Abgründe progressiver Sozialforschung

Über die systematische Verkehrung des Theorems des strukturellen Antisemitismus

von Hendrik Wallat

Die affirmative Resteverwertung einer häufig grob auf sozialpsychologische Komponenten verkürzten Kritischen Theorie spielt eine nicht unerhebliche Rolle bei der politischen Instrumentalisierung von Gesellschaftskritik. Dies betrifft mit an erster Stelle die Vulgarisierung und affirmative Verwendung des Begriffs des strukturellen Antisemitismus, welche seinen Sinngehalt verkehren. Der Begriff und seine Verwendung haben eine ziemlich steile, kaum zu erwartende Karriere gemacht, deren schlechte Pointe allerdings darin besteht, dass er sich von einem kritischen Begriff zu einem konformistischen Buzzword transformierte. Was einst dazu beitragen sollte, jede Form des Antisemitismus sowie die irrationale Vergesellschaftung durch das Kapital als dessen Grund zu kritisieren, dient mittlerweile dazu, einerseits den eliminatorischen Kern des Antisemitismus zu verdecken und andererseits die kapitalistische Gesellschaft vor jeder radikalen Kritik zu immunisieren, indem diese mittlerweile selbst a priori als antisemitisch denunziert wird.

Allerdings ist nicht erst die Verkehrung des Begriffs des strukturellen Antisemitismus in ein affirmatives Ideologem der konformistischen Theorie ein Problem. Dass diese Verkehrung des Sinngehalts überhaupt möglich war, verweist auch auf Schwachpunkte des Begriffs, die dieser bereits in seiner kritischen Form aufweist. Dieser hat zwar zur begrüßenswerten Aufklärung über gesellschaftliche Zusammenhänge beigetragen. Von Anfang an wies er jedoch bereits Komponenten auf, deren theoretischer Gehalt schon immer fragwürdig war und dessen Schwundstufen als Ideologie zu betrachten sind, die am Ende den Antisemitismus nicht nur nicht verstehen, sondern auch noch verharmlosen. Der auf die Kritische Theorie und die Wertkritik zurückgehende Begriff des strukturellen Antisemitismus ist mit anderen Worten – durchaus nicht weniger als der des strukturellen Rassismus – voller Fallstricke und Probleme, die angesichts des eliminatorischen Antisemitismus, wie ihn derzeit der Islamismus in die Tat umzusetzen bestrebt ist, besonders deutlich werden. Insbesondere wenn er gradlinig aus dem regressiven Antikapitalismus abgeleitet wird, läuft der Begriff des strukturellen Antisemitismus Gefahr, gleichermaßen den Vernichtungskern des Antisemitismus zu verwischen wie zur affirmativ-präventiven Abwehr von Kritik zu dienen:

(1) Es gibt zwar eine Schnittmenge zwischen Antisemitismus und regressivem Antikapitalismus. Dass etwas strukturell anschlussfähig ist, bedeutet jedoch analytisch nicht dasselbe wie die Behauptung, dass etwas strukturell gleich ist. Diesen Unterschied zu verwischen, ist die analytische Verkürzung des zur Ideologie regredierten Begriffs vom strukturellen Antisemitismus. Nicht jede Form von regressivem Antikapitalismus ist antisemitisch und selbst wo er dies ist, stellt Antisemitismus mehr und anderes dar als regressiven Antikapitalismus. Um es plastisch auszudrücken: Wenn IG-Metaller am 1. Mai auf „die da oben“ schimpfen, die sich alles (wie Heuschrecken) unter den Nagel reißen und der Politik sagen, wo es langgeht, dann ist das politisch wenig aufgeklärt, sicherlich aber nicht per se antisemitisch. Wollte man dies unterstellen, wäre dies nicht nur dem Gewerkschaftler gegenüber unfair. Es wäre auch eine Verharmlosung von echten Antisemiten, die nicht einfach eine verkürzte Kapitalismuskritik vortragen, die sich prinzipiell mit den Mitteln der Aufklärung hinreichend widerlegen lässt, sondern die in paranoider Form Juden hassen und vernichten wollen. Das sind qualitative Differenzen, die gerade von jenen nicht eingeebnet werden sollten, die es mit der Bekämpfung des Antisemitismus ernst meinen.

