Gretel und Hänsel

von Hermann Engster

THESE
Spiele, Kind, in der Mutter Schoß! Auf der heiligen Insel
Findet der trübe Gram, findet die Sorge dich nicht,
Liebend halten die Arme der Mutter dich über dem Abgrund.

Schiller, Der spielende Knabe

Das Märchen Hänsel und Gretel hat Wilhelm Grimm im Haus der Familie Wild in Kassel kennengelernt. Die Familie hat hugenottische Wurzeln; viele Märchen aus der Sammlung von Jacob und Wilhelm Grimm stammen aus französischen Quellen, nicht jedoch Hänsel und Gretel, weitere Quellen dieses Märchens sind nicht bekannt. In der handschriftlichen Fassung der Grimms von 1810, entdeckt um 1920 im elsässischen Kloster Oelenberg, trägt die Erzählung den Titel Das Brüderchen vnd das Schwesterchen; den Geschwistern wurden dann von Wilhelm die Allerweltsnamen Hans und Grete gegeben, und da es sich um Kinder handelt, nannte er sie Hänsel und Gretel; unter diesem Titel erschien das Märchen in der Erstausgabe der Kinder- und Hausmärchen von 1812/15. In den weiteren Ausgaben hat Wilhelm die sprachlich spröde Vorlage zu dem für die Grimms charakteristischen Märchenstil geformt, hat dazu erhebliche inhaltliche Änderungen und motivische Ausschmückungen vorgenommen und die Geschichte mit schlichter Frömmigkeit beseelt, damit daraus ein „richtiges Märchen“ würde. Aber ist es das wirklich?

Die Geschichte folgt einem für das Märchen konventionellen Dreierschema:
A – Erstes Aussetzen der Kinder, Rückkehr
B – Zweites Aussetzen, Verirren, Hexenhaus
C – Befreiung aus dem Hexenhaus, Rückkehr zum Elternhaus

Damit hat es sich aber auch schon mit der Simplizität; denn dahinter verbirgt sich eine überaus kunstvolle Erzählkonstruktion, für die nicht, wie Herder und die Romantiker es imaginierten, ein kollektiv wirkender „Volksgeist“, sondern ein planvoll vorgehender Autor oder eine Autorin verantwortlich ist. Eingebaut sind in die Erzählung, wie die literaturwissenschaftliche Märchenforschung gezeigt hat, Spiegelungen, die großenteils antithetischer Natur sind, teils aber auch Motive wiederholend verstärken. Diese Spiegelungen betreffen vor allem Mutter und Hexe und, komplementär dazu, Elternhaus und Hexenhaus. Sie sind folgende (die Analyse nach der handschriftlichen Urfassung von 1810, Reclam Nr. 18520):

  • Das Elternhaus liegt vor dem Wald, das Hexenhaus tief im Wald.
  • Das Elternhaus ist ein Haus des Mangels, das Hexenhaus eines der Fülle.
  • Der Hunger der Kinder bedroht die Existenz der Familie; die hungrigen Kinder essen der Hexe das Haus auf – „Knuper, knuper, knäuschen, wer knupert an meinem Häuschen?“ – und bedrohen damit die Existenz der Hexe.
  • In der Nacht erkennen die Kinder die Mutter als böse, die sich sonst aber als freundlich verstellt; im Hexenhaus ist die Hexe zunächst freundlich, dann jedoch böse.
  • Die Mutter will die Kinder wegen des Mangels an Essen aussetzen; im Hexenhaus werden die Kinder selbst zur Speise der Hexe: Hänsel soll als Schweinchen gebraten, Gretel zu Brot gebacken werden.
  • Im Elternhaus sind die Kinder zu ihrem Unglück der Mutter ausgeliefert, im Hexenhaus der Hexe, von der sie sich jedoch zu ihrem Glück befreien.
  • Auf dem Weg in den Wald ist Hänsel die handelnde Person, im Hexenhaus ist es Gretel.
  • Mutter und Hexe sind wechselseitige Spiegelbilder. Mit dem Verschwinden der Hexe ist am Schluss auch die Mutter verschwunden.

Diese Motivlage ist natürlich eine willkommene Beute für psychoanalytisch und vor allem tiefenpsychologisch orientierte Märchendeuter. „Bewiesen“ sei – so ihre These – die „Identität von Mutter und Hexe“. So beeindruckend die Vieldeutigkeit der Motive ist – „bewiesen“, so fährt der Märchenforscher Helmut Brackert dazwischen, „ist gar nichts“. Er lenkt seinen nüchternen Blick zum einen auf die sozialgeschichtliche Grundlage des Märchens, zum andern auf die literarische Konstruktion der Erzählung, zum dritten auf die metaphorische Einkleidung des Geschehens. Vor allem auf diese und fragt: Was meinen diese Bilder der Hexe und des Hexenhauses? (Helmut Brackert, Und wenn sie nicht gestorben sind … Perspektiven auf das Märchen. Frankfurt a.M. 1980)

Sehet an die Vögel des Himmels: Sie säen nicht, sie ernten nicht, und doch ernährt sie ihr himmlischer Vater. Seid ihr nicht viel mehr wert denn sie?

