von Franz Schandl
Stand on hills of long forgotten yesterdays,
pass amongst your memories told returning ways
(Yes, Tales from topographic oceans (1973))
Wenn ich in mich gehe und nichts verdränge, dann fühle ich mich umstellt. So viele Demente in meiner nahen Verwandtschaft gab es noch nie. So weit mir bekannt, sind unzählige meine Vorfahren ohne Anzeichen geistigen Verfalls recht alt geworden. Ganz stimmt das vielleicht nicht, denn meine bis zuletzt rüstige Großmutter hat mit ungefähr 95 damit doch noch angefangen. Einmal verlief sie sich in ihrem geliebten Wald und kannte sich gar nicht mehr aus. „Wem gehöre ich denn?“, fragte die hochbetagte Frau. Irgendjemand nahm sie an der Hand und brachte sie nach Hause. Dort, bei uns, war sie bis zu ihrem Schluss gut aufgehoben. Zu ihrem Neunzigsten hat sie sich aber noch eine Geburtstagsrede gehalten, die alle Festgäste beeindruckte. Ihr Sohn, mein Vater, wies schon als Endsiebziger Gedächtnislücken auf, die sich allmählich, wenn auch langsam vergrößerten, auch wenn wir manchmal nicht wussten, ob er sich nicht absichtlich dumm stellte, weil er dann mehr bedient wurde. Wäre er nicht vor zwei Jahren gestorben, wäre er inzwischen aber Teil der Statistik. Im vergleichbaren Alter waren seine Mutter und auch sein Vater noch absolut hell.
Die Betroffenen werden immer jünger. Auch in meiner Umgebung. Zwei Schwestern meiner Mutter etwa, 77 und 74 Jahre alt. Die Ältere ist schon einige Zeit im Heim, sie erkennt oft nicht einmal ihre Kinder. Ich habe sie ungefähr fünf Jahre nicht mehr gesehen, gelegentlich erzählen mir ihre Söhne von ihr. Sie ist nun bereits sehr lange ausgelagert und praktisch verabschiedet. „Ach, die lebt auch noch?“, sagen die Leute im Dorf. Ihre jüngere Schwester, wohnt noch alleine in ihrem Haus, wird ambulant betreut, doch niemand weiß, wie lange das noch gutgeht. Alle fünf Minuten fragt sie mich das Gleiche, wenn ich sie besuche. Der Prozentsatz meiner dementen Anverwandten ist inzwischen hoch, so hoch, dass ich fürchten muss, dass dieser Kelch möglicherweise an mir nicht vorbeiziehen wird. Noch habe ich keine Angst, aber wie ist das in fünf oder zehn Jahren? Sind entfallene Eigennamen bereits das erste Kennzeichen einer getrübten Zukunft?
Die in die Umdunkelung Geschickten werden auch immer mehr. Innerhalb nur einer Generation wurde eine seltene Gegebenheit zu einem Massenphänomen. Demenz verbreitet sich in einem geradezu fulminanten Tempo. Da ist nicht mehr von Ausnahmen zu sprechen, denn die Ausnahmen nehmen überhand, werden zur Regel, überschreitet man ein gewisses Alter. Natürlich werden wir älter, aber meist werden wir krank und nicht gesund älter, sind abgefüllt mit Medikamenten und Drogen, waren zeitlebens unkontrollierbaren Umwelteinflüssen ausgesetzt. Auf jeden Fall geraten wir in die Fänge der Medizin. Patienten haben wir zu sein, was stets meint: Zu-Behandelnde, nicht Handelnde.
Vor allem das Nahe ist den Dementen nicht mehr des Merkens würdig. Da geht nichts mehr rein in die Birne, im Gegenteil, auch das, was schon drinnen ist, verliert sich. Sie lernen nicht zu, sie verlernen. Sie sind aus dem Leben zwar nicht ausgetreten, aber doch weggetreten. Anfangs finden sie noch diverse Ausgänge, doch zusehends werden diese Ausgänge weniger, sind verstellt oder vermauert, bis überhaupt kein Ausweg mehr da ist. Demenz gleicht einem sich selbst verschließenden Labyrinth. Demenz hat eine totalitäre Tendenz. Man spürt, wie das Jenseits im Diesseits wächst.
