von Lorenz Glatz
Die Blütezeit des Kapitalismus ist auch in Europa schon über ein halbes Jahrhundert vorbei. Sein Bündnis mit Patriarchat und diversen religiös-ideologisch fundierten Herrschaftsformen besteht aber fort. Angesichts des mageren bzw. negativen „Wirtschaftswachstums“ greift das Kapital auf den erkämpften bzw. zugestandenen Konsumstandard der Massen zu. Die „Brauchbarkeit“ der Menschen für den Zweck der Geldvermehrung des Kapitals nimmt ab. Die Konkurrenz verschärft sich, von den Individuen angefangen bis zu den Konzernen und Staaten. Der ökonomische und militärische Zugriff der großen Mächte destabilisiert schwache Staaten des Trikonts, von denen nicht wenige in interne Kriege versinken, ja die Welt gerät durch das Bemühen der USA und ihrer Verbündeten, nach dem Untergang der Sowjetunion auch noch deren Kern Russland maximal zu schwächen, in die Gefahr eines Weltkriegs. Dazu mehren sich die ökologischen Katastrophen, die das Fortbestehen der herrschenden lebensfeindlichen Un-ordnung der uns aufgeherrschten und weithin akzeptierten Lebensweise auf dem Planeten in rascher Folge heraufbeschwört.
Die Folge aller dieser Vorgänge und Zustände sind für Millionen Menschen früher Tod, Verarmung, Vertreibung und Flucht. 120 Millionen weltweit war im letzten Mai nach Schätzungen der UNHCR die Zahl der Kinder, Frauen und Männer, die ihr Zuhause verloren hatten1, und ihre Zahl steigt weiter. Entgegen dem von den hiesigen Medien vermittelten Eindruck erreicht weniger als ein Viertel der Flüchtlingsmassen die reichen Länder Europas und Nordamerikas. Die weitaus größere Zahl fristet in anderen Teilen ihres Landes oder in Nachbarländern ein meist äußerst prekäres Leben. Für die politische Rechte in den reichen Ländern ist die geschürte Angst vor den „Fremden“ jedoch ein Treibsatz ihres politischen Aufstiegs.
In Österreich ist die rechtsextreme FPÖ mit der xenophoben und fremdenfeindlichen Losung „Festung Europa und Remigration!“ zur EU-Wahl angetreten und wie bei den dann folgenden Nationalratswahlen zur stimmenstärksten Partei aufgestiegen. Mit den Regierungsparteien Lega in Italien und Fidesz in Ungarn, mit der ebenfalls seit der letzten Parlamentswahl stimmenstärksten niederländischen Volkspartij voor Vrijheid, dem überlegenen Sieger bei der Europawahl in Frankreich, dem Rassemblement National, und zehn weiteren Parteien bildet die FPÖ nunmehr im EU-Parlament die neue und drittstärkste Fraktion „Patrioten für Europa“.
Nach Österreich haben sich im Vorjahr 30.000 Menschen aus Syrien und Afghanistan, zusammen etwa 70 Prozent aller hiesigen Asylwerber, durchgeschlagen2. Am Beispiel dieser beiden Länder im Folgenden einige Worte zu den Gründen, aus diesen Ländern zu fliehen, Gründe, die in großem Maße auch in vielen anderen Gebieten der Welt in ähnlicher Weise zutreffen.
Die Menschen in Afghanistan lebten seit 1979 zehn Jahre in Kriegen diverser von den USA unterstützten islamistischen Gruppen gegen das Militär der Regierung und die zu ihrer Unterstützung einmarschierten sowjetischen Truppen. Nach deren Misserfolg und Abzug gingen die Kämpfe der Islamisten gegeneinander weiter, in denen sich die Taliban als stärkste Gruppe herausbildeten3. Nach dem Anschlag der al-Qaida von 9/11 2001 in New York, in den am Rand auch die Taliban verwickelt waren, überfielen Truppen der USA und ihrer Verbündeten das Land. Nach weiteren zwanzig Jahren Blutvergießen und Verwüstung konnten die Taliban ihre patriarchal-islamistische Herrschaft im zerstörten Land erneut errichten. Im Ganzen sind in den von den USA nach 9/11 geführten Kriegen „über 900.000 Menschen in direkter Folge von Kriegshandlungen gestorben. Mit indirekten Kriegsopfern durch Hunger und Krankheiten würde die Zahl wohl über vier Millionen betragen.“ 4
In Syrien gab es 2011 im Zuge des „arabischen Frühlings“ regierungsfeindliche Demonstrationen, die niedergeschlagen wurden. Von den USA finanzierte und ausgerüstete Aufständische trafen auf eine von Russland gestützte Regierung, die im syrischen Tartus einen Marinestützpunkt hatte (heute der einzige Russlands am Mittelmeer). Unter den Aufständischen wurde zunächst zur stärksten und radikalsten Kraft der „Islamische Staat“, der jedoch von den Milizen der verschiedenen Ethnien und Religionen, die sich im Norden des Landes zusammengeschlossen hatten, besiegt wurde. Deren mit erstaunlichem Erfolg selbstverwaltetes Gebiet Rojava wurde aber vom NATO-Staat Türkei immer wieder angegriffen; derzeit (November 24) sind 80.000 Mann türkische Truppen an der Grenze von Rojava (Nordsyrien) zusammengezogen. Bis 2021 gab es in Syrien 600.000 Kriegstote, weit über 12 Millionen Menschen, mehr als die Hälfte der Bevölkerung, sind auf der Flucht: 6,6 Millionen innerhalb des Landes, 5,6 Millionen in den Nachbarländern5,nach Europa schaffte es nur ein kleiner Teil.
