Himmelsabwehr als Himmelfahrtskommando

Der Druck des kollektiven Westens ist anscheinend zu groß geworden. Österreich und die Schweiz schaffen sukzessive ihre Neutralität ab.

von Franz Schandl

Die „European Sky Shield Initiative“ (ESSI) ist eines der größten und ambitioniertesten Rüstungsprojekte in Europa. 19 Staaten wollen gemeinsam einen flächendeckenden Luftabwehr-Schutzschirm über weite Teile des Kontinents spannen. Ein entsprechendes Dokument wurde letzten Freitag in Bern unterzeichnet. Sky Shield soll eine Art Einkaufsplattform sein. Als Kollektiv mehrerer europäischer Länder trete man an die Verteidigungsindustrie heran, um Infrastruktur zu einem guten Preis zu bekommen, erklärte etwa der Militärexperte Franz-Stefan Gady auf Ö1. Bis zur Etablierung dieser Systeme wird es freilich noch einige Zeit dauern.

„Die neuen Mittel, die vollständig interoperabel und nahtlos in die Luft- und Raketenabwehr der NATO integriert sind, würden unsere Fähigkeit zur Verteidigung des Bündnisses gegen alle Luft- und Raketenbedrohungen erheblich verbessern“, hieß es dazu schon im Herbst 2022 auf der Website der NATO. Interoperabilität, so sagt uns das schlaue Netz, ist die Fähigkeit verschiedener Systeme, Geräte, Anwendungen oder Produkte, sich zu verbinden und auf koordinierte Weise zu kommunizieren, ohne dass der Endnutzer etwas dafür tun muss. Im Ernstfall braucht es somit keiner besonderen Genehmigung seitens der Mitglieder. Nicht spezifisch soll auf etwaige Herausforderungen reagiert werden, sondern das vom NATO-Hauptquartier vorgegebene Programm wird für alle, auch für die Neutralen verbindlich. Nicht nur das Zustandekommen ist ein bedeutender Erfolg des deutschen Verteidigungsministers Boris Pistorius, sondern auch dass er Österreich und die Schweiz da gleich en passant einkassiert hat. Zweifellos handelt es sich um eine Art Superbooster der Allianz.

Es war Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP), der bereits vor Jahren die österreichische Neutralität, Resultat eines Staatsvertrags zwischen der Zweiten Republik und den Besatzungsmächten aus dem Jahr 1955, zu einem „Element der Selbstdefinition“ degradierte. Laut solcher Selbstdefinitionen erklären nun auch die beigezogenen Experten, dass dieser Beitritt zu Sky Shield mit der Neutralität vereinbar sei. Man hätte es nicht anders erwartet. Es handelt sich um einen akkordierten Schritt, der, um vollendete Tatsachen zu schaffen, rasch vollzogen werden muss. Speed kills. Letztlich werden damit Österreich und die Schweiz in die NATO integriert ohne beitreten zu müssen. Man erspart sich lästige Grundsatzdebatten, während die Anbindung an das westliche Militärbündnis stracks um einen Zacken weitergedreht wird. Alte Neutralitäten flutschen ins Nichts.

Zu diskutieren wäre wenig, schließlich geht es um den Schutz vor äußeren Aggressoren. Wer die sind, ist klar. Sky Shield soll vor russischen Luftangriffen schützen. Denn dort, und nur dort, haust und lauert das Böse. Man selber sei ein unschuldiges, rein defensives Bündnis von Freiheit und Demokratie. Dieses imaginierte Europa geht immer davon aus, keine Bedrohung zu sein, sondern allenfalls bedroht zu werden. „Die Neutralität verteidigt uns nicht und sie schützt uns nicht“, sagt Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP). Der bestechende aber beschränkte Gedanke, dass ausschließlich Waffen schützen und nicht Verhaltensweisen scheint einer solchen Denke gar nicht zu kommen. Selbst die Diplomatie ist inzwischen auf dem Abstellgleis gelandet. Alle Zeichen stehen auf Konfrontation.

