„Nichts ist besser geeignet, unsre Sicht
auf soziale Zusammenhänge zu verschleiern,
als das ökonomistische Vorurteil.“
(Polanyi)
von Franz Schandl
Selten hat mich eine Lektüre so angespornt, aber auch so ambivalent, ja ratlos zurückgelassen wie die Schriften des Wirtschaftshistorikers und Sozialanthropolgen Karl Polanyi (1886–1964). Die große Leistung des Buches „The Great Transformation“ (1944) besteht in der strikten und konsequenten Historisierung der Marktwirtschaft. Mit aller notwendigen Redundanz geht unser Autor da vor. Niemand hat eine ähnlich dezidierte wie insistierende Absage auf den Markt und die zu Recht nach ihm benannte Wirtschaft formuliert wie Karl Polanyi.
Historisierung statt Projektion
„Der Wirtschaftsliberalismus war in dem Irrtum befangen, dass seine Praktiken und Methoden die natürliche Konsequenz eines allgemeinen Gesetzes des Fortschritts seien. Um sie diesem Muster anzupassen, wurden die dem selbstregulierenden Markt zugrunde liegenden Prinzipien auf die gesamte Geschichte der menschlichen Zivilisation rückprojiziert.“ (T 365) Das ist freilich mehr als ein Irrtum, es ist notwendig falsches Bewusstsein, eine ideologische Glanzleistung, die voll auf der Linie marktkonformer Interessen liegt, diese weltanschaulich unterfüttert. Da man die Zukunft so dachte wie die Gegenwart, musste schon die Vergangenheit so gewesen sein. So heißt es bei George Orwell: „Wer die Vergangenheit kontrolliert, der kontrolliert die Zukunft; wer die Gegenwart kontrolliert, der kontrolliert die Vergangenheit.“ (1984, Ullstein 1976, S. 228)
Soziale Setzung hat jedenfalls als Natur zu erscheinen. Indes sie wird nicht bewusst aktiviert, sie passiert vielmehr in aller Vehemenz. Niemand hat sie ausgeheckt, trotzdem oder vielleicht gerade deswegen entwickelt sie eine immense Kraft, da sie sich direkt aus den Gegebenheiten speist. Ihre Wucht schafft Fakten. Wie wollen wir auch das, was täglich durch unser Tun geschieht, was wir ständig betreiben, anders als natürlich auffassen? Das Falsche drängt sich in seiner Unmittelbarkeit als unbedingt notwendig auf. Seine Bestätigung ist Folge unserer Betätigung. Und diese ist permanenten Charakters, strukturell, erscheint uns nicht als aufgeherrscht, sondern als faktisch und somit unhintergehbar. Anpassung ist unausweichlich. Die Erfahrung, sie sagt uns nichts anderes, als dass das, was ist, auch zu sein hat. Der schlichte Beweis liegt in unserer täglichen Reproduktion. Der gesunde Menschenverstand als Übereinstimmung mit dem Schein der Welt, ist der mächtige Partner solcher Deklamation.
