von Andreas Urban
In den vergangenen Monaten hat sich nicht nur der Verlauf des in der Ukraine tobenden Stellvertreterkrieges zwischen Russland und dem „kollektiven Westen“, wie abzusehen war, weiter zuungunsten der Ukraine und ihrer westlichen Verbündeten zugespitzt, sondern Hand in Hand damit auch der Realitätsverlust im Westen neue Höhen erklommen. Seit der ukrainischen „Herbstoffensive“, die besonders in westlichen Medien zu einer bevorstehenden Trendwende im Krieg gegen Russland hochgejubelt wurde, in Wahrheit jedoch strategisch nur wenig relevante Gebietsgewinne brachte, dafür aber für die Ukraine extrem verlustreich verlief, sind selbst diese minimalen Erfolge großteils wieder zunichte gemacht worden und hat Russland nicht nur seine Luftangriffe auf ukrainische Städte intensiviert, sondern auch an der Front beträchtliche Fortschritte erzielt. Wenn nach Soledar (Mitte Jänner) auch noch die schwer umkämpfte Stadt Bachmut fällt, wäre der Weg für Russland frei zur Einnahme der restlichen Regionen im und zur vollständigen Kontrolle über den Donbass.
Zunächst einmal wird im Westen unbeeindruckt am Narrativ festgehalten, dass „Russland verliert“ und die „Ukraine gewinnt“. Man verbreitet in den Medien auch weiterhin bei jeder Gelegenheit Selenskyjs Halluzinationen über eine Rückeroberung der Krim und einen bald zu erringenden Sieg über Russland. Mittlerweile ist die reale Situation freilich schon so trist, dass nur wenige Tage später über das Eingeständnis des ukrainischen Präsidenten berichtet werden muss, dass die Lage an der Front immer schwieriger wird. Der für die Ukraine und den Westen desaströse Kriegsverlauf wird sodann als eine „Pattsituation“ schöngeredet, in der beide Seiten gleichermaßen hohe Verluste erleiden würden.
Wem geht die Munition aus?
Vor diesem Hintergrund ist es nur mit Realitätsverlust zu erklären, wenn ein Sieg der Ukraine prophezeit wird, und das womöglich noch im Laufe der kommenden Monate. Dergleichen sagt etwa ein „Militärexperte“ der ETH Zürich voraus, der auf der Grundlage seiner Berechungen behauptet, dass die Ukraine „Russland im Oktober besiegen“ wird. (blick.ch, 1.3.2023) Wir begegnen hier mithin derselben Abgehobenheit von jeglicher objektiven Wirklichkeit wie schon bei der „Pandemie“-Modellierung, deren „Modelle“ und daraus abgeleitete Prognosen sich oft genug als grotesk falsch erwiesen haben. Die „Modellannahmen“ zum Krieg bauen vor allem auf dem seit Kriegsbeginn erzählten Märchen auf, wonach den Russen demnächst – jetzt aber wirklich! – die Munition ausgehen werde. Selbst wenn man einmal annehmen wollte, dass der russische Verbrauch an Munition irgendwann in nächster Zeit die Produktionskapazitäten übersteigen sollte, so stünde die Ukraine immer noch schlechter da, da diese von westlichen Lieferungen abhängig ist, die jedoch im Versiegen begriffen sind.