Matthäus 6,26

Realitäts-Check:
Wir müssen damit anfangen, daß wir die erste Voraussetzung aller menschlichen Existenz konstatieren, nämlich daß die Menschen imstande sein müssen zu leben. Zum Leben aber gehört vor Allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere. Die erste geschichtliche Tat ist also die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse.
Marx/Engels, Die Deutsche Ideologie (1845/46, gekürzt)

Die wirtschaftliche Not, auf welche die Eltern mit der Aussetzung der Kinder reagieren, ist in dem Text von Anfang an als reale Tatsache dargestellt. Die Beseitigung von Kindern in Notzeiten, durch Aussetzung oder durch Tötung wie Ersticken oder Ertränken, war seit jeher, wie in Antike und Mittelalter überliefert, eine häufig geübte Praxis der Geburtenkontrolle. (Dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/Findelkind) Von der Kirche wurde sie grundsätzlich missbilligt, aber wohl vor allem deshalb, weil ungetaufte Kinder nicht in den Himmel kommen; für diese im Prinzip ja unschuldigen Wesen erfand die Kirche den Limbus, einen gottfernen Ort zwischen Himmel und Hölle. Sanktioniert wurde die Praxis nur zu Zeiten, wo es genug Nahrung gab; bestraft wurde dabei nicht der Vater, sondern die Mutter, weil diese für Ernährung und Fürsorge zuständig war. So wird in unserm Märchen die Mutter durchweg als gefühllos, der Vater als weich und mitleidig dargestellt. Ausgerechnet die Mutter ist es, die angesichts der bedrängenden Not die harte Konsequenz zieht, dass die Kinder beseitigt werden müssen, weil diese die Existenz der Familie selbst gefährden:

Es war einmal ein armer Holzhacker. Es ging ihm gar jämmerlich, daß er kaum seine Frau und seine zwei Kinder ernähren konnte. Einsmals hatte er kein Brod mehr und war in großer Angst, da sprach seine Frau Abends im Bett zu ihm: nimm die beiden Kinder morgen früh und führ sie in den großen Wald, und darnach geh weg und laß sie allein.
(Hänsel und Gretel, Urfassung, gekürzt)

Zugrunde liegt hier ein fundamentales Problem, mit dem schon die antike Moralphilosophie gerungen hat: Wie ist Gutsein in einer Situation möglich, in welcher der Mensch um sein Überleben kämpft? Evolutionstheoretisch gesehen, ist für den Fortbestand der Spezies die Reproduktionseinheit Mann/Frau wichtiger als die beiden Kinder. Das gestaltet sich historisch im Prinzip immer gleich. Die Mutter verkörpert das, was Max Weber später als das unerbittliche Gesetz der ökonomischen Rationalität kapitalistischer Verhältnisse nennen wird; doch solche Unerbittlichkeit, aufgezwungen von Notzeiten, gab es seit je.

Kinder müssen angesichts solcher im Märchen geschilderten Realität die Eltern als latente Bedrohung ihres eigenen Lebens empfunden haben. Weshalb treten aber in der Erzählung Mutter und Hexe als Erscheinungsformen ein und derselben Figur auf? Weil das Kind die eigene Mutter nicht als unheimliche und lebensbedrohliche Macht erleben darf. Das ist, fernab von allem tiefenpsychologischen Mystizismus, als die literarische Konstruktion des Autors zu betrachten. Ursprünglich handelt es sich (wie übrigens auch in Schneewittchen) sogar um die leibliche Mutter; später hat Wilhelm Grimm die Anstößigkeit beseitigt, indem er die Mutter zur (traditionell bösen) Stiefmutter entschärfte.

Diese Konstruktion kehrt nun in den Kindern wieder. Durch ihr bloßes Dasein gefährden sie einerseits die Existenz der Familie; anderseits gefährden sie die Existenz der Hexe, indem sie in ihrer Lebensgier deren Haus aufessen wollen. Kannibalismus der Kinder und Kannibalismus der Hexe spiegeln einander. Die Kinder folgen, nicht anders als die Mutter, ihren eigenen Lebensinteressen und erweisen sich damit als genauso „böse“ wie diese.

Rollenwechsel

Doch hier im Hexenhaus ereignet sich nun die eigentliche Auseinandersetzung mit der Mutter. Die Regression durch Anklammerung an das Elternhaus ist nun nicht mehr möglich. Stattdessen findet ein aufschlussreicher Rollentausch unter den Kindern statt. Bei den beiden Irrgängen der Geschwister spielt der Junge die führende Rolle: Er tröstet die ängstliche Schwester und plant geschickt die Rückkehr ins Elternhaus, zunächst erfolgreich mit den Kieseln, dann, fehlschlagend, mit den Brotstückchen.