Natürlich ist nichts natürlich, alles Soziale, insbesondere jede herrschaftliche Konstitution will als quasi natürlich erscheinen, und daher propagiert sie sich auch so. Unser Ökonomie-Begriff ist ein Kind seiner Zeit, der Epoche des Kapitalismus. „Der uns überkommene ökonomische Rationalismus betrachtet eine gewisse Form des Handelns als ökonomisch sui generis.“ (Ö 186) Wir haben es hier mit einer „sekulären Religion“ (T 192) zu tun. „Erst in den Dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts brach der Wirtschaftsliberalismus mit dem Eifer eines Kreuzzuges aus, und Laissez-faire wurde zu einem geradezu militanten Glaubensbekenntnis.“ (T 189) „Nichts ist besser geeignet, unsre Sicht auf soziale Zusammenhänge zu verschleiern, als das ökonomistische Vorurteil.“ (T 219) „Allerdings, unter dem Einfluss heutiger Denkschulen und verstärkt durch die Autorität von Wissenschaft und Religion, von Politik und Geschäft, ist es so weit gekommen, dass diese ausschließlich zeitgebundenen Erscheinungen als zeitlos und das Marktzeitalter überdauernd angesehen werden. Die Überwindung einer solchen Doktrin, die unseren Geist und unsere Seele einschränkt, und die Schwierigkeit der lebensrettenden Anpassung vergrößert, erfordert nichts weniger als eine Veränderung unseres Bewusstseins.“ (Ö 131)
„Hinsichtlich der Vergangenheit ist eine solche Auffassung nur noch anachronistisch, hinsichtlich der Zukunft ein Vorurteil“ (Ö 131), so Polanyi. „Den vereinzelten Wilden, der nur für sich selbst oder für seine Familie Nahrung sammelte und auf die Jagd ging, hat es nie gegeben. Die Gewohnheit, sich um die Bedürfnisse des eigenen Haushalts zu kümmern, wird vielmehr erst auf einem weiter fortgeschrittenen Niveau der Landwirtschaft zu einem Merkmal des Wirtschaftslebens; aber selbst dann hat sie weder mit dem Gewinnstreben noch mit der Institution der Märkte etwas gemein. Das Modell lieferte hier die in sich geschlossene Gruppe.“ (T 84) Für vorkapitalistische Gesellschaften gilt laut unserem Autor folgendes: „In diesem einen negativen Punkt sind sich die modernen Ethnographen einig: dem Fehlen des Gewinnstrebens, dem Fehlen des Prinzips von Arbeit gegen Entlohnung, dem Fehlen des Prinzips des geringsten Aufwands und insbesondere dem Fehlen jeglicher separaten und spezifischen, auf wirtschaftlichen Motivationen beruhenden Institution.“ (T 76-77) Er zitiert unzählige Beispiele (vgl. T 361). „In einer solchen Gemeinschaft ist der Profitgedanke ausgeschlossen, Schachern und Feilschen sind verpönt, großzügiges Geben wird als Tugend betrachtet, die angebliche Neigung zu Tausch, Tauschhandel und Tauschgeschäften tritt nicht in Erscheinung.“ (T 79) „Nicht die Tendenz zum Tauschhandel ist hier vorherrschend, sondern die Reziprozität sozialen Verhaltens.“ (T 81)
Markt und Märkte
Für den Kapitalismus gilt hingegen: „Das Motiv des Lebensunterhalts muss durch das Motiv des Gewinns ersetzt werden. Alle Transaktionen werden in Geldtransaktionen verwandelt, und diese erfordern ihrerseits die Einführung eines Zahlungsmittels in sämtlichen Ausdrucksformen des produktiven Lebens. Jegliches Einkommen muss somit vom Verkauf von irgendetwas herrühren.“ (T 70) Wo das Kaufen Pflicht wird, ist das Verkaufen Bedingung. Et vice versa. Wer nichts zu verkaufen hat, wird auch nichts kaufen können. Man muss etwas zu verkaufen haben, und sei es die eigene Arbeitskraft. Die Transformation jeder Transaktion in eine Geldtransaktion ist kennzeichnend für den Stoffwechsel in der bürgerlichen Gesellschaft. Kauf und Verkauf bedürfen wiederum der Kodifizierung durch den Vertrag. Der Staat formuliert die entsprechenden Gesetze. Er vollzieht nach, aber er gibt ebenso vor, indem er eine kommodifizierte Tendenz in eine legitimierte Konstitution überführt. „Nichts war natürlich an der Praxis des Laissez-faire; freie Märkte wären niemals bloß dadurch entstanden, dass man den Dingen ihren Lauf ließ.“ (T 192)
Polanyi schreibt: „Die maschinelle Produktion in einer kommerziellen Gesellschaft bedeutet letztlich nichts geringeres als die Transformation der natürlichen und menschlichen Substanz der Gesellschaft in Waren.“ (T 70) Die Dinge, die wir herstellen, die Beziehungen, die wir eingehen, sie sollen allesamt als und über Waren bestimmt werden. Sie sind das nicht originär, doch in der Gesellschaft des Marktes haben sie solche zu sein resp. zu werden. Nichts anderes sollte mehr denkbar sein. Das ist die universelle Botschaft von Adam Smith und allen Apologeten des Marktes.
