Das Ende von etwas

Den Kapitalismus überwinden? Wie soll das gehen? Doch tatsächlich hat die Überwindung bereits begonnen. Die Frage ist nur noch: Wird das Ende barbarisch sein – oder finden wir eine zivilisierte Art des Auswegs?

Von André Gorz

Die Frage nach dem Weg aus dem Kapitalismus war nie so aktuell wie heute. Sie stellt sich in radikal neuer Weise und Dringlichkeit. Aufgrund seiner Entwicklung selbst – technowissenschaftliche Umwälzung, Informatisierung und Roboterisierung – hat der Kapitalismus eine innere wie äußere Grenze erreicht, die er nicht zu überschreiten vermag und die ihn zu einem System macht, das nur mit Hilfe von Tricks die Krise seiner grundlegenden Kategorien – Arbeit, Wert, Kapital – überlebt.

Die Kapitalmasse, die die Finanzindustrie an sich zieht, übersteigt bei Weitem jene der Realwirtschaft. Man mag die Spekulation, die Finanzparadiese, die Undurchsichtigkeit und die fehlende Kontrolle der Finanzindustrie noch so sehr anklagen – insbesondere derHedge-Fonds –, die Drohung einer Depression, ja des Zusammenbruchs der Weltwirtschaft ist in keiner Weise einer fehlenden Kontrolle geschuldet, sondern vielmehr der Unfähigkeit des Kapitalismus, sich zu reproduzieren. Er lebt und funktioniert einzig auf immer prekäreren fiktiven Grundlagen.

Die „ökologische Umstrukturierung“ kann die Krise des Systems nur verschärfen. Es ist unmöglich, eine Klimakatastrophe zu verhindern, ohne radikal mit den Methoden und der ökonomischen Logik zu brechen, die seit150 Jahren zu dieser Katastrophe führen. Wenn man die derzeitige Tendenz fortschreibt, wird sich bis zum Jahr 2050das Weltbruttoinlandsprodukt um den Faktordrei oder vier vervielfacht haben. Doch dem Bericht des UNO-Klimarats zufolge müssten bis zu diesem Datum die CO2-Emissionen um 85 Prozent sinken, will man die Klimaerwärmung auf maximal 2 Grad Celsius begrenzen. Denn über 2 Grad Celsius hinaus werden die Folgen irreversibel und nicht beherrschbar sein.

Der Wachstumsrückgang ist also ein Überlebensgebot. Es setzt jedoch eine andere Ökonomie, einen anderen Lebensstil, eine andere Zivilisation, andere gesellschaftliche Verhältnisse voraus. Solange sie fehlen, könnte der Zusammenbruch nur mittels Restriktionen, Rationierungen, autoritärer Zuteilungen von Ressourcen verhindert werden, wie sie für eine Kriegswirtschaft charakteristisch sind. Der Weg aus dem Kapitalismus wird also auf jeden Fall stattfinden, ob auf zivilisierte oder auf barbarische Weise. Die Frage betrifft allein die Form, die das Ende nehmen, und den Rhythmus, in dem es erfolgen wird.

Die barbarische Form ist uns schon vertraut. Sie überwiegt in mehreren Regionen Afrikas, die beherrscht werden von Kriegsherren, von der Plünderung der Ruinen der Moderne, von Massakern und Menschenhandel, das alles vor dem Hintergrund des Hungers. Die „Mad-Max“-Filme waren vorweggenommene Szenarien.

Eine zivilisierte Form des Auswegs aus dem Kapitalismus dagegen wird nur sehr selten erwogen. Bei der Erörterung der drohenden Klimakatastrophe wird im Allgemeinen eine „Bewusstseinsänderung“ beschworen, aber die Natur dieser Veränderung, ihre Bedingungen, die auszuräumenden Hindernisse scheinen die Vorstellungskraft zu übersteigen. Eine andere Wirtschaft, andere gesellschaftliche Verhältnisse, andere Produktionsweisen ins Auge zu fassen gilt als „unrealistisch“, als wäre die Gesellschaft der Ware, der Lohnarbeit und des Geldes unüberwindbar. In Wirklichkeit weist eine Fülle von Indizien darauf hin, dass diese Überwindung bereits begonnen hat und dass die Chancen eines zivilisierten Auswegs aus dem Kapitalismus von unserer Fähigkeit abhängen, die Tendenzen und Praktiken zu erkennen, die die Möglichkeit dazu ankündigen.