Im Hexenhaus zeigt die zunächst freundliche Hexe den Kindern ihr wahres Gesicht. Hänsel wird in einen Käfig gesperrt und soll zu einem Braten gemästet, Gretel zu Brot gebacken werden. Die Mästung ist jedoch nur das vordergründige Motiv für die Käfighaltung Hänsels. Der tieferliegende Grund lautet: Er muss durch die Einsperrung inaktiv gemacht werden, damit Gretel nun zur handelnden Figur werden kann.

Dabei macht sie eine staunenswerte Entwicklung durch: Sie geht planvoll und geradezu gerissen vor, indem sie die Hexe täuscht: Als diese sie in den Backofen locken will, stellt sie sich absichtlich ungeschickt an, bittet die Hexe, ihr zu zeigen, wie sie es machen soll, und schiebt stattdessen die Hexe selbst in den glühenden Ofen. So grauenhaft der Feuertod der Hexe realiter ist, für Kinder bedeutet er nicht mehr als: Die Hexe ist weg. Bedeutsamer und eindrücklicher für die Kinder ist aber Gretels Entwicklung: Sie emanzipiert sich von ihrem Bruder und befreit ihn und sich selbst von der Hexe. Danach finden die Geschwister, beladen mit Edelsteinen, aus dem Hexenhaus ohne Probleme den Weg zurück ins Elternhaus, und dies ohne die hilfreichen Tiere, die erst Wilhelm Grimms spätere Ausschmückung sind. Dort treffen sie den erfreuten Vater, die Mutter ist hingegen nicht mehr da.

Greifen wir erneut Brackerts entscheidende Frage auf: „Was meinen diese Bilder?“ Warum die Erfindung der Hexe und des Hexenhauses? Die Kinder haben die Mutter bisher nur als die Nährende erlebt, sie erkennen nun die andere – negative – Seite der Mutter und müssen lernen, diese Ambivalenz auszuhalten. Die Kinder machen einen notwendigen Reifungsprozess durch, der aber in dieser Rigorosität nicht im eignen Elternhaus stattfinden darf – unter den gegebenen Bedingungen der traditionellen Familienverhältnisse wäre das ein Tabubruch. Im Märchen aber dürfen die Figuren und Geschehnisse sich zeigen, wie sie wirklich sind. „Die Mutter aber war gestorben“, schließt das Märchen mit dürren Worten. Das heißt: Die Mutter ist überwunden. „Kinder brauchen Märchen“, konstatiert der die Märchendeutung dominierende Psychoanalytiker Bruno Bettelheim. Mit der Fundierung in der sozialen Realität bekommt diese Erkenntnis eine von ihm wohl nicht mitbedachte Dimension.

Die Kehrseite der Medaille

Eine weitere kommt hinzu. In seiner VII. Geschichtsphilosophischen These konstatiert Walter Benjamin: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. … Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist.“ Auch diese emanzipatorische Erzählung hat ihre barbarische Seite, indem sie das von Staatsmacht und Kirche betriebene Massenverbrechen der Hexenverfolgung als Gleichnis für die Selbstbefreiung der Kinder heranzieht. Dieser Verfolgung, die weniger im Mittelalter, sondern in der frühen Neuzeit, vor allem im Zeitraum zwischen 1550 und 1650, stattfand, fielen in Europa etwa vierzig- bis sechzigtausend unschuldige Frauen zum Opfer – sie wurden verfemt, gefoltert, öffentlich verbrannt. Der in der Gestalt der Hexe verkörperte Frauenhass zeigt sich in der Erzählung als die barbarische Kehrseite der emanzipatorischen Medaille.

Whodunit?

Das Märchen Hänsel und Gretel ist, wie an Metaphorik, Figurenzeichnung und Konstruktion zu sehen war, eine künstlerisch komplex gebaute Erzählung, für die bisher keine Vorlage festgestellt werden konnte. Es liegt daher nahe, sie als das Werk eines individuellen Autors anzusehen, als eine Erzählung, die auf unbekannten Wegen den Grimms zur Kenntnis gekommen ist. Brackert geht nun einen verwegenen Schritt weiter und fragt, wer der Autor oder die Autorin gewesen sein mochte.

Das erscheint spekulativ, aber seine Überlegungen beruhen auf soliden Indizien und Argumenten. Naheliegt die Vermutung, so Brackert, dass diese Geschichte von einem Menschen mit ähnlichen Sozialerfahrungen geschrieben worden sei und der sich vermittelst der literarischen Gestaltung von eigenen traumatischen Erinnerungen befreit habe. War es ein Autor oder eine Autorin? Wenn Sie, geneigte Leserin, geneigter Leser, meine Meinung wissen wollen – ich tippe auf eine Frau.

ANTITHESE
Ein kluger Mensch hat gesagt, neben dem Verlust der Mutter
sei kaum etwas gesünder für kleine Kinder als der Verlust des Vaters.

Halldór Laxness, Brekkukotsannáll, (Incipit zu den Annalen von Brekkukot; deutscher Titel: Das Fischkonzert)

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