Völlig spiegelverkehrt zu den zahlreichen Apologeten beschreibt Polanyi die Marktwirtschaft oder den Markt schlechthin als Attacke wider die Natur (T 243): „Das extrem Künstliche der Marktwirtschaft wurzelt in der Tatsache, dass darin der Produktionsprozess selbst in Form von Kauf und Verkauf organisiert ist.“ (T 109) Das ist schon eine starke Pointe: Das für uns Natürlichste ist das Künstlichste! Ausdehnung und Durchsetzung der Marktwirtschaft sind ohne Staatseingriffe nicht zu denken. „Der Markt war, im Gegenteil, das Resultat einer bewussten und oft gewaltsamen Intervention von Seiten der Regierung, die der Gesellschaft die Marktorganisation aus nichtökonomischen Gründen aufzwang.“ (T 331) Und er resümiert kühn: Die Marktwirtschaft ist „eine Bedrohung der menschlichen und natürlichen Komponenten der Gesellschaftssubstanz.“ (T 207)
Märkte verweisen auf eine Vielheit, Markt verweist auf eine übergeordnete Einheit derselben. Erst wenn die Märkte nicht nur sporadisch, sondern kontinuierlich zusammengeführt werden, sprechen wir von dem Markt und der Marktwirtschaft. Die Marktform, so Polanyi, ist keine unter vielen, sie beansprucht universalistischen Charakter: „Die Marktform hingegen, die mit einer eigenen, spezifischen Zielsetzung verbunden ist, nämlich Austausch, Tauschhandel, ist imstande, eine spezifische Institution hervorzubringen: den Markt. Dies ist letztlich der Grund, warum die Beherrschung des Wirtschaftssystems durch den Markt von ungeheurer Bedeutung für die Gesamtstruktur der Gesellschaft ist: sie bedeutet nicht weniger als die Behandlung der Gesellschaft als Anhängsel des Marktes. Die Wirtschaft ist nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen sind in das Wirtschaftssystem eingebettet.“ (T 88f.) „Vor unserer Zeit hat es noch nie eine Wirtschaftsform gegeben, die, und sei es auch nur im Prinzip, vom Markt gelenkt worden wäre.“ (T 71) Das „auch der Märkte“ konstituierte noch keinen Markt, geschweige denn einen Weltmarkt. „Eine Marktwirtschaft kann nur in einer Marktgesellschaft existieren.“ (T 106) „Diese Märkte – es sind unzählige – sind untereinander verbunden und bilden einen einzigen großen Markt.“ (T 107)
Der Markt lenkt sodann mehr als sich selbst, er ist zur Superstruktur der Gesellschaft geworden. „Eine Marktwirtschaft ist ein ökonomisches System, das ausschließlich von Märkten kontrolliert, geregelt und gesteuert wird; die Ordnung der Warenproduktion und -distribution wird diesem selbstregulierenden Mechanismus überlassen.“ (T 102) „Marktwirtschaft bedeutet ein selbstregulierendes System von Märkten, etwas genauer ausgedrückt handelt es sich um eine Wirtschaftsform, die einzig und allein von Marktpreisen gesteuert wird. Ein solches System, das imstande ist, das gesamte Wirtschaftsleben ohne äußere Hilfe oder Einmischung zu regeln, darf mit Recht selbstregulierend genannt werden.“ (T 71) „Selbstregulierung bedeutet, dass die gesamte Produktion auf dem Markt zum Verkauf steht und dass alle Einkommen aus diesen Verkäufen entstehen. Dementsprechend gibt es Märkte für alle Wirtschaftsfaktoren, nicht nur für Güter (immer mit Einschluss der Dienstleistungen), sondern auch für Arbeit, Boden und Geld, deren Preise jeweils Warenpreise, Löhne, Bodenrente und Zins genannt werden.“ (T 103) „Die Bezeichnung von Arbeit, Boden und Geld als Waren ist somit völlig fiktiv.“ (T 108) Aber sie ist wirksam.