Wie die Dinge tatsächlich liegen, kann sogar in westlichen Medien nachgelesen werden: Laut Süddeutscher Zeitung vom 7. März 2023 plant die EU für eine Milliarde Euro Artilleriegeschoße zu kaufen – und zwar „sowohl um die Ukraine damit zu beliefern als auch, um die eigenen, weitgehend geleerten Bestände wieder aufzufüllen.“ Der Artikel enthält auch Angaben über die ukrainische im Vergleich zur russischen Feuerkraft: Die russischen Streitkräfte könnten demnach täglich ca. 20.000 Artilleriegranaten abfeuern, während der Ukraine lediglich 4.000 bis 6.000 Schuss pro Tag zur Verfügung stünden. Dem ukrainischen Verteidigungsminister Resnikow zufolge benötige die Ukraine, „um militärisch effektiv zu sein“, mehr als 350.000 Schuss pro Monat. Das übersteigt freilich, wie selbst dem Autor jenes Artikels nicht verborgen bleiben kann, die Möglichkeiten der EU bei weitem. So rechnet die Süddeutsche in ihrem Artikel vor, dass eine „einfache 155-Millimeter-Granate, die zum Beispiel nicht über eine Laser- oder GPS-Lenkeinheit verfügt – mithin eine sogenannte ‚dumme Bombe‘ – […] um die 3000 Euro pro Stück [kostet]. Mit einer Milliarde Euro lassen sich also etwas mehr als 330 000 Geschosse beschaffen – weniger, als die Ukraine nach eigenen Angaben pro Monat benötigt.“ Völlig offen lässt der Artikel (wie auch die EU) dabei die Frage, wer die Munition in ausreichender Menge herstellen soll, zumal fraglich ist, ob Europa aktuell überhaupt über die dafür erforderlichen Rüstungskapazitäten verfügt. Nicht zufällig sieht der „Plan“ der EU als eigenen Punkt vor, „langfristig die Rüstungskapazitäten in Europa [zu stärken].“ Vor diesem Hintergrund kann also kaum ein Zweifel bestehen: Wenn jemandem demnächst die Munition ausgeht, dann der Ukraine noch lange vor Russland.
Waffenlieferungen und „Abnutzungskrieg“
Auch auf praktisch-politischer Ebene bleibt der Westen beim „bewährten“ Maßnahmenportfolio, d.h. es werden immer neue Sanktionen verhängt, die schon bisher nicht die Wirkung gezeigt haben, die man sich von ihnen versprochen hatte, dafür aber nicht geringe ökonomische „Kollateralschäden“ nach sich zogen. Die EU verabschiedete etwa am 24. Februar 2023, also exakt am ersten Jahrestag des „russischen Angriffskrieges“, ihr insgesamt zehntes Sanktionspaket. Unbeirrt festgehalten wird auch an der „Strategie“ immer neuer Waffenlieferungen in die Ukraine. Wie groß die Verzweiflung (aber auch der Wahnsinn) im Westen inzwischen ist, kann insbesondere daran abgelesen werden, dass immer mehr rote Linien überschritten werden, die das Potenzial haben, den Konflikt zu einem Dritten Weltkrieg hochzueskalieren. Darunter fällt vor allem die Entscheidung etlicher westlicher Länder, Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern. Mittlerweile, nachdem sich die Panzerlieferungen als die Farce erwiesen haben, wird sogar über die Lieferung von Kampfjets diskutiert. Wenn hier nicht bald Zurückhaltung eintritt, darf erwartet werden, dass in nicht allzu ferner Zukunft womöglich auch noch der vom ukrainischen Vizeregierungschef Kubrakow auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2023 erhobenen Forderung nach Streumunition nähergetreten werden könnte – womit der Westen immerhin seinen Willen zum Kriegsverbrechen bekunden würde. Gegen ein rechtzeitiges Aufblitzen rudimentärer Restvernunft spricht aber, dass die USA kürzlich ankündigten, Langstreckenraketen an die Ukraine liefern zu wollen, was den Krieg zweifellos auf eine weitere Eskalationsstufe heben würde.
Diese vom Westen mit absurden bis brandgefährlichen Mitteln betriebene Verlängerung eines schon verlorenen Krieges geht auf Kosten zahlloser Menschenleben, insbesondere in der ukrainischen Bevölkerung und unter den in immer größerer Zahl an der Front verheizten Männern (und Frauen). Der ganze Zynismus der westlichen „Strategie“ kommt im medial und politisch herumgereichten Vokabel des „Abnutzungskriegs“ zum Ausdruck: „Abgenutzt“ wird hier vor allem die Ukraine, die „bis zum letzten Ukrainer“ einen Stellvertreterkrieg kämpfen soll und dafür mit Waffen, Munition, Finanzmitteln etc. ausgestattet wird, in der desperaten Hoffnung, Russland letztendlich doch noch zur Kapitulation zu zwingen oder zumindest eine Verhandlungsposition zu erringen, in der der Westen dem Gegner alle möglichen Maximalforderungen aufoktroyieren kann. Nichts davon ist nach dem bisherigen Kriegsverlauf auch nur annähernd realistisch. Und je mehr Zeit vergeht, desto schlechter wird die ukrainische Verhandlungsposition werden und desto größer und umfassender werden die schon heute massiven Zerstörungen ausfallen. Die westlichen Projektionsleistungen machen daraus freilich einen Abnutzungskrieg Putins, garniert mit der üblichen Dämonisierung und Psychopathologisierung des russischen „Autokraten“, dem Menschenleben schlicht „gleichgültig“ seien – als hätte man sich im Krieg (zumal in den westlichen Weltordnungskriegen von Jugoslawien über Afghanistan und Irak bis Libyen und Syrien) jemals um „Menschenleben“ geschert, und als trage der Westen durch seine beharrliche Eskalationspolitik nicht maßgeblich zu der immer desolateren Situation in der Ukraine bei.