(2) Der Begriff des strukturellen Antisemitismus ist an sich schon nicht unproblematisch, weil er zudem zumeist offen und vage lässt, wie und warum aus Strukturellem/Latentem etwas Manifestes wird. Auf Seiten des Individuums: wie aus diffusem Geraune und Stammtisch-Spekulationen über „die da oben“ Antisemitismus wird, der Juden als das Böse vernichten will, und eben nicht bloß dummes Gerede, Vorurteile und Ressentiments darstellt, auf Seiten von kapitalistischen Gesellschaften: wie genau diese jeweils Antisemitismus ausbrüten, was diese ja nicht alle im gleichen Maße und zwingend tun, wie sie etwa den Kapitalfetisch generieren. Die kapitalistische Vergesellschaftung kann nicht zu einem Universal-Explanans dienen. Diesbezügliche Erklärungen sind reduktiv, übergehen zahlreiche sehr viel schwerer auszuweisende historische und gesellschaftstheoretische Vermittlungsschritte und liegen sich daher häufig auch nicht zufällig mit der historischen und sozialwissenschaftlichen Empirie in den Haaren.

(3) Zu fragen wäre daher auch, ob mit dem Begriff des strukturellen Antisemitismus die Juden als Opfer und Objekte des Antisemitismus austauschbar werden. Dies hätte auf der einen Seite den aufklärerischen Aspekt, zu unterstreichen, dass die Juden nicht Ursache des Antisemitismus, sondern dieser das Resultat von Projektionen und jene Projektionsfläche eines Hasses sind, dessen Quellen sich aus der Herrschaftsförmigkeit der Zivilisation speisen, mit welcher die Juden an sich überhaupt nichts zu tun haben. Auf der anderen Seite entkonkretisieren sich derart die Opfer des Antisemitismus, wenn am Ende noch ganz andere Menschengruppen zu vom Antisemitismus verfolgten, gleichsam „strukturellen Juden“ erklärt werden können. Dieses Problem taucht bereits bei Horkheimer/Adorno ganz am Schluss in ihren Elementen des Antisemitismus auf: „Nicht erst das antisemitische Ticket ist antisemitisch, sondern die Ticketmentalität überhaupt“ – Ausführungen, die schon stark in die Richtung eines strukturellen Antisemitismus gehen und diesen, von den Juden als seinen Objekten absehend, als „Wut auf die Differenz“ und „Ressentiment […] gegen die natürliche Minderheit“ (Horkheimer/Adorno 2003: 238) ausgeben, was nicht per se falsch ist, aber doch die Frage nach der Möglichkeit eines Antisemitismus ohne Juden aufwirft.