Im Rahmen der Konvention
Trotzalledem ist die Studie überfokussiert, da sie viel zu vieles einfach ausblendet. Polanyi konzentriert sich auf einen zentralen Punkt, schürft zweifellos Elementares zu Tage, reduziert jedoch die gesamte Sichtung darauf. Wir haben es hier mit einer gebrochenen Radikalität zu tun. Eine, die in Ansätzen brilliert, ohne jedoch Fortsetzung zu finden. In einem eminenten Punkt geht Polanyi über bisherige Erkenntnisse hinaus, aber in anderen Fragen hinkt er ihnen hinterher. Polanyi sollte daher als parzieller, nicht als fundamentaler Kritiker des Kapitalismus betrachtet werden.
Das ist schade, da das Rüstzeug zur kritischen Analyse durchaus vorhanden gewesen wäre. Polanyi ist ein Autor, der sich zwar einen Weg ebnet, ihn dann aber alles andere als konsequent beschreitet. Die Fesseln der bürgerlichen Strukturen und ihrer Ideologie werden an einer bestimmten Stelle gesprengt, um sie an allen anderen Stellen gar nicht erst zu lockern. Er geht also nur in einem Punkt sehr weit, alles andere bewegt sich im Rahmen der Konvention. Die positive Besetzung von Wert und Arbeit, von Plan und Märkten, von Demokratie und Staat, formuliert eine Apologie, die enttäuscht. Die Definition der Arbeit folgt eher dem gesunden Menschenverstand, als dass der Begriff Ausdruck einer intensiveren Reflexion wäre: „Arbeit ist bloß eine andere Bezeichnung für menschliche Tätigkeit, die zum Leben an sich gehört, das seinerseits nicht zum Zwecke des Verkaufs, sondern zu gänzlich anderen Zwecken hervorgebracht wird; auch kann diese Tätigkeit nicht vom restlichen Leben abgetrennt, aufbewahrt oder flüssig gemacht werden.“ (T 107) Dieser naturalistische Arbeitsbegriff ist für die kapitalistische Moderne nicht zulässig. Er ist terminologisch unsauber.
Nichts auch zum Kontext von Wertform und Marktform. Ohne Markt keine Realisierung des Werts, aber ohne Wert keine Setzung des Markts. Diese Zusammengehörigkeit ist ehern, nicht bloß Resultat äußerer Bezüge, die man auch einfach kappen könnte. Der Kapitalismus erscheint bei Polanyi primär als Zirkulationsverhältnis, nicht als Produktionsweise. Das führt dann auch zu zahlreichen Unschärfen, etwa bei der Bestimmung des Gewinns. Der allgemeine Trieb zu Geld zu kommen, ist nicht identisch mit der spezifischen Motivation, aus Geld mehr Geld zu machen, auch wenn zweites oft Folge von erstem ist und auf diesem aufbaut. Das Einkommen der allermeisten Menschen rührt nicht aus dem Profit.