Reduzierte Funktionsintelligenz
Darüber hinaus darf trotz des durchaus nicht geringen Unterhaltungswerts, den so manche kabarettreifen Einlagen der westlichen Funktionseliten ohne Zweifel haben mögen, nicht übersehen werden, dass davon ein ungeheures Eskalationspotential ausgeht, das mit Leichtigkeit bis hin zur Provokation eines menschheitsbedrohenden Atomkriegs gehen könnte. Auf der doomsday clock steht der Zeiger bei 90 Sekunden vor Mitternacht – die Gefahr einer globalen Katastrophe ist demnach so groß wie nie zuvor. Gerade die Lächerlichkeit und Wahnwitzigkeit vieler westlicher Aktionen im „Krieg gegen Putin“ verweisen letztlich nur auf den hochgradig desolaten Zustand, in dem sich der „kollektive Westen“ samt seiner „reduzierten kapitalistischen Funktionsintelligenz“ (Robert Kurz: Weltordnungskrieg. Bad Honnef, S. 425) mittlerweile zu befinden scheint: Er riskiert eine immer weitere und immer größere Eskalation des Krieges mit Maßnahmen, die im Endeffekt zu kaum mehr als einer zahnlosen Symbolpolitik taugen, aber in ihrer Signalwirkung an den Kriegsgegner allemal dazu angetan sind, den Konflikt über die Schwelle zum Dritten Weltkrieg zu heben. Etwa, wenn der Westen mit der Lieferung von Kampfpanzern de facto eine Handlung setzt, die der Gegner ohne weiteres als Kriegserklärung auffassen und ihm damit unter Umständen die völkerrechtliche Legitimation geben könnte, westliche Stützpunkte anzugreifen, auf denen z.B. ukrainische Soldaten für die Bedienung der Panzer ausgebildet werden. Zumal Figuren wie Annalena Baerbock inzwischen schon selbst ausdrücklich davon reden, sich mit Russland im Krieg zu befinden.
Demselben Panoptikum des Irrsinns entspringt die ad nauseam propagierte und prolongierte Sanktionspolitik, die ihre bescheidene Wirksamkeit, dafür aber umso größere Schädlichkeit längst unter Beweis gestellt hat. Auch hier ist der „Zweck“ in Anbetracht der überwiegend autodestruktiven Effekte der Sanktionen wohl in erster Linie ein symbolischer: Solidarität demonstrieren, Flagge zeigen und – in zunehmendem Maße – vom Scheitern der eigenen „Strategien“ ablenken („der eingeschlagene Weg ist der richtige“). Anders als die Sanktionspolitik selbst verbleiben die verursachten Schäden jedoch nicht auf einer symbolischen Ebene, sondern fallen auf einer ganz handfesten materiellen Ebene an. Die westliche Sanktionspolitik ist also nicht nur virtuell, sondern wirklich zerstörerisch. Noch gelingt es den Funktionseliten, wenn auch nur mit äußersten Verrenkungen, sich an den materiellen Effekten ihres Handelns einigermaßen vorbeizumogeln – oder zumindest so zu tun, als ob. Die beharrlich verleugnete Realität schlägt aber auch hier zusehends zurück (Inflation, Flüchtlingskrise, Energiekrise, drohende Rezession etc.), und der Tag ist wohl nicht mehr fern, an dem die Funktionseliten und die derzeit noch im Kriegstaumel befindlichen Teile der Bevölkerung auf den harten Boden der Tatsachen zurückgeholt werden.
