Diagnose eines individuellen Defekts oder Aufschieberitis als Krankheit?

von Peter Klein

Prokrastination – als mir das Wort vor einiger Zeit im Internet begegnete (auf der Seite von Pocket), konnte ich partout nichts damit anfangen. Es war mir vollkommen neu. Keine Ahnung, was es bedeutete. Die Überschrift ließ auf etwas Unangenehmes schließen, auf eine weit verbreitete Krankheit oder Verhaltensstörung, die aber heilbar sei. Meine Neugier war geweckt.

Zunächst widerstand ich dem Impuls, die Seite zu öffnen. Man weiß ja, mit welcher Art Fragen die auf Klicks und Follower erpichten Internet-Publikationen unsere Aufmerksamkeit zu erregen suchen: Was verrät es über meinen Charakter, wenn ich einen Hund, was, wenn ich eine Katze als Haustier bevorzuge? Leben Seitenschläfer gefährlich? Was hilft gegen das Schnarchen? Wie hältst Du’s mit dem Stillen? Wozu ist Schwitzen gut? Was sagt der Wohnpsychologe zu meinen Möbeln? Welche Kreditkarte passt zu mir? Hat Schlaflosigkeit etwas mit Stress zu tun? Gibt es alkoholfreies Bier, das schmeckt? Ist Fortschritt heilbar und wie können Vielflieger ihre CO-Bilanz verbessern? Gewichtige Fragen, deren Beantwortung man getrost einem der geschwätzigen KI-Programme überlassen kann.

Als ich – nach wiederholter Begegnung – den Prokrastinations-Artikel endlich aufmachte, fand ich meinen Verdacht bestätigt. Hinter dem wissenschaftlich klingenden Fremdwort verbirgt sich nichts weiter als die altdeutsche Spruchweisheit „Was Du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.“ Nur, dass das Verschieben hier wie eine Diagnose mit klinischem Beigeschmack daherkommt. Aber ob nicht jede Lebensäußerung, wenn sie ins Extrem getrieben wird, wie eine Krankheit aussehen könnte. Selbst einem Langstreckenläufer kann es passieren, dass er bei der Ausübung seiner an sich gesunden Sportart tot zusammenbricht. Ist er dann an Langlauferitis gestorben?

Das Verschieben einer ungeliebten Arbeit, im Internet populär zur Diagnose „Prokrastination“ aufgehübscht, schien mir sehr gut auf unsere brave akademische Jugend zu passen, die ja den Bachelor üblicherweise in der Mindestzeit zu absolvieren bestrebt ist. Nachdem sie die Phrasen von Kreativität, Flexibilität und Nachhaltigkeit schon fast so gut wie nur irgendeine KI-Anwendung daherzuleiern versteht, steht ihr jetzt auch noch die Warnung vor der Prokrastination zur Verfügung. Ein weiteres Hilfsangebot, das in Richtung Arbeitsgesellschaft zeigt. Was Wunder, wenn sich die jungen Leute vor lauter Wegweisern kaum noch rühren können. Sie sind derart fürsorglich in Watte gepackt mit Regeln und Ratschlägen, dass ihnen, wenn sie aufmüpfig sein wollen, gerade noch die Kühnheit einfällt, beim Abbiegen das Blinken zu unterlassen. Und wer es gar auf eine von der Polizei geschützte Demo geschafft hat, der oder die sieht sich gleich todesmutig an der Seite von Sophie Scholl stehen. Wenn es die Islamisten, Herrn Putin und den globalen Süden nicht gäbe, könnte man glatt meinen, in der harmlosesten aller möglichen Welten zu leben.

Derart gestimmt, erwähnte ich das Wort einer Bekannten gegenüber – zusammen mit einer sarkastischen Bemerkung über „unsere hoch organisierte akademische Jugend“. Die Antwort, die ich erhielt, fiel für meinen Geschmack zu knapp aus. Die „Aufschieberitis“, so schrieb die Bekannte, sei nie ihr Problem gewesen. Das schien mir auf einen Mangel an Problembewusstsein hinzudeuten, weshalb ich alsbald – ohne groß zu prokrastinieren – zur Erläuterung meiner Gefühlslage schritt. Der folgende Text ist diese Erläuterung.

*

Der Hintergrund, vor dem die „Prokrastination“ das Aussehen einer Krankheit erhält, ist für mich das Ideal eines reibungslosen Funktionierens, das irgendwelche Bedenken oder Zweifel oder Unlustgefühle nicht kennt, sie jedenfalls nicht hochkommen lässt. Bei Byung-Chul Han (in dessen „Müdigkeitsgesellschaft“) steht zu diesem Thema, dass das reibungslose Funktionieren: fraglos, nicht ermüdend, immer im gleichen Rythmus, in der gleichen Geschwindigkeit, eine Anforderung ist, die man an eine Maschine stellt, und die als allgemeine Arbeitshaltung überhaupt erst zusammen mit dem Maschinenzeitalter entstanden ist. Träumen, trödeln, abschweifen, grübeln, zaudern, zögern, zweifeln können dagegen nur die Menschen.