Dass die rigorose Historisierung von Markt und Marktwirtschaft auch auf das ganze bürgerliche Universum zutreffen könnte, diese auf der Hand liegende Erkenntnis scheint Polanyi nicht einmal ansatzweise in den Sinn gekommen zu sein. Das Kapitel 20 über „Demokratie und Marktwirtschaft“ (T 314ff.) ist z.B. äußerst unergiebig und wenig erhellend. Demokratie fungiert abermals als Allzweck-Chiffre, als Generalschlüssel der Emanzipation, nicht als kritische Kategorie bürgerlicher Herrschaft. Demokratie ist nichts anderes als der Markt in der Politik. Diese steht durch Kauf und Verkauf nicht nur via Voting zur Wahl. Das Quorum ist der zu einem Zeitpunkt auf eine bestimmte Periode festgesetzte Preis einer Partei, Liste oder Person.
Schließlich endet der radikale Kritiker des Marktes in einem Bekenntnis zu den Märkten, wo diese nicht mehr sein sollen als „ein nützliches, aber untergeordnetes Element einer freien Gesellschaft“ (T 311). „Auch bedeutet das Ende der Marktgesellschaft keineswegs, dass es keine Märkte geben wird. Sie bestehen auf verschiedene Weise weiter, um die Freiheit der Konsumenten zu gewährleisten, die Nachfrageveränderungen aufzuzeigen, die Produzenteneinkommen zu beeinflussen, und um als Instrument der volkswirtschaftlichen Rechnungsführung zu dienen, aber sie sind nicht mehr ein Organ der wirtschaftlichen Selbstregulierung.“ (T 333) „Der Lohnvertrag hört auf, ein Privatvertrag zu sein, außer in untergeordneten oder nebensächlichen Punkten.“ (T 332) Lohn und Preis sollen ganz ohne Profit gesellschaftsfähig bleiben. Insofern ist es auch nicht verwunderlich sondern nur logisch, dass es Polanyi ganz prinzipiell um eine sozialistische Rechnungslegung geht (Ö 81ff.), und nicht um die Überwindung von Wert und Geld.
Märkte sollen keinen Markt bilden, sie sollen in die Gesellschaft eingebettet werden. Arbeit, Boden und Geld sollen aus dem Markt herausgenommen werden. (T 332f.) Die nächste Große Transformation wäre lediglich zu verstehen als eine große Umbettung. Der Selbstregulierung folgen geregelte oder geplante Märkte. Wirtschaft soll auf einzelne Märkte beschränkt werden. Das klingt sehr realsozialistisch, mehr nach Staatswirtschaft denn nach freier Assoziation. Auch stellt sich die Frage der Praktikabilität. Und ist es nicht eine Illusion anzunehmen, dass auf der Ebene der industriellen Produktion, Märkte ohne Markt möglich wären? Wäre es nicht gerade notwendig, nicht nur den Markt zu eliminieren, sondern auch die Märkte durchzustreichen? Ist das nicht ein absoluter Widerspruch, Arbeit aus dem Markt zu nehmen, aber weiterhin Löhne und Preise zuzulassen? In letzter Konsequenz ist das nämlich das Eingeständnis, dass Kauf und Verkauf, also Tausch bleiben werden, komme was da wolle.