Kriegshetze
Auf neue Höhen geklettert ist in den letzten Monaten, neben dem Verlust des Realitätsbezugs, nicht zuletzt auch die westliche Kriegshetze und die damit einhergehende Verrohung des öffentlichen Diskurses, insbesondere unter den linksliberalen und grünen „Wohnzimmergenerälen“. Freilich war der Umgangston schon unmittelbar nach Kriegsbeginn nicht gerade zimperlich und hat etwa der sich für einen Punk haltende Spiegel-Kolumnist Sascha Lobo – der schon während der „Pandemie“ durch übelste Hetze gegen „Maßnahmengegner“ und „Ungeimpfte“ aufgefallen war – bereits im April 2022 Kriegsgegner und Friedensaktivisten als „Lumpenpazifisten“ verunglimpft. (spiegel.de, 20.4.2022) Der Kriegsverlauf und das kaum noch zu leugnende Zerschellen der eigenen „Narrative“ an der objektiven Wirklichkeit haben jedoch deutliche Spuren am Nervenkostüm der „solidarischen“ Bellizisten hinterlassen und den Aggressionslevel nochmals beträchtlich nach oben geschraubt. So beschimpfte der Standard-Blogger Christian Kreil Ende Februar 2023 auf Twitter die Initiatorinnen des „Manifests für Frieden“, Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, als „Putinfotzen“ und – um nicht in die „Genderfalle“ zu tappen – andere sich gegen den Krieg positionierende Prominente männlichen Geschlechts ganz gendergerecht als „Putinschwanzlutscher“. (Der Tweet wurde mittlerweile gelöscht.) Bereits im Jänner hatte der bis Herbst 2022 in Deutschland als ukrainischer Botschafter sein Unwesen treibende Andrij Melnyk Sahra Wagenknecht auf Twitter (21. Januar 2023) als „widerliche Hexe“ bezeichnet. Den vorläufigen Höhepunkt in diesem zumindest schon verbal angetretenen Marsch in die Barbarei markierte aber sicherlich ein Gastbeitrag der israelisch-französischen Soziologin Eva Illouz in der Zeit, in dem sie sich ausdrücklich „einen totalen und vernichtenden Sieg für die Ukraine“ wünschte. Der Beitrag erschien zunächst am 16. Februar 2023 in der Print-Ausgabe, zwei Tage später auch online – also exakt am 80. Jahrestag der berühmt-berüchtigten Rede von Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943 („Wollt ihr den totalen Krieg?“).
Solche unüberhörbaren und geradezu unverhohlenen Anklänge an die Sprache des Faschismus vermögen selbst den so einiges gewöhnten und gewiss nicht irgendwelchen Illusionen über die „Zivilisiertheit“ moderner, demokratischer Bürgerlichkeit aufsitzenden Wertkritiker sprachlos zu machen. Es scheint sich heute auf so eindrucksvolle wie schauderhafte Weise zu bestätigen, was bereits Adorno über das Fortwesen des Faschismus konstatierte und wovon das sich traditionell als „antifaschistisch“ verstehende, sich immer und überall im Kampf gegen „Nazis“ und „Demokratiefeinde“ wähnende, heute jedoch allerorten zum Vernichtungskrieg gegen alle möglichen äußeren wie inneren Feinde blasende linksliberale und linksakademische Milieu schon längst nichts mehr wissen will: „Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen.“ (Theodor W. Adorno, 1971: Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit, in: ders.: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt/Main, S. 28.) Die Ursachen für den bis heute nicht gebrochenen „Bann“ des Faschismus liegen nicht in der Ewiggestrigkeit, Unbelehrbarkeit, Dummheit oder gar generellen Bösartigkeit von „Rechten“, „Nazis“, „Verschwörungsideologen“ usw., sondern gerade in jener „Demokratie“, in deren Namen der heute nur noch zu einer hohlen Phrase verkommene „Antifaschismus“ in den Krieg zieht und dabei selbst vor immer faschistoideren Methoden nicht zurückschreckt. Man kann im Ansehen solcher massiv fortgeschrittenen Verwilderungstendenzen auch nur immer wieder darüber staunen, dass weite Teile der Wert- und Wert-Abspaltungskritik ihre Zeit und ihre Aufmerksamkeit auf eine Kritik an den fraglos in einem historischen Anachronismus befangenen, aber sich immerhin jener bizarren und gemeingefährlichen Kriegstreiberei verweigernden Antiimperialisten verschwenden. (Vgl. Tomasz Konicz, Die Alternativimperialisten, in: konkret 9/2022). Denn die „Avantgarde der Barbarei“ – das verdeutlichen die mittlerweile zur Regel gewordenen diskursiven Entgleisungen in der öffentlichen Debatte und in sozialen Medien – wird in der gegenwärtigen Situation bestimmt nicht von den „Antiimps“ gebildet, ja wahrscheinlich nicht einmal von den „Rechten“ (oder was mittlerweile alles darunter subsumiert wird), sondern vor allem von jener völlig verwilderten, nun ihre letzten bürgerlich-demokratischen Masken fallen lassenden „linksliberalen“ Intelligentsia.