Der Kapitalismus verdankt seine Expansion und seine Herrschaft der Macht, die er innerhalb eines Jahrhunderts über die Produktion wie über den Konsum gewonnen hat. Und diese Macht beginnt nun infolge der informationellen Revolution rissig zu werden. In einem ersten Schritt hatte die Informatisierung das Ziel, die Produktionskosten zu senken. Um zu verhindern, dass diese Kostensenkung zu einem entsprechenden Rückgang des Preises der Waren führte, mussten diese so weit irgend möglich den Marktgesetzen entzogen werden. Dieser Vorgang besteht darin, den Waren unvergleichliche Eigenschaften zu verleihen, dank deren sie ohne Äquivalent erscheinen und folglich aufhören, als simple Waren zu wirken.

Der Handelswert (der Preis) der Produkte musste also mehr von ihren immateriellen Eigenschaften – Stil, Neuheit, Prestige der Marke, Seltenheit, „Exklusivität“ – als von ihrer substanziellen Nützlichkeit (dem Gebrauchswert) abhängen. Die unvergleichbaren Eigenschaften verhelfen der herstellenden Firma zum Äquivalent eines Monopols und zur Möglichkeit, sich eine Neuheits-, Seltenheits-, Exklusivitätsrente zu sichern. Diese Rente verschleiert, kompensiert und überkompensiert häufig die Verminderung des Werts im ökonomischen Sinn, den die Senkung der Produktionskosten für die Produkte als Waren mit sich bringt. In ökonomischer Hinsicht schöpft die Innovation also keinen Wert; sie ist nur das Mittel, Knappheit – eine Rentenquelle – zu erzeugen und zum Schaden der Konkurrenzprodukte einen Mehrpreis zu erzielen. Der Anteil der Rente am Preis einer Ware kann zehn-, 20- oder 50-mal höher sein als ihre Herstellungskosten, und das gilt nicht nur für Luxusartikel; es gilt auch für gängige Gebrauchsartikel wie Turnschuhe, T-Shirts, Jeans, Mobiltelefone, CDs und so weiter.

Wenn das Anwachsen der Rente zum maßgeblichen Ziel der Firmenpolitik wird, dann bezieht sich die Konkurrenz zwischen den Firmen in erster Linie auf ihre Innovationsfähigkeit und -schnelligkeit. Sie versuchen daher, einander durch neue Modelle oder Stile zu übertreffen, durch den Erfindungsreichtum ihrer Marketingkampagnen. Die Verringerung der Haltbarkeit der Produkte, die Unmöglichkeit, sie zu reparieren, wird zum entscheidenden Mittel, das Umsatzvolumen zu erhöhen. Sie zwingt die Firmen, ständig neue Bedürfnisse und Wünsche zu erfinden, den Waren einen symbolischen, gesellschaftlichen, erotischen Wert zu verleihen, eine „Konsumkultur“ zu verbreiten, die auf die Individualisierung, die Selbstüberhebung, die Rivalität, die Eifersucht setzt, kurz, auf das, was ich an anderer Stelle die „antisoziale Sozialisation“ genannt habe. – In diesem System widersetzt sich alles der Autonomie der Individuen, ihrer Fähigkeit, über ihre gemeinsamen Bedürfnisse nachzudenken; sich über die beste Art zu verständigen, die Verschwendung abzuschaffen, die Ressourcen zu schonen, zusammen, als Produzenten und Konsumenten, eine gemeinsame Norm des Ausreichenden zu erarbeiten – dessen, was Jacques Delors „genügsamen Überfluss“ nannte.

Und doch verliert die „Diktatur über die Bedürfnisse“ an Kraft. Der Einfluss, den die Firmen auf die Konsumenten ausüben, wird schwächer, trotz der explodierenden Ausgaben für Marketing und Werbung. Die Tendenz zur Selbstproduktion für den Selbstverbrauch gewinnt an Boden aufgrund des wachsenden Gewichts, das die immateriellen Inhalte in der Natur der Waren haben. Das Monopol des Angebots entgleitet nach und nach dem Kapital.