„Märkte sind Anti-Commons“, schreibt Andreas Exner: „Dessen ungeachtet wird jedoch in der Commons-Debatte vielfach darauf bestanden, dass Märkte auch in einer gemeingüterbasierten Gesellschaft existieren müssten, ja, dass sie selbst als ein Gemeingut reguliert werden könnten. Einerseits wird so der Markt kritisiert, auf der anderen Seite aber gerade in seiner Funktion der Herstellung eines übergreifenden gesellschaftlichen Zusammenhangs im Äquivalententausch affirmiert. Diesem Widerspruch wird häufig mit dem Verweis auf die Arbeiten von Karl Polanyi begegnet. Polanyi, so das Argument, habe gezeigt, dass Märkte eine Grundkonstante menschlichen Lebens darstellten. Daraus folge, dass die soziale Einbettung des Marktes darüber entscheide, welchen Charakters er ist. Eine Fundamentalkritik am Markt, die sich in der Commons-Debatte ja durchaus andeutet, wäre also der falsche Schluss. Man müsse zwischen dem Markt-als-Ort und dem Markt-als-abstraktem-Raum unterscheiden. Während letzterer zu überwinden sei, würden Märkte als konkrete Orte von Tauschhandlungen auch in einer gemeingüterbasierten Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen müssen.“ (Die „Große Transformation“ zur „Großen Kooperation“, Commons, Markt, Kapital und Staat, Streifzüge Nr. 49/2010)
Naheliegend auch folgende Frage: Gibt es bloß einen „Mahlstrom“ (T 260) vom Markt zu den Märkten, gibt es nicht auch einen Mahlstrom von den Märkten zum Markt? Ein weiteres Problem ist, dass in diesem bestechenden Ansatz der Plural vor dem Singular auftritt, die Begriffe (semantisch noch dazu engstens verwandt) als zeitliche Abfolge eingeführt werden, und nicht als logischer Entwicklungszusammenhang. Sie werden primär historistisch positioniert und nicht logisch strukturiert. Polanyi behilft sich, indem er verschiedene Kategorien von Handelsplätzen unterscheidet, diese nicht auf Marktplätze und auf den Markthandel reduziert sieht. (Ö 233ff.)
Die angeführte „Freiheit der Konsumenten“ setzt übrigens geradezu voraus, dass sie bezahlen können. Freiheit des Kaufs ist immer an Geld gekoppelt. Wer es nicht hat, dessen Freiheit ist auch schon wieder perdu. Die Terminologie des Autors verlässt bei allen in den letzten Absätzen vorgelegten Überlegungen nicht den ausgetretenen Pfad der politischen Ökonomie, sie fundiert sich nicht in deren Kritik. Polanyi meint dezidiert, dass „Lohnunterschiede naturgemäß auch weiterhin eine wesentliche Rolle (Hvhb. von F. S.) im Wirtschaftssystem spielen müssen und sollen.“ (T 332) Lohn ist Arbeit (oder genauer: Ware Arbeitskraft) in Preisform. Einerseits beklagt der Autor die Überführung von Arbeit in den Markt, andererseits affirmiert er den Vollzug ebendieser Übertragung, ja verleiht dem Lohn und den Lohndifferenzen ehernen Charakter. In der Form von Lohn und Preis wird also der Wert bei Polanyi perpetuiert. Das ist keine Perspektive, sondern schlechte Utopie. Befreiung bedeutet mehr als ein gut verdienender Kunde zu sein, um Angebote wahrnehmen zu können.
Kapital ist mehr als Markt und auch der Kapitalismus, der eine Marktwirtschaft ist, ist mehr als eine Marktwirtschaft. Er ist die materielle und ideelle Durchsetzung wertförmiger Vergesellschaftung in allen Bereichen des menschlichen Lebens. Diese gilt es zu überwinden, nicht bloß den Markt, der ja nur die Retorte dieser Vergesellschaftung darstellt.
Marx und Polanyi
Auf den Autor des „Kapitals“ lässt sich der Wirtschaftshistoriker gar nicht erst ein. Außer ein paar bescheidenen (und sehr instrumentellen) Verweisen in den Anhängen findet sich da nichts, was von Belang wäre, was auf Beschäftigung oder gar intensive Lektüre schließen ließe. Die von Polanyi zitierte Passage (Ö 433) aus dem Dritten Band des „Kapital“ (MEW 25: 859) ist etwa eine der wenigen Stellen, wo Marx ausdrücklich einem positiven und überhistorischen Begriff des Werts huldigt, somit sich also lediglich als Werttheoretiker ausweist. Tatsächlich changierte Marx gelegentlich zwischen Werttheorie und Wertkritik. Bezeichnend auch, dass der Kapital-Begriff im ganzen Band keine Rolle spielt, auch zur Spezifität der kapitalistischen Produktion und der besonderen Nutzung der Ware Arbeitskraft nimmt Polanyi nicht Stellung. Dafür ist seine Sichtung von Industrie und Industrialismus seltsam neutral, selbst wenn er deren Unschönheiten aufzählt. Der immanente Zusammenhang von Kapital und Industrie gerät kaum ins Blickfeld. (Vgl. T 331; im Widerspruch dazu aber auch Passagen auf T 70.)