Angela Merkel
Erwähnenswert sind schließlich noch so manche Ereignisse der letzten Monate, über die sich die westlichen Medien beharrlich ausschweigen – wohl weil sie das Potenzial haben, das „Narrativ“ vom „Krieg gegen Putin“ als eines Kampfes für die „westlichen Werte“ und eines gerechten „Verteidigungskrieges“ erheblich zu beschädigen. So etwa ein Interview von Angela Merkel in der Zeit vom 7. Dezember 2022, in dem sie in entwaffnender Offenheit ausspricht, dass das Minsker Abkommen, mit dem der seit 2014 tobende Bürgerkrieg in der Ukraine hätte beigelegt werden sollen, von westlicher Seite nur dazu diente, der Ukraine Zeit zu verschaffen, um „stärker“ zu werden und gegen Russland aufzurüsten. Dieses „Geständnis“ ist unter dem in diesem Beitrag primär interessierenden Aspekt der wachsenden Dysfunktionalität des Westens und seiner Institutionen unabhängig davon relevant, ob Merkel in diesem Interview die Wahrheit sagt oder nicht. Treffen sie zu, sind solche Worte nachgerade Wasser auf die russischen Mühlen, wo ohnehin (nicht zu Unrecht) ein Bild des Westens und seiner Vertreter als Akteure vorherrscht, die sich an ihre eigenen Regeln nicht halten und Vereinbarungen brechen, wo immer es ihnen gelegen kommt. In Russland existiert dafür sogar ein eigenes Wort (недоговороспособны, was so viel bedeutet wie „not agreement capable“ oder, in einer unzulänglichen deutschen Übersetzung, „nicht abkommens-“ oder „vereinbarungsfähig“). Damit wären die Türen für alle möglicherweise noch folgenden und irgendwann wohl auch notwendigen Verhandlungen mit Russland nachhaltig zugeschlagen, ganz zu schweigen von allfälligen späteren „internationalen Beziehungen“. Entsprechen Merkels Aussagen nicht der Wahrheit oder sind sie zumindest als übertrieben zu qualifizieren, stellt sich die Frage, was sie damit bezweckte. Ging es ihr womöglich bloß im Sinne des heute ubiquitären virtue signalling darum, aus ihrer Politpension heraus und möglichst medienwirksam ihre „Solidarität“ mit der Ukraine zu bekräftigen? In dem Fall wäre dies abermals nur ein Indiz für die Dysfunktionalität der (jegliche Realpolitik zunehmend ersetzenden) westlichen Neigung zur Symbolpolitik und dabei im Übrigen auch ein Hinweis auf einen bemerkenswerten Mangel an politischer Kompetenz bei der deutschen Ex-Kanzlerin. Einen Beitrag zur Inkompetenzthese (dazu Uhlschütz 2023) lieferte Merkels Interview freilich auch dann (und erst recht), wenn ihre Aussagen den Tatsachen entsprechen. Denn was außer Inkompetenz könnte sie dazu veranlassen, eine derartige geopolitische Dummheit zu begehen und offen zuzugeben, dass der Westen niemals vorhatte, sich an das Minsker Abkommen zu halten und damit den „Feind“ dermaßen unnötig zu brüskieren?