Es war nicht schwierig, immaterielle Inhalte zu monopolisieren, solange die Kenntnisse, Ideen, Konzepte, die bei der Produktion und Konzeption der Waren aufgewandt wurden, in Bezug auf Maschinen und Artikel definiert wurden, in die sie im Hinblick auf einen präzisen Gebrauch eingeflossen waren. Maschinen und Artikel konnten patentiert, die Monopolstellung konnte geschützt werden. Das öffentliche Eigentum an Kenntnissen und Konzepten wurde durch die Tatsache unmöglich gemacht, dass sie untrennbar mit den Gegenständen, in denen sie sich materialisierten, verbunden waren. Sie waren ein Bestandteil des fixen Kapitals. Doch alles ändert sich, sobald die immateriellen Inhalte nicht mehr untrennbar mit den Produkten, die sie enthalten, verbunden sind, nicht einmal mit den Personen, die sie besitzen; wenn sie zu einer von jeder besonderen Nutzung unabhängigen Existenz gelangen und sich, in Software übersetzt, zu minimalen Kosten in unbegrenzter Menge reproduzieren lassen. Dann können sie ein im Überfluss vorhandenes Gut werden, das aufgrund seiner unbegrenzten Verfügbarkeit jeden Tauschwert verliert und als kostenloses Gemeingut in den öffentlichen Bereich eingeht – es sei denn, es gelingt, das zu verhindern, indem der unbegrenzte Zugang und Gebrauch, für die es sich eignet, untersagt wird.

Das Problem, auf das die „Wissensökonomie“ stößt, rührt daher, dass die immaterielle Dimension, von der die Rentabilität der Waren abhängt, im Zeitalter der Informatik nicht von derselben Natur ist wie die Waren: Sie ist nicht das Privateigentum der Unternehmen oder von deren Mitarbeitern; aufgrund ihrer Natur lässt sie sich nicht privatisieren und kann infolgedessen keine wirkliche Ware werden. Sie kann lediglich als Privateigentum und Ware verkleidet werden, indem man mit Hilfe juristischer oder technischer Kunstgriffe (geheime Zugangscodes) ihre exklusive Nutzung gewährleistet. Diese Maskierung ändert jedoch nichts daran, dass das auf diese Weise verkleidete Gut in Wirklichkeit Gemeingut ist: Es bleibt eine unverkäufliche Nicht-Ware, die freien Zugang und freie Verwendung nur deshalb nicht zulässt, weil sie immer möglich sind, weil „Raubkopien“, „Imitationen“, untersagte Nutzungen auf sie lauern. Der sogenannte Eigentümer selbst kann sie nicht verkaufen, das heißt das Privateigentum auf einen anderen übertragen, wie er es bei einer echten Ware tun würde; er kann lediglich ein Zugangs- oder Nutzungsrecht an ihnen „unter Konzession“ verkaufen.

Damit besteht die Grundlage der Wissensökonomie in einem Reichtum, der dazu bestimmt ist, Gemeingut zu sein, woran auch alle Patente und Copyrights nichts ändern, durch die er privatisiert werden soll: Das Zeitalter der Unentgeltlichkeit breitet sich unaufhaltsam aus. Die Informatik und das Internet untergraben die Herrschaft der Ware an ihrer Basis. Alles, was sich in eine digitale Sprache übersetzen und ohne Kosten reproduzieren, kommunizieren lässt, neigt unweigerlich dazu, ein Gemeingut, ja ein universelles Gemeingut zu werden, sobald es allen zugänglich und für alle nutzbar ist. Jeder kann mit seinem Computer immaterielle Inhalte wie Design, Konstruktions- oder Montagepläne, chemische Formeln und Gleichungen reproduzieren; seine eigenen Stile und Formen erfinden; Texte drucken, CDs brennen, Bilder reproduzieren. Mehr als 200 Millionen Filme, Musikstücke, Texte und andere kreative Entwicklungen sind derzeit „unter Konzession“ zugängliche creative commons. In Brasilien brennen die Jugendlichen in den Favelas mehr CDs pro Woche, als die CD-Industrie pro Jahr auf den Markt bringt. Drei Viertel der 2004 produzierten Computer sind in den Favelas aus Teilen von Altmaterial selbst hergestellt worden. Die Regierung unterstützt die informellen Kooperativen und Gruppierungen der Selbstproduktion und Selbstversorgung.