Polanyis Kritik der Überschätzung der Ökonomie in der Geschichte (T 204), die er auch Marx vorwirft, ist aber nicht ganz von der Hand zu weisen. Ein einfaches Basis-Überbau-Schema hat sicherlich mehr Tücken als Meriten. Auch andere Einwände haben durchaus Sinn. Etwa wenn er auf die dem Liberalismus wie dem Marxismus zugeschriebene Fortschrittsgläubigkeit verweist und behauptet, dass die Theorie der Entwicklungsgeschichte falsch sei, sodass es keine natürliche Abfolge aufsteigender Formationen gibt: „Auf jeden Fall bedeuten die Formen der Integration nicht ‚Stadien‘ der Entwicklung.“ (Ö 226) Aber auch da wäre, weil Marx differenzierter ist als ein deterministischer Marxismus, allemal differenzierter zu behandeln gewesen als Marx einfach im Kanon des historischen Materialismus zu verorten. Beschränkt auch die Definition: „Der Sozialismus ist dem Wesen nach die einer industriellen Zivilisation innewohnende Tendenz, über den selbstregulierenden Markt hinauszugehen, indem man ihn bewusst einer demokratischen Gesellschaft unterordnet.“ (T 311) Eine substanzielle Auseinandersetzung findet nicht statt, eher werden gängige Einsichten, um nicht zu sagen Vorurteile einmal neu aufgelegt. Polanyis Auseinandersetzung mit Karl Marx ist summa summarum nicht allzu passioniert ausgefallen, bedenkt man wie viel Platz andere Autoren (z.B. Robert Owen) gefunden haben.
Auffällig ist heute, dass Polanyi von den verschiedensten Richtungen für sich beschlagnahmt wird. Manchmal fungiert er gar als Wegbereiter der „sozialen Marktwirtschaft“ oder Vorläufer des sogenannten Dritten Weges. Aber möglicherweise sind wir auch zu streng zu unserem Denker, betrachten wir die prekären Lebensumstände und die wissenschaftlichen Konditionen der Zeit, unter denen „The Great Transformation“ verfasst wurde. Das gilt insbesondere auch für die Jahre nach dem Krieg. Die Produktionsbedingungen kritischer Theorie waren gerade für einen akademischen wie sozialistischen Außenseiter nicht allzu günstig. So war ihm de facto seit Ende der Vierzigerjahre der US-amerikanische Raum versperrt, da seine Frau Ilona Duczyńska wegen ihrer Beteiligung an der Ungarischen Räterepublik und von 1934–1937 wiederum Mitglied der KPÖ Einreiseverbot hatte. Der aggressive Antikommunismus der McCarthy-Ära engte da zweifellos ein. Vielleicht musste Polanyi ja seine radikalen Überlegungen selbst in dieses marktwirtschaftsdemokratische Gehäuse einbetten, nur um überhaupt forschen zu können. Insofern ist das hier auch ein vager Versuch, Polanyi selbst zu entbetten. Vielleicht hätte da einer sogar mehr zu sagen gehabt, als er unter diesen Verhältnissen sagen hat können. Aber das bleibt Spekulation.
Literatur:
T: Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. (1944) Übersetzt von Heinrich Jelinek, Frankfurt am Main 1978.
Ö: Karl Polanyi, Ökonomie und Gesellschaft. Mit einer Einleitung von S. C. Humphreys. Übersetzt von Heinrich Jelinek, Frankfurt am Main 1979.