(4) Der Begriff des strukturellen Antisemitismus dient zudem schon lange nicht mehr dazu, die kapitalistische Gesellschaft als strukturell antisemitische zu analysieren und zu kritisieren. Er fungiert mittlerweile, in völliger Verkehrung seines Ursprungsgehalts, zur Abwehr jeder Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft als selbst antisemitisch. Wer von Herrschaft, Klassen, von Privilegierten, politisch Mächtigen und Verantwortlichen spricht, ist demnach bereits strukturell antisemitisch. Wir leben schließlich längst in der Demokratie als einem Reich der Freiheit und Gleichheit, in dem es strukturell vernünftig zugeht – nicht aber unter Bedingungen abstrakter Herrschaft und irrationaler Vergesellschaftung, mitsamt ungeheuerlichen sozialen Ungleichheitsverhältnissen und Machtdifferenzen, die zu kritisieren demnach Ausdruck strukturellen antisemitischen Wahns, keineswegs aber ein Gebot der Vernunft ist. Von der Subjektlosigkeit der Herrschaftsverhältnisse wird nunmehr schlicht auf die Nichtexistenz von Herrschaft fehlgeschlossen und Kritik somit als irrationaler Akt entsorgt, der sich der Rationalität der Wirklichkeit verweigert. Struktureller Antisemitismus wird somit gleichermaßen zu einer ubiquitären Polit-Etikette, die jedem angeheftet werden kann, der es wagt, die Einheit von Vernunft und Wirklichkeit in kapitalistischen Gesellschaften zu hinterfragen, wie er auf einen bloß individual-psychologischen Wahn zurückgestuft wird, der so gar nichts mit jener Gesellschaft zu tun haben soll, in der er beständig ausbricht. Das Wort „strukturell“ ist ziemlich passgenau der Index dafür, dass es an einem angemessenen Begriff kapitalistischer Herrschaft und Vergesellschaftung genauso mangelt wie an einer Theorie des Antisemitismus, in der die Juden nicht mir nichts, dir nichts als Opfer strukturell auswechselbar und dementsprechend beliebig sind. Vom realen Antisemitismus, dessen Praxis mörderischer Gewalt gegen Juden an sich für jeden unmissverständlich ist, bleibt am Ende hingegen nichts mehr übrig. Das zeitigt eine paradoxe wie absurde Gemengelage: Während die einen überall – eben: strukturell – Antisemitismus auch ohne Judenhass wittern, buchen ihn die anderen als einen Unteraspekt des neuen Ideologie-Generaltickets „Rassismus“ begriffslos wie unbegriffen ab, den es, wie jede andere „Diskriminierung“ auch, politisch und zivilgesellschaftlich zu bekämpfen gilt. Beides wird gleichermaßen dem Begriff wie der Gefahr des Antisemitismus nicht gerecht.

Die Unterschiede zwischen Ressentiments, die zwar für den Antisemitismus anschlussfähig, aber nicht identisch mit ihm sind, und diesem selbst, dessen Kern affektgeladene Vernichtungswut und pathische Projektion ausmacht, deren Ziel die Vernichtung aller Juden als selbstzweckhafte Erlösungstat darstellt, sollten weder politisch noch analytisch verwischt werden, wenn auch beide selbstredend verkehrt sind und ideologische wie psychodynamische Schnittmengen aufweisen. Was der 7. Oktober 2023 – sit venia verbo – nochmals deutlich gemacht hat, ist, dass es einerseits gilt, jede Form des Antisemitismus zu bekämpfen, zielt dieser doch am Ende auf die physische Vernichtung der Juden und die ideelle Zerstörung der Idee der Menschheit, wobei die Übergänge vom antisemitischen Ressentiment zur geschlossen-paranoiden antisemitischen Weltanschauung in der Tat fließend sind. Andererseits wird nicht minder deutlich, dass eine Inflationierung des Antisemitismusbegriffs diesen entleert und zu einer Waffe im verwahrlosten politischen Diskurs instrumentalisiert. So ist es zwar richtig, dass der Antisemitismus nicht erst wieder durch die muslimische Einwanderung nach Deutschland reimportiert werden musste; selbstredend gibt es eine spezifisch postnazistische Kontinuität des Antisemitismus, und auch gegenwärtig existiert ein Potential antisemitischer Einstellungen in der „autochthonen“ deutschen Bevölkerung. Nicht weniger offensichtlich ist es aber auch für jeden, dessen Wahrnehmung und politische Urteilskraft nicht durch progressive Ideologie vernebelt ist, dass eliminatorischer Antisemitismus, der jederzeit zur mörderischen Tat bereit ist, jenseits marginalisierter politisch-kultureller Szenen wie der von echten Neo-Nazis, esoterischen Antisemiten oder kleinsten Subkulturen wie dem NS-Blackmetal in nennenswerter und bedrohlicher Anzahl nur unter Islamisten anzutreffen ist. Die akademische Antisemitismusforschung wüsste das, wenn sie bereit wäre, entsprechende Zahlen zu erheben, die einerseits dazu befähigen, zwischen antisemitischen Ressentiments und eliminatorisch-paranoidem, auf einer geschlossenen Ideologie basierendem Antisemitismus unterscheiden zu können, und andererseits klar benennen, wer denn Letzteren überhaupt vertritt. Die Antisemitismusforschung ist freilich in großen Teilen selbst Akteur jener progressiven Ideologie, deren Wesen derweil derart manifest auf und von der Straße der Realitätsverleugnung überführt wird, dass man blamiert dastünde, wenn es nicht den Allzweck-Blitzableiter, den Verweis auf die AfD, die Rechten etc. geben würde, der weniger zur Kritik politisch regressiver „Alternativen“ als zur Ablenkung vom eigenen Totalversagen dient.

