwung über, der 0,3 Prozent erreichte. Auch Irland, von vielen neoliberalen Apologeten als Musterbeispiel gelungener Austeritätspolitik gehandelt, verzeichnete laut Eurostat einen kräftigen Wirtschaftseinbruch von 1,9 Prozent im zweiten Quartal 2011 – bei einer Arbeitslosigkeit von 14,5 Prozent.
Die Krise strahlt aber inzwischen auch auf das Zentrum Europas aus: Die europäische Hegemonialmacht Deutschland musste einen Rückgang des BIP um 0,2 Prozent hinnehmen. In Österreich setzte eine Kontraktion von 0,1 Prozent ein. Die Niederlande befinden sich bereit in Rezession, nachdem die dortige Wirtschaft im zweiten Quartal infolge um 0,7 Prozent schrumpfte. Einzig das im Wahlkampf befindliche Frankreich konnte einen leichten Aufschwung von 0,2 Prozent verzeichnen. Wird der eiserne deutsche Sparkurs europaweit weiterhin – trotz wachsenden Widerstand von südlichen Euroländern wie Spanien – durchgepeitscht, droht die destruktive Zeitschleife, in der Griechenland zermalmt wird, auf ganz Europa auszugreifen. Der gesamte Kontinent wird dann in griechische Verhältnisse abzurutschen. Griechenland wird dann überall sein – und diesem Krisensog wird sich auch Deutschland nicht entziehen können.
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