Auch die Militärs spüren wieder Oberwasser. Endlich werden sie nicht mehr ausgehungert, endlich dürfen sie teure Waffensysteme anschaffen. Endlich das haben und tun dürfen, was man immer schon gewollt hat. Verteidigungspolitisch spricht man ebenfalls von „Zeitenwende“, und ist hoch erfreut. Abrüsung (oder gar Armeeabschaffung) wird zu einer Idee von vorgestern, die Zukunft gehört der Aufrüstung. Erstmals seit langem steht das Bundesheer nicht zur Disposition, erstmals seit langem wird seinen Forderungen weitgehend entsprochen. In den militärischen Sektoren knallen die Sektkorken. Auf jeden Fall verdanken wir die geplante Aufrüstung fast ausschließlich dem Krieg in der Ukraine und den eigenartigen Schlussfolgerungen, die gezogen werden.

Anders als in Finnland (oder bald Schweden) wird man zwar der NATO noch nicht beitreten, aber irgendwann in nicht so fernen Tagen wohl meinen, dass die materielle Zugehörigkeit auch nach einer formellen Ratifizierung schreit. „Warum bekennen wir uns nicht endlich zu einer Vollmitgliedschaft in der NATO?“, fragt nicht nur ein Poster in irgendeiner Tageszeitung. Barbara Toth, Redakteurin des linksliberalen Falter, nennt die Neutralität „nur mehr eine ‚Chimäre‘ und wir das endlich aussprechen sollten.“ Eine offene Kampagne für den NATO-Beitritt ist allerdings nach wie vor heikel, daher wird man sie vorerst unterlassen. Es geht auch so.

Was man aber nicht lassen wird, ist, dass dezidierte Kritik fortan den sogenannten radikalen Rändern der Gesellschaft zugeordnet wird, sprich Extremisten von Rechts und Links. Die Hufeisenhypothese ist en vogue. Einmal mehr gerät die ganze Debatte auf eine obskure Ebene. Sämtliche Einwände werden zu einem ungenießbaren Brei verrührt, um sie kollektiv zu erledigen. Weil die FPÖ gegen die Eliminierung der Neutralität ist, sind alle anderen, die auch dagegen sind, irgendwie mit den Freiheitlichen kompatibel. Proteste werden als populistisch punziert, wenn nicht gar als rechtsextrem diskreditiert. Zuschreibungen werden redundant vorgetragen.

Aktuell geht es um Framinig und Wording. Die Identitätsspirale dreht vorhersehbare Windungen: USA = NATO = EU = Europa = globaler Norden = unsere Werte. Man müsse wissen, wohin man gehöre und man müsse dabei und dafür sein. Das Imperium gibt vor. Der Westen soll zu einem Westblock werden. Militärische Kompetenzen sollen letztlich nur noch in den entsprechenden Kommandozentralen des Bündnis konzentriert sein. „Interoperabel und nahtlos“ schreiten wir der Zukunft entgegen. Mit der angestrebten Beteiligung an Sky Shield wird man jedenfalls zum Glied der neuen NATO-Luftabwehr, auch wenn man gar nicht NATO-Mitglied ist. Natürlich wurde bei der Unterzeichnung eine nichtssagende neutralitätsrechtliche Zusatzerklärung beigegeben, festgehalten wurde, dass Österreichs „besondere verfassungsrechtlichen Gegebenheiten berücksichtigt werden“. Dass die Österreicher puncto Neutralität schummeln, ist nicht neu, für die Schweiz hingegen ist das durchaus ein Novum.

Es ist relativ einfach: Wer sich einem militärisches System der NATO unterwirft, ist nicht mehr neutral. Durch solch einen Schritt haben sich die Neutralen entschieden, dass sie auf Perspektive nichts mehr zu entscheiden haben. Für die Neutralität stellt die europäische Himmelsabwehr ein Himmelfahrtskommando dar.

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