Fukushima – ein Naturereignis?

Über das schlichte Bedürfnis nach Verleugnung

von Ilse Bindseil

Jahre nach der Atomkatastrophe in Fukushima, aber nicht so viele Jahre, wie es jetzt her ist, äußerte eine Frau, die drauf und dran war, in den kontaminierten Bezirk zurückzukehren, in einer Reportage so etwas wie: dass sie ihr Leben am gewohnten Ort wiederaufnehmen wolle. Sie glaubte den Unbedenklichkeitserklärungen der Regierung, die sich auf Experten stützten, oder vielmehr sie war so wenig interessiert, daran nicht zu glauben, wie die Schuldfrage zu klären, gar deren positive Beantwortung sich zunutze zu machen. Ich gebe zu, dass ich mich an Einzelheiten ihrer Stellungnahme, die ihr ohnehin eher abgenötigt wurde, als dass sie sie bereitwillig gab, und die sie mit Sicherheit knapper hielt, als ich sie wiedergebe, nicht mehr genau erinnere. Sicher bin ich mir, dass ich die Frau beneidete, ersparte sie sich doch die Vorkehrungen und Ängste, die mir fünfundzwanzig Jahre früher, im Anschluss an die Katastrophe von Tschernobyl, als meine Kinder klein waren und die Verantwortung groß war, das Leben schwer gemacht hatten. Sie verteidigte ihren Alltag gegen Eingriffe, die sie als willkürlich empfand, weil sie den Rahmen des Gewohnten sprengten. Es ging ihr nicht darum, dass sie zum Beispiel zu essen hatte, sondern dass sie ihr Leben in gewohnter Weise führen konnte. Es wäre nicht uninteressant zu überlegen, ob Willkür im Kontext abendländischer Aufklärung nicht genau das Gegenteil meint, nämlich den sich über alle mögliche Form hinwegsetzenden unmittelbaren Zugriff aufs Leben.

Dass die Frau womöglich ihr Leben riskierte, dieses Argument, ich will nicht sagen, zählte für sie nicht, aber es kam nicht zum Tragen. Sie setzte auf ein unbeschädigtes Leben jetzt. Nach hiesiger Logik: Für ihre Gegenwart bezahlte sie mit ihrer Zukunft. Das lohnte sich für sie, weil sie mehr im „Ist“ als im „Wird“ und überhaupt nicht in der Welt der Vorstellungen lebte, in der die schlimmsten Bedrohungen unsichtbar und Ängste bekanntlich schlimmer als Tatsachen sind. Was das Sein dieser merkwürdigen Frau betrifft, bin ich auf Vermutungen angewiesen, aber ich denke, es funktioniert nur, wenn die Beziehung zwischen dem Leben und seiner Form innig ist.

Noch weniger als die möglichen Gefahren zählten für sie die Fragen von Verantwortung und Schuld. Jener Bereich, den wir Hiesigen, indem wir vor Gericht ziehen, zum Schauplatz unserer Handlungen und zum Mittelpunkt unseres Lebens zu machen pflegen, existierte für sie nicht. Vor die Alternative gestellt, die Katastrophe auf das Konto des Tsunamis und seiner Naturkräfte oder auf das des Reaktors und seiner Profiteure zu setzen, hätte sie sich für das erstere entschieden; ich sage „hätte“, denn allein schon den Entscheidungsspielraum zu gewahren wäre nicht ihr Ding gewesen. So wurde sie dem Gegenstand zwar nicht gerecht. Aber sie ersparte sich den Umzug in die Welt der angenommenen Tatsachen, jene Welt, in der „gesetzt den Fall, heißt, nehmen wir mal an“. (Siehe Robert Gernhardt, „Gesetzt den Fall, ihr habt ein Schaf gekränkt.“ Aus: Robert Gernhardt: Ich höre was, was du nicht siehst, 1975 Insel Verlag, © Robert Gernhardt) In ihr ereignet sich die Welt im „Wenn“ und „Dann“ des Bedingungsgefüges, idealerweise im Irrealis, im „Was wäre gewesen wenn“, das das Geschehen an die Bedingung seiner Möglichkeit bindet, statt an seine Tatsächlichkeit an seine Wahrheit.

Ich muss zugeben, ich beneidete die Frau, die die Gesellschaft in ein Verhältnis zur Natur und sich in ein Naturverhältnis zur Gesellschaft setzte. Sie war der Gesellschaft so viel näher als ich, die ich ihr nie wirklich nah sein würde. Sie war auf eine ursprüngliche Weise gesellschaftlich und konnte es darum nicht in einer abgeleiteten Weise sein. Aber was war, wenn Quecksilber die Fische vergiftete? Dann, sagte ich mir, wurde es nach Art der Naturkatastrophen bekämpft. Ohne zu murren, denn die Natur ernährte einen und brachte einen um. Wenn aber der Schaden die Natur an ihre Grenze brachte? Dann bestätigte sich einmal mehr, dass die Gesellschaft die natürliche Umgebung des Menschen war. Um im Kalauer zu bleiben: Ohne zu murren und so, wie wir es aus den Samurai-Filmen kennen, musste sie bekämpft werden.

Ich sagte mir: Die Frau hat keine Ahnung von den kapitalistischen Verhältnissen, aber auf ihre Weise trägt sie ihrer Ahnungslosigkeit Rechnung: indem sie sie ignoriert. Dadurch dass sie nach Fukushima zurückgeht, zeigt sie, dass sie entschlossen ist, mit den Risiken des Kapitalismus so zu leben, wie sie gewohnt ist, mit den Risiken der Natur zu leben. Die exponentielle Natur des Kapitalismus mag ihr auf diese Weise entgehen, in hiesiger Betrachtung: seine Fähigkeit, das Graduelle der Natur zu sprengen. Wenigstens verfängt sie sich nicht in den fruchtlosen Versuchen, im Unterschied zur kapitalistischen eine natürliche Natur auszumachen, die nicht immer bloß das gestrige gesellschaftliche Verhältnis meint.

Übrigens verkörpert die Havarie in Fukushima jenen Typus von Katastrophe, der wie eigens dazu eingerichtet scheint, die Identität gesellschaftlicher Selbstentfaltung und Zerstörung, leider auch das Gefangensein aller unserer Betrachtungen ins Licht zu rücken, drückt sich im Drama von „fast“ und „beinahe“ doch nicht nur die bekannte Lust am Untergang, sondern, als Relikt der Allmacht des Gedankens, auch das schlichte Bedürfnis nach Verleugnung aus, der Wunsch, etwas möchte nicht wahr sein. Es ist diese Überzeugung von der Reversibilität allen Geschehens, die uns Hiesige gegenüber der Bewohnerin von Fukushima recht eigentlich ins Hintertreffen bringt.

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