Durch die Inflationierung des Antisemitismusbegriffs, ein schlechtes Erbe der Antideutschen, geht offensichtlich nicht eine wachsende Wachsamkeit gegenüber Antisemitismus einher. Dies lässt sich auch daran ablesen, dass zu Corona-Zeiten genau von jenem politischen Milieu jede Form der Kritik an der staatlichen Seuchenpolitik pauschal unter Antisemitismusverdacht gestellt und als strukturell antisemitische Verschwörungsideologie denunziert wurde, das sich nun alle Mühe gibt, das Offensichtlichste nicht auszusprechen: den islamischen Vernichtungsantisemitismus als ideologischen Kern der Hamas- und Hisbollah-Terroristen. Genau an dem Punkt, in dem der Antisemitismus ganz offen und weltweit mittels Social Media sein wahres, heißt menschenhassendes und mordlüsternes Gesicht zeigt, wird er nicht beim Namen genannt oder, noch weit schlimmer, von postkolonialen Ideologen als emanzipatorische Tat von Unterdrückten umgedeutet und affirmiert.

Bezüglich der Corona-Proteste ist das Vorgehen der progressiven Wissenschaftler immer dasselbe. Wenn beispielsweise der Erziehungswissenschaftler Daniel Burghardt den realen und vermeintlichen Antisemitismus innerhalb der Coronaproteste analysiert (vgl. Burghardt 2023), geht er nicht nur apodiktisch von der unmittelbaren Gültigkeit und Übertragbarkeit der analytischen Sozialpsychologie der klassischen Kritischen Theorie auf die Gegenwart aus. Das erspart ihm, nebenbei bemerkt, zum einen, die tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse des Gegenwartskapitalismus, der sich von den Verhältnissen der 1930er, 1940er und 1950er Jahre grundlegend unterscheidet, überhaupt nur erwähnen zu müssen, geschweige denn in die sozialpsychologische Analyse einzubeziehen, und stellt zum anderen das Verhältnis zwischen Psychologie und Gesellschaftstheorie auf den Kopf (vgl. Gerber 2020). Des Weiteren unterstellt Burghardt – wie nahezu alle progressiven Sozialwissenschaftler – die Einheit von Wahrheit und Regierungsnarrativ. Indem er dieses als unhinterfragtes schlicht übernimmt, ist es ihm möglich, einerseits die rationalen Anlässe der Proteste rundum als inexistent und wahnhaft zu behandeln, und andererseits Wahn und Antisemitismus einzig und allein auf Seiten des Protestes zu verorten, ohne die für eine kritische Antisemitismusforschung naheliegendsten Fragen auch nur anzudeuten: In welchem Maße hat nicht die staatliche Corona-Politik selbst genau jene autoritären und irrationalen Aspekte aufgewiesen, die pauschal zugleich dem unter Antisemitismus-Verdacht gestellten Corona-Protest attestiert werden? Wieso wird nicht einmal die nun tatsächlich strukturell an antisemitische Topoi erinnernde Personalisierung der Virusgefahr auf die Ungeimpften als Sündenböcke der Pandemie erwähnt, wie sie durch den politisch-medialen Komplex, das klassische Brunnenvergifter-Motiv bedienend, in die Welt gesetzt wurde? Wieso gerade in Deutschland und Österreich dermaßen autoritär und aggressiv re(a)giert wurde, wieso fast nur hier ein volksgemeinschaftlich protegierter staatlicher Impfzwang ins Haus stand, auch das ist solcherart kritischer Antisemitismusforschung scheinbar nicht einmal am Rande eine Notiz wert.

