Ideolotterie – ein Rückblick* und ein Vorschlag

von Ilse Bindseil

Um zeigen zu können, wie man sich gegen rechts wehren kann, müsse ich erst einmal wissen, was links ist – dies ein Bruchstück aus einer Unterhaltung darüber, wie wir mit der „Ideolotterie“, einem Unterstützungsprojekt, einer Art Coaching für Linke in der ideologischen Diaspora, fortfahren könnten. Da das Erstarken nazistischer Milieus samt dem naturwüchsigen Fortleben einer alltäglichen rechten Gesinnung zu Beginn die Marschroute vorgegeben hatte, war links zu sein nicht problematisch gewesen, man musste nur gegen rechts sein. Unsere Aufgabe lag im Bereich der praktischen Ertüchtigung, nicht im theoretischen Bereich. An Momenten wiederkehrender Ohnmacht das Strukturelle zu gewahren, konnte gegen Niederlagen immunisieren und auf künftige Situationen vorbereiten. Schlagfertig zu sein in einem belastenden, häufig genug familiären Milieu, das ließ sich üben. Sich ohne Angst einlassen zu können, war das Ziel.

Die Form der „Ideolotterie“, bei der die problematische Situation in aller Kürze aufgeschrieben und der Zettel in eine Bowl geworfen wurde, aus der einer lotteriemäßig herausgezogen und trotz des Anonymitätsangebots meist mit den je verschiedenen AutorInnen als Hauptperson gemeinschaftlich diskutiert wurde, tat ein Übriges, um die Aura des Undogmatischen, meinetwegen auch Zufälligen, zu stärken. Ideolotterie war kein Antifa-Projekt, obwohl es doch im wörtlichen Sinn genau das war: gegen Faschismus. Um im strengen Sinn antifa zu sein, fehlte es ihm vor allem an Militanz, nicht an persönlicher Entschiedenheit, aber an Eindeutigkeit. Dass es sich nicht nur an den Vorgaben von Kapitalismuskritik und Klassenkampf, sondern auch an der Lebensklugheit eines Schwejk orientierte, machte seinen Reiz aus, aber es machte es natürlich auch angreifbar. Auf eine unerklärte Weise war das Projekt dem Alltag verpflichtet, auf eine komische Art tapfer, gelegentlich ein bisschen peinlich, am allerwenigsten cool. Wenn man es auf der Skala von wahr bis falsch eintragen müsste, dann lag es eindeutig näher an falsch als an wahr. Aber auf der Skala von wirklich und schimärisch war es näher an wirklich – und darum doch eigentlich näher an wahr als an falsch.

Trotz aller Bemühungen, aus den je verschiedenen Situationen zu lernen, machte sich allein schon durch die Dynamik der Wiederholung Erosion bemerkbar. Diese hatte nichts mit der Konjunktur des Rechtsradikalismus zu tun, die das Format aufs Altenteil beförderte, auch nichts mit den für uns altmodische Linke problematischen Verschiebungen, von political zu cultural, die zu einer Entfremdung zwischen uns und unserer Klientel führen konnten. Die Schwachstelle war ein Moment von Unklarheit und Unwahrheit in unserem Projekt. Unserer Uneindeutigkeit von Anfang an beigemengt, war dieses Moment einerseits unser Markenzeichen, andererseits ein störendes Element, das sich aus dem Gewirr der Umstände von Mal zu Mal mehr herausarbeitete. Zwar hatten wir eine handfeste theoretische Orientierung. Aber wie wir sie einbringen sollten, das war uns nicht klar. Es war uns auch nicht so wichtig gewesen. Zwar wollten wir zeigen, wie wir uns in einer Auseinandersetzung behaupten konnten, in der die schweigende Mehrheit, für gewöhnlich eine eher abstrakte Größe, auch ein Milieu, dem wir mit splendid isolation begegneten, uns mit der Naturhaftigkeit des falschen Bewusstseins, zugleich mit der Wirklichkeit der Machtverhältnisse konfrontierte. Dies sollte aber nicht in der Weise geschehen, dass wir unser theoretisches Wissen vor uns hertrugen und den Graben auf diese Weise vertieften. Wahrscheinlich schwante uns schon, dass ein emanzipiertes theoretisches Bewusstsein und die praktische Verwicklung der Lebensverhältnisse sich gegenseitig im Wege stehen konnten. Ja, womöglich war dies der heimliche, der objektive Entstehungsgrund der Ideolotterie, dass sie den gap zwischen dem konkreten Leben und seiner besserwisserischen Erklärung überbrücken und den noch von der gutwilligsten Theorie angerichteten Schaden wiedergutmachen wollte. Das musste nicht unbedingt ein fatales, es konnte auch ein verheißungsvolles Motiv sein, brachte es doch die Forderung nach Selbstreflexion neben der nach purer Selbstbehauptung und damit eine Vermittlungsebene ins Spiel, auf der man sich mit Freund und Feind verständigen konnte.

Was war eigentlich links? Die Frage klingt blöd, aber so, als könnte man sie klären. Ihrer Form nach hätte sie das Zeug, zum Gegenstand einer gemeinschaftlichen Erörterung zu werden, die, an das Verfahren der Ideolotterie angelehnt, ausgerüstet mit Zettel, Stift und Bowl der eigenen Grundlage nachspüren und das totalisierende „Was ist links?“ analog dem pragmatischen „Wie stellen wir uns gegen rechte Sprüche?“ verhandeln würde. Über vermittelnde Fragen, die aus der abstrakten Debatte heraus, in die je konkrete Situation hineinführen würden, könnten wir uns der Leitfrage nähern: Was ist eigentlich links? Solche vermittelnde Fragen könnten lauten: Von „In welchen Situationen wird dir bewusst, dass du links bist?“ bis „In welchen Situationen merkst du, dass du gar nicht weißt, was links ist?“ oder „In welchen Debatten erfährst du dein linkes Bewusstsein als Hemmung, linke Theorie als ein Verständigungshindernis?“ Sie könnten zur Auswahl gestellt werden. (“Zu Frage zwei, zu eins …“, stünde dann zuoberst auf dem Zettel.) Die jeweiligen Antworten könnten einzeln diskutiert oder als das Ergebnis eines gemeinsamen Brainstormings präsentiert werden. Aufs Erlebnis, nicht aufs vorgängige Urteil fixiert, könnten sie helfen, den Gegensatz von abstrakter Frage und konkretem Problem abzumildern und dem dogmatischen Anspruch auf Totalität und Wahrheit so etwas wie ein Grundvertrauen in die eigene, durch ihr schieres Dasein immer schon vermittelte Position entgegenzusetzen.

Indem eine Ahnung sich einstellte, was links ist oder sein könnte, würde zugleich die Lust, es herauszukriegen, befördert und dem informellen Ziel einer „politischen Ich-Stärkung“ damit Rechnung getragen.

* Als Späteinsteigerin in das Projekt kann ich nicht historisch korrekt über Art und Verlauf der Reflexion, die es geschaffen und befördert hat, sondern nur über das berichten, was ich während späterer Veranstaltungen, insbesondere durch die Vorarbeit und Nachbereitung, gelernt habe. Für eigene Information siehe:

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