Naftali Bennet
In einem anderen Interview vom 4. Februar 2023 plauderte sodann der ehemalige israelische Premierminister Naftali Bennett so manche Details über die im März 2022 von ihm geführten Vermittlungsgespräche zwischen Russland und der Ukraine aus. („Bennett speaks out“, youtube.com, 4.2.2023) Bennett war am 5. März 2022, also relativ kurz nach dem Angriff Russlands, nach Moskau gereist, um sich mit Putin zu treffen und über die Bedingungen eines baldigen Waffenstillstandes zu verhandeln. Dieses Treffen sei mit den USA, Frankreich, Deutschland und dem Vereinigten Königreich koordiniert gewesen. Beide Seiten, so Bennett, hätten dabei Bereitschaft zu weitgehenden Zugeständnissen signalisiert. Die russische Seite habe z.B. zugesagt, auf die Entwaffnung der Ukraine als Grundlage für einen Waffenstillstand zu verzichten. Für die ukrainische Seite habe wiederum Selenskyj zugestanden, keine NATO-Mitgliedschaft mehr anzustreben, was letztlich auch eine der Hauptforderungen Russlands und einen der Gründe für seine „militärische Intervention“ darstellt. Bekanntlich scheiterten die Verhandlungen letztlich, und zwar, wie Bennett sagt, auf Druck des Westens, insbesondere Großbritanniens. Im April 2022 habe der britische Premierminister Boris Johnson Kiew besucht und Selenskyj nachdrücklich aufgefordert, nicht mit Russland zu verhandeln. Damit bestätigt Bennett im Prinzip die russische Version über den Abbruch der damaligen Verhandlungen, die im Westen, wie vieles andere auch, als „russische Propaganda“ abgetan wurde und wird. Freilich konnte schon im Mai 2022 etwa in der Ukrainska Pravda, nicht gerade einem russischen Propagandablatt, nachgelesen werden, dass es tatsächlich Boris Johnson war, der bei seinem Besuch in Kiew dem ukrainischen Präsidenten zu verstehen gab, dass die westlichen Unterstützer einem Abkommen mit Russland keinesfalls zustimmen würden, selbst wenn die Ukraine bereit sein sollte, ein solches zu unterzeichnen.
Nord Stream 2
Ein besonders interessantes Beispiel für eine „Verschwörungstheorie“ und „russische Propaganda“ hat ebenfalls erst vor Kurzem einiges Aufsehen erregt. Der US-amerikanische investigative Journalist Seymour Hersh – eine Art Legende seines Fachs, der sich bereits in zahlreichen anderen Gelegenheiten als „Aufdecker“ verdient gemacht hat (etwa im Watergate-Skandal oder im Zusammenhang mit Folterpraktiken des US-Militärs in Abu Ghraib) – ist Anfang Februar 2023 mit einer aufschlussreichen „Story“ über die Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines an die Öffentlichkeit getreten. Dass die USA hinter diesem Anschlag stecken dürften, pfiffen freilich schon längst sämtliche Spatzen von den Dächern. Anfangs hatten westliche Medien noch recht verkrampft und ungeschickt versucht, Russland für die Zerstörung der Pipelines verantwortlich zu machen. Schon bald war man jedoch in betretenes Schweigen übergegangen – es war einfach zu offensichtlich, dass nicht die Russen für diesen Terrorakt verantwortlich waren, sondern der oder die Urheber eher unter den westlichen Verbündeten selbst, insbesondere in den USA, zu suchen waren, aber niemand schien es aussprechen zu können oder zu wollen. Die von Hersh im Februar veröffentlichte Recherche legt nun detailreich dar, dass und wie die Zerstörung der Pipelines von der US-Regierung mit Unterstützung Norwegens herbeigeführt worden ist. Auch wenn damit noch kein zweifelsfreier Beweis erbracht ist und sich westliche Medien redlich bemühten, Hersh und seine Recherche mit den altbekannten Methoden unglaubwürdig zu machen, erscheint die Rekonstruktion des „Tathergangs“ nicht unplausibel. Demnach seien die Sprengladungen bereits im Juni 2022 während einer NATO-Sommerübung („BALTOPS 22“) durch Tiefseetaucher der US Navy platziert und am 26. September 2022 mittels einer von einem norwegischen Flugzeug abgeworfenen Sonarboje zur Detonation gebracht worden. Brisant ist diese „Verschwörungstheorie“ nicht zuletzt deshalb, weil vor diesem Hintergrund auch so manche Ereignisse im Vorfeld des Krieges in einem neuen