Nachwort von Franz Schandl
Wäre es nach dem geschätzten Autor gegangen, hätte es dieses Buch nie gegeben. Daher durfte es nicht nach dem Autor gehen, sondern es war Hand anzulegen und eine Auswahl seiner besten Aufsätze zu treffen. Lorenz Glatz gehört zweifellos nicht zu der Sorte, die sich stets überschätzen sondern notorisch unterschätzen. Die selbst gestellte Frage, ob er dieses oder jenes überhaupt kann, ehrt ihn zwar, oft verunmöglicht sie aber mehr als möglich wäre. Er ist ein Zweifelnder, ein Abwägender, alles andere als ein schriller Zeitgenosse. Er überzeugt mehr als er von sich selbst überzeugt ist. Sein Mangel an Impertinenz ist Schwäche und Stärke zugleich. Vor gewissen Aufdringlichkeiten schreckt er jedenfalls zurück.
Lorenz Glatz ist vielseitig interessiert und ausgesprochen belesen, humanistisch gebildet im besten Sinne des Wortes. Von gar vielem hat er mehr als eine Ahnung. Seine Artikel sind alles andere als akademisch und hermetisch gehalten, sie sind zugängig und offen, vor allem didaktisch sind sie gut gebaut. Seine Texte verfügen über eine anregende, ja sinnliche Note und sind weitgehend frei vom Jargon bestimmter Szenen und Moden. Der Autor versteht es, Kompliziertes einfach darzulegen, ohne dass es platt wird. Hier kommt zweifellos der (ehemalige) Professor für Latein und Altgriechisch durch. Mit wem sonst ist es schon möglich, anregend darüber zu diskutieren, dass etwa Kategorien wie „Tausch“ und „Wert“, auf die Aristoteles sich angeblich positiv bezieht, als Begriffe beim griechischen Philosophen so gar nicht vorkommen, sondern erst in der Übersetzung hineingedichtet wurden.
Der Band beginnt mit der programmatischen Rede „Ratlos unzufrieden“, die Lorenz Glatz imWorkshop „Jenseits von Markt und Staat – Perspektiven radikaler Transformation“ anlässlich des Austrian Social Forum in Hallein am 31. Mai 2003 gehalten hat. Sie ist eine kompakte und eigenständige Zusammenfassung dessen, was die damals noch junge Wertkritik anzubieten hatte. Danach folgen Ausführungen und Präzisierungen, aber nicht nur. Sie verdeutlichen allesamt, was Glatz sichtlich bewegt, wie er sich die Gesellschaft und deren Veränderung denkt. Was Antipolitik im Konkreten heißen mag und wie sie praktisch werden kann. Dieser Weg führt von der Theorie über die Perspektive zur Tat. So war Lorenz Glatz auch einer der Geburtshelfer des Wiener Kostnixladens und Gründungsmitglied von GeLA Ochsenherz.
Es sind Basistexte der Gesellschaftskritik, in denen der Autor versucht, sich und anderen die Welt zu erklären und daraus Konsequenzen zu ziehen. Manches mag sich auch widersprechen, aber das schadet nicht. Wir setzen ein Publikum voraus, das nachdenken und nicht gefüttert werden will. Des Autors beharrliche Frage, wo – und wie! – es hier rausgeht, stellt sich in diesen Zeiten multipler Krisen mit aller Dringlichkeit. Lorenz Glatz wollte immer Zuträger und Mitteiler sein. Den Aufsätzen ist zu entnehmen, wie sich da einer windet und entwickelt. Von einigen inhaltlich bedingten Abweichungen abgesehen, ist die Reihenfolge der Artikel daher chronologisch gehalten.
Fast alle hier versammelten Beiträge sind in den Streifzügen erschienen, deren Redaktion Lorenz Glatz seit Ende 2001 angehört. Einige Schwerpunktausgaben hat er hauptverantwortlich konzipiert, z.B. Freundschaft (Nummer 49), Gutes Leben (Nummer 51), Apokalypse (Nummer 61) oder zuletzt Landwirtschaft (Nummer 82). Da werden seine Anliegen noch kenntlicher. Im Einlauf der Apokalypse-Nummer aus dem Sommer 2014 fasste er die mentale Misere wie folgt zusammen: „Dass es so nicht weitergehen kann, ist ein triviales, massenhaftes Gefühl vor und in allen Umbrüchen. So fühlt es sich auch heute an. Tanz auf dem Vulkan, Abgrund, Apokalypse, Weltuntergang oder Rettung in letzter Sekunde – all das hat Hochzeit. Und zugleich natürlich die Beschwörung, dass wir einfach noch mehr vom Selben brauchen, um mit allem fertigzuwerden, was wir uns mit dem Selben eingebrockt haben.“ Es ist die „Wolfslogik der Verhältnisse“.
Diese Wolfslogik macht auch vor der gesellschaftlichen Opposition nicht halt. Zusehends geschmerzt haben ihn die (auto)destruktiven und denunziatorischen Umtriebe in der radikalen Linken. Dass Intention und Konkretion so oft aufeinanderprallen, enge Freundschaften in lebenslange Feindschaften kippen, hat ihn mitunter skeptisch werden lassen. Die eherne Selbstzerfleischung scheint ein unausrottbares Leiden zu sein. Dagegen anzuschreiben, war und ist ihm ein wichtiges Anliegen. In diesem Buch finden sich daher auch einige Artikel gegen das von Glatz so bezeichnete „Kampfhundsyndrom“, er nannte es eine „verheerende alltägliche Unauffälligkeit im kritischen Betrieb“. Indes, derlei hat ihn abgestoßen, ohne dass er je die Flucht ergriffen hat. Im Gegenteil, er probierte sich beharrlich an einer systematischen Kritik des Kampfes als Grundbedingung menschlicher Kommunikation. Das unterscheidet ihn von vielen anderen Linken, die den Kampf geradezu affirmieren anstatt ihn als aufgezwungene Form der Konkurrenz zu begreifen.
Anpassung war seine Sache nie. Diesbezüglich ist er sich stets treu geblieben. Rekapitulieren statt kapitulieren! Als Mensch mag er in seinem Auftreten moderat und mild wirken, als Kritiker und Praktiker ist er der junge Radikale geblieben, der eben nun zu einem gereiften alten Radikalen geworden ist. Die Streifzüge haben ihm jedenfalls viel zu verdanken, persönlich, inhaltlich und organisatorisch. Auf Lorenz war immer Verlass. Einige Jahre hat er die Zeitschrift sogar im Alleingang lektoriert. Dass das Werkel trotz einiger Eklats nie explodiert ist, hat auch mit seiner verbindlichen Art zu tun. Nicht nur deswegen mögen wir ihn. Er ist zudem ein ausgesprochener Vertreter von Lust und Freundschaft, alles andere als ein rigider Zwängler. Wir wünschen ihm mit diesem Buch, das mehr ist als ein Sammelband, alles Gute zu seinem 75. Geburtstag. Auf dass er uns als Freund und Autor noch lange erhalten bleibt.
Lorenz Glatz, Ratlos unzufrieden. Texte zu Kritik, Perspektive und Transformation, Mandelbaum kritik & utopie, Wien-Berlin 2023, 239 Seiten.
Rezension von Werner Raetz
Der Band kann via Streifzüge um 17 Euro bezogen werden. Die Portokosten übernehmen wir.