„Mein Kopf ist voller Löcher!“, sagt die Mutter meiner Frau (85), die in manchen Momenten noch weiß, was da mit ihr geschieht. Sie sagt es mit großem Missfallen. Merken sie sich möglicherweise nichts mehr, weil sie sich so viel merken mussten? Sind unsere kognitiven Kapazitäten vielleicht insgesamt an die Grenzen ihrer Belastung gestoßen? Kollabiert in der Demenz eine ganze Spezies an den von ihnen errichteten Lebensbedingungen? Ist sie die immanente Negation der Devise vom „Lebenslangen lernen!“, einem Imperativ, der sowieso bedrohlich nach lebenslanger Haft klingt?
Wenn das Sorgen nicht mehr klappt, steht Entsorgen auf der Tagesordnung. Die outgesourcten Apparate des medizinisch-technischen Komplexes warten bereits. Sie wachsen ständig. Unser Leben, da es nun mal so organisiert ist, zwingt dazu, diese Personen auszusortieren. Wir sind solchen Herausforderungen weder mental noch sozial gewachsen. Nur selten sind wir in der Lage unsere Nächsten im Alltag zu halten. Meist landen sie in den Sonderzonen des Vortodes. Einmal eingeliefert, kommen sie nie wieder raus. Sie sterben noch nicht wirklich, aber sie leben auch nicht mehr so richtig, selbst wenn sie noch lange existieren. So leben sie zwar weiter, aber sie sind nicht mehr da. Präsenz und Absenz geben sich in der Demenz ein gar seltsames Stelldichein.
„Denn Bleiben ist nirgends“, heißt es in Rilkes Duineser Elegien. Sterben meint im altbekannten Normalfall: Der Körper nichtet sich und nimmt den Geist, ohne ihn zu fragen, auch gleich mit. Durch die Demenz erleben wir einen doppelten Abgang, der Geist verabschiedet sich schon im Voraus und hinterlässt den Körper, möge der nun mit sich alleine zurechtkommen. Das Dasein verliert sein kognitives Fundament, ja das jeweilige Exemplar verliert zusehends das dafür lebensnotwendige Selbstbewusstsein. Zuerst verdirbt die Reflexion, doch dann wird es auch zunehmend für die Reflexe prekär. Es ist ein Untergang in Zeitlupe.
Eins verliert sich, ohne dass es im Sterben liegt. Was macht das mit einem und einer und was macht es mit Verwandten, Freunden und Bekannten? Diese Bewusstseinslosigkeit betrifft nicht nur die Dementen, sondern auch, wenn auch anders, ihre Angehörigen. Gemeint ist insbesondere die reelle Verabschiedung lang vor dem tatsächlichen Abschied. Es stellt sich weiters die Frage, wie unsere Trauer sich verändert, da ihre Intensität in der verbleibenden Zeit verpufft. Denn nicht erst der Tod vollzieht die Trennung der Liebenden, sondern diese vollzieht sich sukzessive in einem Abschied auf Raten. Die abzuschreiben sind, sind schon abgeschrieben. Das ist freilich eine böse und harte Erkenntnis.
Sterben bedeutet, dass der Körper im Begriff ist ein kategorisches „Nein!“ zu setzen. Das nennen wir gemeinhin „Tod“. Aber in diesem unseren Fall tut der Körper sehr wohl noch, nur der Geist spielt nicht mehr mit, fällt so gänzlich aus seiner Rolle, lässt den Leib alleine weitermachen, sagt: „Du, ich will nicht mehr!“. Wobei der Geist nicht ins Nichts stürzt, sondern in einem ganz seltsamen grauen Zwischenreich fortwährender Eintrübung sich abwickelt. Aus Hellgrau wird Dunkelgrau. Der Körper indes läuft weiter, verliert aber zusehends an Routine. Demenz beginnt als Angriff auf das Spezifische, um aber in fortgeschrittenem Stadium zu einem Angriff auf das Allgemeine zu werden. Derlei ist zwar verzögerbar, aber nicht revidierbar. Nötig erschiene mir eine Erweiterung der Philosophie des Sterbens. Dasein und Nichts an der Demenz zu justieren, wäre sicher eine spannende theoretische Herausforderung.
P.S.: Inzwischen ist auch meine jüngere Tante im Pflegeheim.