Licht erscheinen, so etwa die Aussage von US-Präsident Joe Biden während einer Pressekonferenz mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz am 7. Februar 2022, also etwas mehr als zwei Wochen vor dem russischen Angriff auf die Ukraine, man werde dem Projekt Nord Stream 2 „ein Ende setzen“, falls Russland eine Invasion beginnen sollte – und auf Nachfrage einer Journalistin, wie die USA dies bewerkstelligen wollen, zumal das Projekt unter deutscher Kontrolle stehe: „Ich verspreche, dass wir in der Lage sein werden, es zu tun. Ebenso die noch etwas früher gemachte Aussage von State Secretary Victoria Nuland in einem Pressebriefing des US-Außenministeriums, Nord Stream 2 werde bei einer Invasion Russlands „auf die eine oder andere Weise“ gestoppt werden. Die Brisanz dieser Aussagen läge – wenn Hershs Story der Wahrheit entsprechen sollte – nicht nur in ihrer keineswegs zu gering zu gewichtenden Bedeutung für die Indizienkette einer führenden Beteiligung der USA an diesem beispiellosen Sabotage- oder vielmehr Terrorakt. Dass die USA über die Zerstörung der Pipelines sehr erfreut sind und nicht zuletzt ökonomisch davon zu profitieren hoffen, da sie damit zum führenden Anbieter von Flüssiggas in Europa werden könnten, darum machen sie ohnehin kein großes Geheimnis. Die Brisanz bestünde vielmehr in der beeindruckenden Indiskretion, auf die die Aussagen von Biden und Nuland verweisen würden. Im Kontext der in diesem Beitrag im Zentrum stehenden Frage nach einer fortschreitenden Dysfunktionalität des Westens und seiner Institutionen wäre dies daher auch unter dem Gesichtspunkt der offenkundig auf allen Ebenen um sich greifenden Inkompetenz, insbesondere unter der an den Schalthebeln der Macht sitzenden Personage, ein weiteres Mosaiksteinchen von einiger Aussagekraft.
Die Nord-Stream-Causa ist schließlich noch in eine weitere Runde gegangen. Am 7. März 2023 berichtete die New York Times, laut US-Geheimdienst sei die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines durch eine „pro-ukrainische Gruppe“ verübt worden. Damit rückten die USA ab von der ohnehin unglaubwürdigen Version, der zufolge Russland der Urheber der Zerstörung gewesen sei. Dass dies wenig plausibel ist, wird nun auch von der NYT explizit zugegeben, denn es sei ja unklar, „welche Motivation der Kreml haben könnte, die Pipelines zu sabotieren, da sie eine wichtige Einnahmequelle und ein Mittel Moskaus sind, um Einfluss auf Europa auszuüben.“ Damit wird aber bloß eine unplausible, aber immerhin geopolitisch genehme Version durch eine andere, nicht minder unplausible Geschichte ersetzt wird. Die Art und der Umfang der Schäden, die an den Pipelines verursacht wurden, lassen auf eine äußerst anspruchsvolle Operation schließen, die den Einsatz hochqualifizierter und ausgebildeter Tiefseetaucher, unterstützt von einem U-Boot oder Spezialschiff, erfordert. Nicht einmal die Ukraine dürfte derzeit über die Mittel für eine solche Operation verfügen, geschweige denn irgendeine „pro-ukrainische Gruppe“. Bemerkenswert ist aber an der Geschichte, dass implizit eine ukrainische Beteiligung angedeutet und so der Schwarze Peter in Richtung des Verbündeten in Osteuropa geschoben wird, weil, so die NYT, die Möglichkeit offen gelassen wurde, „dass die Operation inoffiziell von einer stellvertretenden Kraft mit Verbindungen zur ukrainischen Regierung oder ihren Sicherheitsdiensten durchgeführt worden sein könnte.“ Berücksichtigt man hier noch die Tatsache, dass die im Artikel zitierten „U.S. officials“ zu einem Zeitpunkt mit dieser Geschichte an die Öffentlichkeit gehen, an dem die militärische Lage der Ukraine eher trister wird, so könnte man dies eventuell als erste Anzeichen einer sich anbahnenden Absetzbewegung der USA interpretieren.
Bei diesem Artikel handelt es sich um einen gekürzten und leicht überarbeiteten Auszug aus der dreiteiligen Abhandlung Realitätsverlust und suizidale Drift, veröffentlicht zwischen November 2022 und März 2023 auf wertkritik.org. Detailierte Verweise und Belege sind dort nachzulesen.