von Stefan Meretz
Mit dem Begriff Care wird eine lange verunsichtbarte Voraussetzung für die produktive Verwertung von Arbeitskraft in die Aufmerksamkeit geholt: die reproduktive Herstellung (Kinder), Wiederherstellung (Lohnarbeitende) und Erhaltung (Kranke und Alte) menschlich-leiblicher Existenz. Alles, was der Kapitalismus nicht aus eigener Funktionslogik erschaffen und erhalten kann, er gleichzeitig als unabdingbare Voraussetzung braucht, wird aus der Wertverwertung ausgegliedert und an Frauen* delegiert. Roswitha Scholz bringt dieses Verhältnis als Wertabspaltung auf den Begriff. Als Rechtfertigung und ideologische Fundierung werden dabei Frauen* Eigenschaften und Fähigkeiten zugeschrieben, die sie besonders für Care-Tätigkeiten prädestinieren sollen: interpersonale Empathie, emotionale Achtsam- und Einfühlsamkeit, verantwortungsvolle Beziehungsorientierung, soziale Multitaskingfähigkeit etc.
Dieser Formkritik widerspricht nicht, dass Teilbereiche des Care wiederum in die Verwertungslogik des Kapitals einbezogen und zum Gegenstand von Profiterzeugung gemacht werden. Die Tätigkeitsweisen von sachbezogener Produktionsarbeit und interpersonaler Reproduktionsarbeit sind jedoch völlig unterschiedlich. Frigga Haug folgend unterliegt die auf der Schaffung von Waren gerichtete Lohnarbeit einer Zeitsparlogik (in immer kürzerer Zeit immer mehr aus der Arbeitskraft herausholen), während die auf Personen gerichteten Care-Tätigkeiten eher eine Zeitverausgabungslogik (sich Zeit nehmen für den Aufbau und die Pflege interpersonaler Beziehungen) einfordern. Dennoch kann Care auch als Lohnarbeit verausgabt werden, wodurch diese jedoch entgegen ihrer bedürfnisorientierten Beziehungsweise einem Zeitsparregime (Fallpauschalen, Zeitbudgets etc.) unterworfen wird, was sie tendenziell dehumanisiert.
Nach Berechnungen von Gabriele Winker entfielen 2015 in Deutschland 64 Prozent aller Arbeitsstunden auf Care-Tätigkeiten, 56 Prozent unentlohnt und 8 Prozent entlohnt. Mit 44 Prozent ist der Bereich der Lohnarbeit (einschließlich entlohnter Care-Arbeit) deutlich kleiner als der Bereich des unbezahlten Care. Für Österreich und die Schweiz wurden ähnliche Zahlen ermittelt. Beides zusammen, die Abspaltung von der Wertproduktion und die partielle Unterwerfung von Care unter die Verwertungslogik hat zu einer Krise der Reproduktion geführt, so Winker.
Die hier sehr gerafft dargestellte Beschreibung der Krisenerscheinungen wird von vielen geteilt. Auf eine Formkritik wird jedoch häufig verzichtet. Stattdessen werden andere Erklärungen angeführt. So sieht Ina Praetorius die Ursache für die Sphärenspaltung in der bereits in der Antike gegründeten patriarchalen dichotomen Identifizierung der „Arbeit“ mit dem „Männlichen“ und der „Natur“ mit dem „Weiblichen“. Die bürgerliche Aufklärung habe es versäumt, die vormoderne Dichotomisierung der Menschheit zu überwinden. Die Durchsetzung der Vernunft gegen mystisch-religiöse Denkweisen sei nur eine Teilaufklärung gewesen. Die Lösung sieht sie folglich darin, „die dichotome Ordnung als solche für nichtig zu erklären“, denn bei gesellschaftlicher Bedürfnisbefriedigung gehe es doch immer um Sorge und Vorsorge. Sie proklamiert: „Wirtschaft ist Care“.
Damit trifft Praetorius einen zentralen Punkt, eine Selbstverständlichkeit: Alles, was Menschen zum Leben brauchen, schaffen sie sich. Oder anders ausgedrückt: Menschen stellen ihre Lebensbedingungen gesellschaftlich-vorsorgend her. Insofern gilt: Gesellschaft ist Care. Das im Kapitalismus daraus entbettete und verselbständigte Teilsystem Wirtschaft ist es jedoch nicht – und kann es in formkritischer Sicht auch nicht sein. Die Nichtigerklärung und die Anrufung, Wirtschaft solle bitte Care sein, werden nicht ausreichen, um den monetären „arbeitsteiligen Erwerbszweigen“, die Praetorius ansonsten für „selbstverständlich“ hält, einen nicht-monetären Care-Bereich gleichrangig oder gar vorrangig zur Seite zu stellen. Das verkennt die destruktive Wirkung der Verwertungslogik, die erst das Verhältnis von Wert und Abspaltung durchgesetzt hat. Zwar ist das Patriarchat, auf dem die Wertabspaltung aufsetzen konnte, schon viel älter, doch seine gegenwärtige Form bekam es erst mit dem Kapitalismus.
Die Kritik der sozialen Form der Warenproduktion als selbstzweckhafte Wertverwertung und ihrer Abspaltung reichen allerdings nicht aus. Eva von Redecker hat auf die der Kapitalverwertung vorausgesetzte absolute Verfügung über „Sachen“ hingewiesen, die als Privateigentum schließlich rechtlich kodifiziert wurde. „Sachen“ können dabei alle dem Subjekt „äußerlichen“ zu Objekten gemachten Verhältnisse sein: Dinge, Menschen, Natur. Mit der Konstitution von dem Individuum äußerlichen Objekten einher geht die Schaffung des souveränen Subjekts, das über die Objekte herrscht. Anders ausgedrückt: Souverän und damit „frei“ ist das Subjekt, das über Eigentum verfügt. Darin liegt das Freiheitsversprechen des Kapitalismus, auch für die Eigentumslosen, denn jede:r kann Eigentum erwerben.
Mit der Sachherrschaft thematisiert Eva von Redecker die qualitative Dimension des Eigentums und überschreitet damit die häufig bloß quantitativ gestellte Eigentumsfrage („Wer verfügt und verteilt an wen wieviel?“). Die durch die Sachherrschaft erzeugten Herrschaftsverhältnisse treten als sektorale Privilegierungs-Diskriminierungs-Komplexe auf: Sexismus, Rassismus, Klassismus, Ageismus, Ableismus etc. Trotz teilweise schwindender materiell-rechtlicher Grundlagen bestehen die sektoralen Herrschaftsverhältnisse weiter. Ihre ideologische Stabilität gewinnen sie aus einer Haltung, die Eva von Redecker Phantombesitz nennt. Es ist der Anspruch von Subjekten, ihre real bröckelnde Souveränität durch andauernde Verfügung über objektifizierte Andere (oder Anderes) aufrechtzuerhalten. Als rabiat-gewaltförmige Orientierung finden wir das in rechten Bewegungen, etwa bei Trump, Orban, Bolsonaro, Putin.
Eine Care Revolution muss sowohl die Verwertungs- wie die Eigentumslogik angehen. Das bedeutet, eine andere Beziehungsweise (Bini Adamczak) durchzusetzen, die eine neue Reproduktionsweise ermöglicht und die ideologischen Formen des Phantombesitzes überwindet. Die Commons sind eine solche bereits heute schon in Ansätzen machbare soziale Form der Reproduktion, die als Commonismus gesellschaftlich allgemein werden kann.