Einer kritischen Antisemitismusforschung – was in die Abgründe progressiver Sozialforschung führt –, die nicht zwischen einer verschwörungsmythologie- und antisemitismusanfälligen Massenbildung auf der einen und eliminatorischem Antisemitismus auf der anderen Seite unterscheiden kann, ist, um es deutlich zu machen, jede Urteilskraft abzusprechen. Man mag darüber streiten können, ob pathologische Gestalten mit einem „Impf-Judenstern“ Ausdruck eines verschrobenen, den Holocaust relativierenden Philosemitismus oder doch eher eines verqueren Opfer-Antisemitismus sind. Worüber man jedoch keineswegs streiten kann, ist die Tatsache, dass zu keinem Zeitpunkt von der Maßnahmenkritik – egal, wie hoch der Anteil von Antisemiten dort wirklich war – Gefahr für Juden ausging, die im Übrigen aus guten Gründen in Israel selbst massenhaft auf die Straßen gingen. Ganz anders verhält es sich mit dem islamischen Antisemitismus, dessen eliminatorische Fraktion mittlerweile immer offener agiert und somit tatsächlich eine konkrete Gefahr für jüdisches Leben im Westen darstellt. Für diese interessieren sich weite Teile der etablierten Antisemitismusforschung immer noch nicht. Stattdessen pocht sie im Stil einer veralteten antideutschen Kritik darauf, ja nicht den sekundären Antisemitismus der Deutschen zu vergessen, die in ewiger Schuldabwehr den ihrigen Antisemitismus rassistisch-antimuslimisch auf die Migranten projizieren. Sicher gibt es nach wie vor sekundären Antisemitismus und Schuldabwehr. Aber auch von diesen geht nicht im Geringsten eine vergleichbare Gefahr für Juden aus wie vom eliminatorischen Antisemitismus, den selbst die progressive Sozialforschung für Deutsche nahezu nicht mehr nachweisen kann, um zugleich für seine Verbreitung in migrantisch-muslimischen Milieus (forschungs-)politisch motiviertes Desinteresse an den Tag zu legen.

Paradigmatisch stehen hierfür die Leipziger Autoritarismusstudien, ein Flakschiff progressiver Sozialforschung, die anachronistisch auf der Jagd nach dem rechten autoritären Charakter sind, als würde man sich heute immer noch in der Post-Wende-Zeit der frühen 1990er bewegen. Realitätsverlust und sozialwissenschaftliche Wirklichkeitskonstruktion gehen hierbei Hand in Hand. Zum einen werden die Augen konsequent vor dem ubiquitären Autoritarismus und Konformismus der progressiven Milieus verschlossen, was sich auch darin widerspiegelt, dass die ideologischen Selbstbeschreibungen der Gegenwartsgesellschaft vom Demokratie- bis zum Klimanarrativ frei von jeder kritischen Reflexion von den Autoritarismusforschern tradiert werden. Dass man gerade in diesen Milieus vom progressiven Straßenaktivisten bis zum Suhrkamp-Autor die liberale Demokratie und den Rechtsstaat zunehmend unter (Klima-)Notstands-Vorbehalt stellt, ohne den sich derzeit endgültig zum autoritären Regierungsinstrument entgrenzenden Verfassungsschutz auf den Plan zu rufen, sei nur genauso nebenbei angemerkt wie die Tatsache, dass das gesamte Studiendesign solcherart autoritäre Entwicklungen überhaupt nicht zu erfassen vermag, kommen diese doch offensichtlich nicht von rechts. Bis auf die Ausnahme, dass die Autoren tatsächlich so etwas wie einen autoritären Geimpften ausmachen konnten (vgl. Decker u.a. 2022: 91 ff.), was zumindest einen Vorschein davon erkennen lässt, wie viel komplexer die Gemengelage des Autoritarismus tatsächlich ist, versteht es sich quasi von selbst, dass die gesamte Studie das ganze Register der progressiven Ideologen unhinterfragt nachbetet.

