Thesen zur Entmythologisierung von Klasse und Klassenkampf
Streifzüge 4/1997
von Franz Schandl
0.
Gemeinhin war man in der Linken davon ausgegangen, daß die Begrifflichkeit, die sich positiv auf den Klassenkampf und seine Kategorien bezieht, zum essentiellen Bestandteil sozialistischer Theorie und Praxis gehört. Der Konsens reichte hier von den Sozialdemokraten bis zu den Kommunisten, von Gewerkschaftern bis hin zu Anarchisten und Linksradikalen. Differenzen gab es anderswo.
1.
In den Marxschen Hauptwerken zur Kritik der politischen Ökonomie treten – anders als in den politischen Schriften der Periode um 1848 – Klassen nur noch als untergeordnete und abgeleitete Kategorie auf. Klassen sind dort nichts anderes als Resultate entwickelter Warenproduktion, ihr nicht vorgelagert, sondern ihr entspringend. Ohne Wert und Mehrwert keine Klasse der Arbeiter. Die kapitalistischen Klassen sind bloß Folgen unterschiedlicher Positionierungen im Kapitalverhältnis. Der Konflikt Lohnarbeit-Kapital ist kein den Kapitalismus konstituierender, sondern ein vom Kapitalismus konstituierter.
2.
Der Klassenkampf beschreibt lediglich die Oberfläche des Verwertungsprozesses, nicht dessen Fundament. Er kennzeichnet keinen antagonistischen Gegensatz, sondern eine immanente Funktionsentsprechung, die eben auch ihre internen Kollisionen kennt. Er meint vorrangig nichts anderes als die Konflikte, die sich aus diesen Positionierungen entwickeln. Es geht somit um den Kampf zwischen konstanten und variablen Kapital (c:v) über das Verhältnis von Lohn zu Mehrwert (v:m).
3.
Die Borniertheit des Klasseninteresses ist eindeutig daran zu erkennen, daß das Proletariat als bürgerliche Klasse über das Wachstum nicht hinausdenken kann. Dieses ist ihm Lebenselixier. Und dies bindet das Proletariat strukturell an das Kapital, in der Konsequenz auch an die Plusmacherei der Kapitalisten. „Akkumulation des Kapitals ist also Vermehrung des Proletariats.“ Bereits 1849 heißt es bei Marx unmißverständlich: „Die Interessen des Kapitals und die Interessen der Arbeiter sind dieselben, heißt nun: Kapital und Lohnarbeit sind zwei Seiten ein und desselben Verhältnisses.“
4.
Der konstatierte Doppelcharakter des Proletariats, einerseits Klasse in der bürgerlichen Gesellschaft, andererseits Klasse gegen die bürgerliche Gesellschaft, konstituierend für den Sozialismus, ist nicht aufrechterhaltbar. Der revolutionäre Charakter des Proletariats war stets ein postulierter, nie ein realer. Daran sollte auch die gelegentliche Schärfe der Konfrontation nicht hinwegtäuschen. Der behauptete antagonistische Widerspruch wurde nie analytisch begründet.
5.
Arbeiterbewegung und Arbeiterklasse wurden zum Fetisch linker Theorie. Stets wurden Bezüglichkeiten hergestellt und Radikalitäten unterstellt, selbst als eine Enttäuschung der nächsten folgte. Der Arbeiter wurde allmeist als Ikone vorangetragen. Die Kategorie des Arbeiters wurde nicht hinterfragt, sondern in den inhaltsloser werdenden Tiraden von Klasse und Bewegung evangelisiert. Die Klassenkampf-Rhetorik war überall präsent. Nicht der reale Arbeiter interessierte, sondern sein Idealbild.
6.
Ziel des Klassenkampfs ist das Geld. Auch dort, wo er mehr politisch erscheint (z.B. Kampf fürs Wahlrecht) handelt es sich nur um Übersetzungen von ökonomischen in politische Forderungen. Freiheit meint die Freiheit, die Arbeitskraft auf dem freien Markt verkaufen zu dürfen (nicht leibeigen, sondern verdinglicht zu sein); Gleichheit meint die Gleichheit der Warenbesitzer auf dem Warenmarkt und bei allen Geldgeschäften; Gerechtigkeit meint die Gerechtigkeit des Werts. Womit die Leitwerte der Arbeiterbewegung vollends als bürgerliche entzaubert sind.
7.
Stets war die Arbeiterklasse positiv auf Arbeit und Geld bezogen. Das ist sie noch immer, wenngleich das utopische Beiwerk von gestern fehlt. Wenn wir heute auf Arbeiterdemonstrationen Transparente mit der Losung „Wir sind das Kapital!“ lesen müssen, dann erscheint das nur auf den ersten Blick als total verrückt. Nein, die Arbeiter haben hier bloß ihre profane Daseinsweise erkannt, das Problem ist nur, daß sie diese nicht als Menschen kritisieren, sondern als Arbeiter schier verzweifelt einfordern.
8.
Der Klassengegensatz ist ein wertimmanenter Konkurrenzgegensatz. Ihm folgt ein Kampf um die Realisierung des Werts der Ware Arbeitskraft. Der Klassenkampf richtet sich objektiv nie gegen das bestehende System. Er gehört so zu den Regeln des Lohnsystems, ja noch mehr, er ist die notwendige Regulierung desselben. So betrachtet muß der Klassenkampf sich affirmativ auf den Wert beziehen. Solange die zivilisatorische Potenz des Kapitals sich noch in Entfaltung befunden hat, war das auch durchaus progressiv. Heute jedoch ist ein offensives Setzen auf den Klassenkampf – eben als Interessenkampf – strategisch regressiv. Er bleibt nicht nur hinter den Anforderungen zurück, er desavouiert sie regelmäßig durch seine antiquierten Inhalte und Formen.