Dass die „Aufschieberitis“ es jetzt zu so einem Fachausdruck gebracht hat, in dem das Aufschieben umstandslos einen Defekt bezeichnet, den es selbstverständlich zu beheben gilt, ohne weiteres Nachfragen, ist das, was mich aufregt. Die Frage ist doch, ob das, was man nicht gerne tut, die pflichtgemäß zu erledigende Arbeit, die man vor sich herschiebt, nicht selbst den Grund dafür liefert, dass man „prokrastiniert“. Der Defekt läge dann auf der Seite der Pflicht, auf der Seite der zwingend notwendigen Arbeit, die das aber womöglich, existenziell gesehen, gerade nicht ist, nicht auf der Seite des Prokrastinierers. Ich denke dabei an so wichtige Vorhaben wie: den Verkaufsprospekt für das neue Automodell rechtzeitig fertigstellen oder die Software für das neue Mautsystem oder dergleichen. Das Prokrastinieren könnte ebenso gut einen gesunden Impuls in sich bergen, nämlich den von lebendigen Trieben gespeisten Widerwillen gegen etwas, das es nicht verdient, wichtig genommen zu werden. Es könnte in vielen Fällen sogar als ein erster Ansatz zur Kritik an der vorgegebenen „Notwendigkeit“ aufgefasst werden, als eine Kritik, die von sich selbst vielleicht noch gar nichts weiß. Mindestens ist es doch ein Anzeichen dafür oder kann es sein, dass in der Welt unserer – vermeintlich objektiven – Zwänge und Notwendigkeiten etwas nicht stimmt, dass hier ein Verrat lauert, der an anderen, menschlicheren Notwendigkeiten begangen wird. Ist es besser für mich, dass ich mir durch brave Pflichterfüllung und ordnungsgemäße Erledigung der Arbeit ein gutes Gewissen verschaffe? Oder wäre mir wohler, wenn ich die Arbeit für heute liegen ließe und, vom schönen Wetter gelockt, im Park spazieren oder etwa mit den Kindern ins Schwimmbad ginge? Hier gibt es einen Konflikt mit Platz für Unbehagen und schlechtes Gewissen auf beiden Seiten, was eben das Leben in der Arbeitsgesellschaft holprig macht.

Dieser Konflikt wird von so einem „Fachausdruck“, der ganz locker und unverfroren als Diagnose eines individuellen Defekts daherkommt, gegen den man was machen sollte, unter den Teppich gekehrt und gleichsam ausgelöscht. Was es nicht gibt, kann aber nicht beredet werden. Philosophisch gesprochen: Der kategorische Imperativ, der mir gebietet, pflichtgemäß zu handeln, ohne die Frage nach dem Inhalt zu stellen, hat auf breiter Front gesiegt. So sehr, dass die davon Betroffenen nicht einmal mehr die Worte finden, mit denen sie sich über den Konflikt und die damit verbundenen Schmerzen verständigen könnten. Anders als Kant übrigens, der diesen ethischen Standard der modernen Gesellschaft ja formuliert hat. Er war sich über den, wenn auch anonymen („objektiven“) Zwang, der von dieser Pflichtethik ausgeübt wird, durchaus im Klaren. Es gibt im Zeitalter der Selbstoptimierung offensichtlich nur noch die Frage, wie man es schafft, noch besser, noch effektiver zu funktionieren. Ohne störende Nebengeräusche sozusagen, ohne ablenkende Wünsche und Gedanken. „Ergebnisorientiert“ und „fokussiert“ auf das Wesentliche soll die Arbeitsgesinnung sein, in die wir uns, die „Professionalität“ im Blick, einzuleben haben. Das ergibt eine sehr unerquickliche Art der Konkurrenz, die zu einem ewigen Unbehagen, einer ewigen Unzufriedenheit der Individuen mit sich und der Welt führt. Dass die entsprechenden Unlustgefühle sich nicht in wohlgesetzten Worten äußern, sondern oft genug irrational, dumpf und brutal, ist nicht zu verwundern.

Aber die anständigen Leute, zu denen ich Sie zähle (und mich natürlich auch), die es in der Beflissenheit weit gebracht haben, wundern sich eben doch. Denn die Konkurrenz findet ja nicht in der unmittelbaren Begegnung Mensch zu Mensch statt, sondern indirekt. Wir haben es mit objektiven Vorgaben zu tun, und wenn wir redlich funktionieren und unsere Pflicht erfüllen, haben wir nichts Böses im Sinn. Unser konzentriertes Arbeiten richtet sich gegen Niemanden. Und tatsächlich werden wir ja von denen, die scheitern, die mit den „Anforderungen der modernen Gesellschaft“ nicht zurechtkommen, erst einmal nicht behelligt. Angesichts der „objektiven Anforderungen“ muss jeder und jede selbst sehen, wie er oder sie es schafft, sie zu bewältigen. Das Scheitern ist sein persönliches Unglück, es ist zuallererst eine Privatangelegenheit, über die die Betroffenen oft noch nicht einmal reden.

Wir tragen ja immer selbst die Verantwortung, und wer „es“ nicht geschafft und zu „nichts“ gebracht hat, schämt sich. In dieser Verantwortung liegt auch, wie wir das Scheitern (die Entlassung, die nicht bestandene Prüfung, die Insolvenz) verarbeiten. Abgesehen vom Alkohol, von der häuslichen Gewalt und dem Rechtspopulismus gibt es noch andere Wege: Die Wartelisten für Psychotherapie sind lang, die Umsätze mit Beruhigungsmitteln und Stimmungsaufhellern steigen. Und wenn die anständigen Leute davon Notiz nehmen, entwickeln sie für die „leidende Menschheit“ nur positive Gefühle und Wünsche: Es sollte mehr Therapiestellen geben, die Krankenkassen sollten in größerem Umfang die Kosten übernehmen und für die Millionen Flüchtlinge, die in den aus unerfindlichen Gründen kaputt gegangenen Weltregionen produziert werden, fällt ihnen ein geniales Heil- und Tröstungsmittel ein: die Integration. Aber wehe, die Loser und Zukurzgekommenen dieser Welt machen Anstalten, aufmüpfig zu werden oder gar gewalttätig. Da hat das Verständnis der anständigen Menschen, die ja nicht wissen, dass sie die Sieger in einem stumm wogenden Konkurrenzkampf sind, ein Ende.

image_print