Die Inflationierung des progressiven „Nazi-Labellings“ Andersdenkender, mithin die geschichtsrevisionistische Relativierung des Nationalsozialismus im Kampf gegen rechts, wird genauso wenig unter die sozialwissenschaftliche Lupe genommen wie das „Corona-, Klima- und Wissenschaftsleugner“-Etikett, welches offensichtlich ein Framing des politischen Gegners mittels einer Sekundärverwertung des Holocaustleugners darstellt. Zum anderen – wie sollte es auch anders sein – bleiben einmal mehr jene migrantisch-muslimischen Communities von jeder wissenschaftlichen Aufklärung unbehelligt, in denen man am ehesten massenweise tatsächlich noch jenen alten autoritären Charakter samt offenem (nicht irgendwie verdruckst sekundären) Antisemitismus finden würde, den man bei der Rechten-Phantomjagd zur Strecke zu bringen versucht, was immer weniger gelingt. Zu einem Zeitpunkt, wo ganz Deutschland vor der rechten Gefahr bibbert, kann die letzte Leipziger Autoritarismusstudie, hierzu völlig konträr stehend, einen historischen Niedrigstand der Verbreitung des geschlossen rechtsextremen Weltbilds vermelden, der nur noch bei 2,7 % liegt (vgl. 53). Dieses spiegelt sich auch darin wider, dass manifest rechtsextremer und nicht bloß sekundärer Antisemitismus immer schwerer nachzuweisen ist (vgl. 48). Dementsprechend bedient man sich der Methode, mittels fragwürdiger Items, deren ideologische Schlagseite offensichtlich ist, und durch die Ausweitung der Gefahr von rechts mittels ebenso fragwürdiger Konstruktionen eines rechtspopulistischen Typus doch noch zu den politisch gewünschten Ergebnissen zu kommen.

Das lässt sich auch an der Langzeitstudie des sog. Thüringen-Monitors studieren (vgl. Reiser u.a. 2023). Zwischen Ansätzen von realistischer Einschätzung der politischen Machtverhältnisse sowie einer wohl nicht per se unbegründeten Skepsis gegenüber der politischen Klasse auf der einen Seite und populistischer Polemik und regressiver Entdifferenzierung auf der anderen Seite wird auch dort nicht unterschieden. Die demokratie-idealistische Selbstdarstellung der Politik und ihres Personals wird von der Sozialforschung schlicht abermals als unhinterfragbare objektive Realität und Wahrheit über diese vorausgesetzt, womit jede Kritik nur noch als populistisch abgebucht und dementsprechend denunziert werden kann. Die progressive, sich gegenseitig deckende und begründende Sozialforschung substituiert offensichtlich längst die Erforschung der Realität mittels einer selbstreferentiellen Konstruktion von politisch genehmer Wirklichkeit, die durch die mediale Verbreitung der zumeist auch noch selektiv rezipierten Sozialforschung an meinungsbildendem Gewicht gewinnt. Dass Letzteres geschieht, dürfte mittlerweile die primäre Funktion der progressiven Sozialforschung sein. Wäre dem nicht so, läge es doch auf der Hand, explizit Muslimen bzgl. Demokratie- und Ungläubigenfeindlichkeit, Antisemitismus, Geschlechtersegregation und autoritärem Traditionalismus auf den Zahn zu fühlen – und diese nicht den rechten Populisten als willkommenes Geschenk zu überlassen, denen es so überaus leicht gemacht wird, die von der progressiven Ideologie verdrängte Realität für sich politisch auszuschlachten.