9.
Obwohl die gesellschaftlichen Widersprüche sich laufend verschärfen, entschärfen sich die Klassenwidersprüche. D.h. die Konflikte sind immer weniger am Gegensatz Kapital-Lohnarbeit zu dechiffrieren, dieser bildet umgekehrt einen substantiellen Wachstumsblock, dessen Blockinteresse eindeutig die globale Destruktion mitbetreibt. In der Zwischenzeit ist diese Interessenidentität sogar auf der Oberfläche überdeutlich: Für Wachstum, für Verwertung, Für Arbeit! Weiter so! Vor allem bei ökologischen Fragestellungen zeigt sich, wie sehr der „antagonistische“ Interessengegensatz sich als gesellschaftliche Zusammengehörigkeit gestaltet.
10.
Was die heutige Gesellschaft auszeichnet, ist der Verfall der Klassen. Wie die anderen Formprinzipien des Kapitals zerbröseln auch sie in geradezu rasantem Tempo. Das heißt nun nicht, daß es keine Klassen mehr gibt, sehr wohl aber, daß Klassen nicht einmal mehr sekundär zur Charakterisierung der gesellschaftlichen Struktur einen entscheidenden Beitrag leisten können. Die sozialen Individuen wechseln vielmehr zwischen verschiedenen losen Rollen, ohne sich ihnen dezidiert zugehörig zu zeigen. Klassenmerkmale werden Momente unter vielen, aufgehoben in einem Kunterbunt der Zu-, Hin- und Verwendungen. Menschen verstehen und verhalten sich nicht in erster Linie als Proletarier oder Bourgeois, Beamter oder Bauer.
11.
Das kapitalistische Individuum ist kein Klassenindividuum mehr, das „Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse“ (Marx) gestaltet sich an und in ihm komplizierter und vielfältiger. Seine Haltung ist nicht auf den Produktionsprozeß rückführbar, auch wenn man die Untersuchung auf Zirkulation und Konsumtion, ja auf die Reproduktion ausweitet. Der Klassenbegriff zerrinnt zwischen den Fingern. Er ist ein Begriff, der immer weniger begreift. Das kommunikative Verhalten der Menschen ist nicht nur nicht auf die Klassensituation zu reduzieren, es ist nicht einmal darauf analytisch zu konzentrieren. Klassenspezifische Momente genießen keine vorrangige Stellung.
12.
Der Klassenkampf ist nicht gewinnbar, sondern nur überwindbar. Das Proletariat ist daher auch nicht zur Herrschaft oder gar Diktatur zu bringen, sondern schlicht und einfach zu entproletarisieren. Die negative Auflösung der Klassen ist ja auch schon weit vorangeschritten, doch eben nicht hin zum klassenlosen vielfältigen Menschen, sondern zur postmodernen beliebigen Geld- und Warenmonade, die nun losgelöst von vielen alten Beschränkungen der puren Form huldigt, ohne diese jedoch zu kennen.
13.
Die Arbeiterklasse ist deswegen nicht mehr mobilisierbar, weil es sie in der traditionellen Form nicht mehr gibt. Klasseninteressen sind für die Individuen von untergeordneter Bedeutung, die Arbeiterbewegung existiert nur noch in ihren Ausläufern. Sie läuft aus, verläuft sich. Keine gesellschaftliche Bewegung wird sie mehr zu einer emanzipatorischen sozialen Bewegung formen.
Der Klassenkampf konnte nur erfolgreich sein, weil er mit der Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus korrespondierte, d.h. diese ungebrochen und flächendeckend nach variablem Kapital gierten. Solange der Kapitalismus auf dem Vormarsch war, ist der Klassenwiderspruch ja tatsächlich der immanente Hauptwiderspruch gewesen. Der Aufstieg der Arbeiterorganisationen war Folge davon. In der Stärke des Kapitals lag die Stärke der Lohnarbeiterklasse. Gemeinsam sind sie groß geworden, nicht gegeneinander, wie die Klassenkampfparolen unterstellen. Das Gegeneinander war nur die Verlaufsform des Füreinander.
15.
Im Nachhinein wird sich die Arbeiterbewegung als bürgerliche Emanzipationsbewegung entpuppen. Als die zweite, und zahlenmäßig größere bürgerliche Klasse hat sie viel mehr als die Bourgeoisie zur Etablierung demokratischer Verhältnisse beigetragen, deutlicher als diese hat sie die bürgerlichen Werte ernstgenommen und verwirklicht. Nirgendwo wurden die Tugenden bürgerlicher Moral so hochgehalten wie in den Arbeiterhaushalten. Proletarisch meint stets bürgerlich.
16.
Die Arbeiterbewegung ist die bedeutendste bürgerliche Bewegung, die wir je hatten. Sie ist die Bürgerbewegung schlechthin, eine für soziale Gerechtigkeit, für Lohnarbeit, für Demokratie, für Freiheit, für Rechtsstaatlichkeit. Eine Bewegung für den Wert, nicht gegen ihn, eine Bewegung für das Kapital, nicht gegen es.
17.
Der Klassenkampf ist ausgereizt. Die Arbeiterbewegung hat ihre heroischen Zeiten hinter sich. An der Klassenkampffront entscheidet sich heute zusehends weniger, sie verdeutlicht lediglich noch einen immanenten Nebenwiderspruch. Die Systemfrage, wird sie als Frage gesellschaftlicher Transformation noch ernst genommen, hat sich anderweitig zu orientieren.