Inzwischen aber ist die Ukraine mit dem Kurs ihrer Regierung auf einen Anschluss an NATO und EU zum Stellvertreter und Kanonenfutter des versammelten Westens gegen den russischen Angriff geworden. In der Ukraine lebten bei der ökonomischen Niederlage und dem Zerfall der Sowjetunion und ihres Militärblocks 1992 fast 52 Millionen Menschen. Bis zum Kriegsbeginn Anfang 2022 hatten bereits 10 Millionen BewohnerInnen auf der Suche nach einem besseren Leben das Land verlassen. Derzeit (Oktober 2024) sind in der EU 4,2 Millionen (davon 83.000 in Österreich) ukrainische Flüchtlinge registriert, 5,7 Millionen haben in anderen Landesteilen Zuflucht gesucht6, während ihr Zuhause zum Kriegsschauplatz zwischen Russland und der vom Westen hochgerüsteten Ukraine geworden ist.
Die Grundlage des politischen Umgangs mit diesen massenhaften Fluchtbewegungen ist einerseits Wegschauen bis zur kalten Leugung der tieferen Gründe, andererseits im Fall der Ukraine die Nutzung für Kriegspropaganda. Daraus ergibt sich in der „Flüchtlingsfrage“ eine befristete Duldung von Ukrainern und für alle übrigen eine Zug um Zug verschärfte Politik mit dem Vorwurf, die Flüchtlinge wollten doch bloß „in unser Sozialsystem einwandern“, sowie ein Auf- und Ausbau des militärischen „Grenzschutzes“, der polizeilichen Verfolgung der „Illegalen“, der massenhaften Aussperrung oder Abschiebung derer, die man „nicht brauchen“ kann, und das Schüren einer menschenfeindlichen Stimmung bei den „Einheimischen“.
Organisiert wird diese Politik jedoch nicht nur von den rechtsextremen Parteien. Die regierenden Parteien Polens und Finnlands, die beide Flüchtlinge an den Grenzen abweisen lassen, gehören im Europaparlament wie die ÖVP zur Europäischen Volkspartei, die Schwester der FPÖ, die ungarische Fidesz, hat, seitdem sie die Regierung stellt, einen Weg von liberal nach rechtsextrem beschritten, und angesichts der anstehenden Parlamentswahlen „setzen die dänischen Sozialdemokraten auf eine radikale und restriktive Einwanderungspolitik“7. Und „eines der Länder, das auf möglichst scharfe Regelungen drängt, ist Österreich“8 trotz der Grünen in der Regierung. Da werden über das oben Aufgezählte hinaus z.B. Asylverfahren außerhalb der EU und EU-Geld für „Zäune und Mauern“ an Außengrenzen verlangt.
1 https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/informieren/fluechtlingszahlen
2 https://www.integrationsfonds.at/newsbeitrag/statistisches-jahrbuch-migration-integration-ueber-27-prozent-der-bevoelkerung-in-oesterreich-mit-migrationshintergrund-20991/
3 https://www.tagesschau.de/ausland/asien/taliban-alkaida-is-101.html
4 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1391736/umfrage/anzahl-der-kriegstoten-durch-us-kriege-und-den-krieg-gegen-den-terror-seit-2001/
5 https://www.bmz.de/resource/blob/63632/210329-bmz-faktenblatt-syrienkrise.pdf
6https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1356654/umfrage/anzahl-ukrainischer-fluechtlinge-in-den-eu-staaten/
7 https://www.fes.de/medienpolitik/artikelseite/restriktiv-kontrovers-neue-sozialdemokratische-migrationspolitik-in-daenemark
8 https://www.tagesschau.de/ausland/europa/oesterreich-eu-migration-100.html