Wie ubiquitär verbreitet das ideologische Vorgehen progressiver Sozialwissenschaften ist und die angeführten Beispiele keine Ausnahmen darstellen, belegt auch der sog. Corona-Aufarbeitungsbericht in Österreich. Dass Sozialwissenschaften, die auf das engste mit dem Staat institutionell verbunden sind, keine Herrschafts- oder Systemkritik liefern, verwundert nicht. Dass sie allerdings derart unseriös vorgehen, dass man es mit offener Ideologieproduktion im Namen der Wissenschaft zu tun hat, ist dann doch immer wieder aufs Neue erschreckend. Wie Bohnstingl/Obermayr (2024) zeigen, basiert der österreichische Aufarbeitungsbericht zum einen auf Item-Konstruktionen, deren theoretische Vorannahmen ebenso hanebüchen sind, wie sie den geistigen Zustand der progressiven Sozialwissenschaften dokumentieren, der sich gleichermaßen autoritär wie affirmativ-ideologisch zu erkennen gibt. Zum anderen zeigt auch der Corona-Aufarbeitungsbericht, dass es nicht um handwerkliche Fehler geht. Die gesamte Forschung ist systematisch an ihren Fundamenten ideologisch grundiert. Die progressive Sozialforschung basiert auf einer einzigen gigantischen Petitio principii: Weil dogmatisch vorausgesetzt wird, dass „die“ Demokratie einwandfrei funktioniert und das faktische Regierungshandeln eins mit ihrem normativen Selbstverständnis ist, kann es überhaupt keine rationalen Anlässe zur Kritik geben und können diese nur von pathologischen Demokratiefeinden und Verschwörungsgläubigen stammen, die von außen her, aus dem Reich des Bösen, sich an die Zersetzung der demokratischen Ordnung machen. Damit ist ein perfektes Wahnsystem konstruiert, dass jegliche Kritik pathologisieren muss, da sie a priori überhaupt keinen rationalen Anlass haben kann.

Die Frage, die sich damit allerdings stellt, ist, ob hier bewusst Meinungen in regierungsaffirmativer Funktion mittels wissenschaftlicher Autorität geframt werden sollen – oder, ob die verantwortlichen Wissenschaftler tatsächlich ihre eigene Ideologie glauben und somit auch ihre Opfer werden. Zum Verständnis der Coronaproteste und anderer dem Progressiven nicht genehmen politischen Bewegungen trägt das ganze Unternehmen überhaupt nichts bei, da vorab die Ergebnisse der Forschung feststehen, was dazu dient, dass die Herrschaft sich ihre Legitimität, die in der Einheit von Vernunft und Wirklichkeit besteht, am Ende mittels Wissenschaft selbst bestätigt. Sollte man doch eigentlich meinen, dass empirische Forschung dazu diene, Theorien mit der Wirklichkeit abzugleichen, wird man stattdessen darüber belehrt, wie stark die empirische Forschung und ihre Validität von der begrifflich-theoretischen Vorarbeit abhängen und empirische Forschung nicht die soziale Wirklichkeit im Sinne einer einfachen Auffindung des Faktischen abbildet. Dass es keine sozialwissenschaftlichen Daten ohne Theorie und Interpretation gibt, ist keine neue Erkenntnis und spricht an sich auch nicht im Geringsten gegen empirische Forschung. Der theoretisch-konstruktive Anteil in der empirischen Forschung verkehrt sich bei den progressiven Wissenschaftlern jedoch dahingehend, dass mittels ihrer begrifflichen Konstruktionen eine vermeintlich empirische Wirklichkeit generiert wird, die genau das bestätigt, was die Theorie bereits in sie hineingelegt hat.

Hierbei handelt es sich nicht um die plumpe Fälschung von Statistiken und Aussagen durch die Wissenschaften. Es geht vielmehr um die Schaffung von Daten, die sich als objektive Wiedergabe von Faktizität ausgibt, auf die sich dann die „Checker“ berufen, durch Ideologie, die sich in Forschung übersetzt, welche diese Faktizität überhaupt erst produziert. Es wird also nicht gelogen, gefälscht und manipuliert, um an jene Daten zu kommen, die politisch gewünscht sind. Das Bewusstsein der progressiven Sozialwissenschaft ist vielmehr bereits derart ideologisch abgedichtet, dass es gar nicht mehr bemerkt, inwiefern die produzierten Daten nicht die Wirklichkeit erfassen, sondern diese lediglich ihre ideologische Interpretation im Mantel wissenschaftlicher Objektivität darstellt, die vor allem durch die Magie der Zahlen der Statistik generiert wird: Schau mal einer her, 50 % sind Rechtspopulisten, also tendenziell Nazis, die die Demokratie bedrohen, auch wenn unter solche einfach mal kurz unisono all jene rubriziert werden müssen, die ein begründetes Misstrauen in die Regierung und die politische Klasse haben, was natürlich nur Ausdruck genereller Demokratiefeindlichkeit und Verschwörungsglaube sein kann, die wahnhaft über die längst existierende Ordnung des Guten, Wahren und Schönen herfallen. Wer nach aller demokratiefördernden Aufklärung immer noch glaubt, dass etwas faul sein könnte im Staate Dänemark, ist bestenfalls immer noch nicht gut genug informiert und geht daher naiv den bösen Mächten der Desinformation auf den Leim oder ist schlicht ein pathologischer Fall eines demokratiezersetzenden Elements, das es mit allen Mitteln der Denunziation kleinzumachen gilt. Wie man es auch dreht und wendet, progressive Sozialwissenschaft betreibt keine kritische Aufklärung. Sie ist ein Produzent von affirmativem Herrschaftswissen und Legitimationsideologie, der bisweilen derart plump vorgeht, dass man mit einer gewissen Fassungslosigkeit zurückgelassen würde, wäre man nicht längst an das Ausmaß an ideologischem Wahn gewöhnt, der genau in jenen Kreisen vorherrscht, die diesen unentwegt ihren psycho-pathologisierten politischen Gegnern unterstellen.

Um abschließend noch einmal auf den Antisemitismus zurückzukommen: Jedes Promille offenen Antisemitismus ist fraglos genauso eines zu viel, wie sekundärer Antisemitismus und traditioneller deutscher/westlicher Antisemitismus nicht erst reimportiert werden mussten. Jene Formen des Antisemitismus zu kritisieren, versteht sich ebenso von selbst, wie es eigentlich zugleich die Erkenntnis sein sollte, dass in der Gegenwart dennoch nicht von ihnen die primäre Gefahr für Juden ausgeht. Letzteres ist allerdings aus systematischen wie skandalösen Gründen nicht der Fall. Aufgrund des dogmatisch gesetzten demokratisch-antirassistischen Standpunktes können die affirmativ und staatstragend gewordene Kritische Theorie und die progressive Sozialforschung aus diesen Tatsachen keinerlei zwingende Schlüsse ziehen. Um ohne Unterlass – wider die eigenen Forschungsergebnisse – die Gefahr von rechts beschwören zu können, muss man einfach den Unterschied von konservativ und faschistisch derart verwischen, dass alles, was nicht der progressiven Ideologie entspricht, als rechtsextrem gebrandmarkt und bekämpft werden kann – ohne dass die wirklich substantielle Gefahr für die liberalen Restbestände im „Westen“ und für das jüdische Leben auch nur erwähnt werden müsste: der ernsthaft rechtsextreme und verfassungsfeindliche islamische Antisemitismus und Okzidentalismus, der sich bis heute auf seine progressiven Steigbügelhalter verlassen kann.

Literatur

Bohnstingl, René/Obermayr, Linda Lilith: Krisenmanagement im Namen der Sozialwissenschaften. Corona-Aufarbeitung in Österreich. In: Streifzüge 2024, Heft 89, S. 25-29.

Burghardt, Daniel: Opferfantasien – Zur Kritik des Antisemitismus in der Querdenken-Bewegung. In: Grigat, Stephan (Hg.): Kritik des Antisemitismus in der Gegenwart. Erscheinungsformen – Theorien – Bekämpfung. Baden-Baden 2023, S. 173-195.

Decker, Oliver, u.a.: Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten. Neue Herausforderungen – alte Zeiten? Gießen 2022.

Gerber, Jan: The End of the World as we know it. Populismus, Faschismus und historische Erfahrung. In: Henkelmann, Katrin, u.a. (Hg.): Konformistische Rebellen. Zur Aktualität des autoritären Charakters, Berlin 2020, S. 213-248.

Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften Bd. 5, 3. Aufl., Frankfurt/M. 2003.

Reiser, Marion, u.a.: Politische Kultur und Arbeitswelt in Zeiten von Polykrise und Fachkräftemangel. Ergebnisse des THÜRINGEN-MONITORS 2023.

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