Claudio Prado, der die Abteilung Digitale Kultur im Kulturministerium Brasiliens leitet, sagte dazu: „Die Beschäftigung verschwindet langsam. Wir hoffen, das beschissene 20. Jahrhundert zu überspringen und vom 19. direkt ins 21. Jahrhundert überzugehen.“ Beispielsweise die Selbstproduktion der Computer ist von offizieller Seite, wie gesagt, gefördert worden: Es geht darum, „die Aneignung der Technologien durch die Nutzer im Hinblick auf gesellschaftliche Veränderungen zu fördern“. Die nächste Etappe wird logischerweise die Selbstproduktion der Produktionsmittel sein.

Im Augenblick kommt es darauf an, dass das Privateigentum an den Produktionsmitteln und damit das Monopol über das Angebot langsam unmöglich werden; dass folglich der Einfluss des Kapitals auf den Konsum zurückgeht und dass sich dieser vom Marktangebot befreien kann. Es handelt sich hier um einen Bruch, der den Kapitalismus an der Basis untergräbt. Der Kampf zwischen der „Software als Eigentum“ und der „freien Software“ (frei, free, ist auch das englische Äquivalent für „kostenlos“) war der Anstoß für den zentralen Konflikt der Epoche. Dieser greift um sich und mündet in den Kampf gegen die Vermarktung der Primärreichtümer – des Bodens, des Saatguts, des Genoms, der Kulturgüter, des Wissens und der gemeinsamen Kompetenzen: alles wesentliche Bestandteile der Alltagskultur und Vorbedingungen für die Existenz einer Gesellschaft. Von der Wendung, die dieser Kampf nehmen wird, hängt es ab, ob der Ausweg aus dem Kapitalismus eine zivilisierte oder eine barbarische Form annimmt.

Die High-Tech-Mittel zur Selbstproduktion machen die industrielle Megamaschine virtuell obsolet. Claudio Prado beruft sich auf die „Aneignung der Technologien“, weil sich alle ihren gemeinsamen Schlüssel – die Informatik – aneignen können. Weil, wie Ivan Illich es verlangte, diese konvivialen Werkzeuge „jeder ohne Schwierigkeiten nutzen kann, so oft oder so selten er es wünscht, ohne dass dies die Freiheit des anderen, ein Gleiches zu tun, beschneidet“.

Die High-Tech-Werkzeuge, die schon bestehen oder gerade entwickelt werden und die im Allgemeinen mit Peripheriegeräten vergleichbar sind, weisen alle in eine Zukunft, in der praktisch alles Notwendige und Wünschenswerte in kooperativen oder kommunalen Werkstätten hergestellt werden kann; in der die Produktionstätigkeiten verbunden werden können mit dem Experimentieren und der Forschung, mit der Schaffung neuer Geschmacksrichtungen, Düfte und Materialien, mit der Erfindung neuer Formen und Techniken auf dem Gebiet der Landwirtschaft, des Bauwesens, der Medizin et cetera. Die kommunalen Selbstproduktionswerkstätten, miteinander vernetzt, können ihre Erfahrungen, Erfindungen, Ideen, Entdeckungen austauschen oder gemeinsam nutzen. Die Arbeit wird zum Produzenten von Kultur und die Selbstproduktion eine Art der Entfaltung.

Für eine derartige Entwicklung spricht der Umstand, dass es viel mehr Kompetenzen, Talente und Kreativität gibt, als die kapitalistische Ökonomie verwenden kann. Dieser Überschuss an menschlichen Ressourcen kann nur in einer Ökonomie produktiv werden, in der die Schaffung von Reichtum nicht den Rentabilitätskriterien unterliegt.
Ich behaupte nicht, dass diese radikalen Veränderungen Wirklichkeit werden. Ich sage nur, dass wir zum ersten Mal hoffen dürfen, dass sie Wirklichkeit werden. Die Mittel da- zu existieren, ebenso die Menschen, die sich ihnen methodisch widmen. Wahrscheinlich werden Südamerikaner oder Südafrikaner die Ersten sein, die in den benachteiligten Vororten der europäischen Städte Selbstproduktionswerkstätten nach dem Vorbild derer in den Favelas oder Townships ihrer Heimat errichten.

( 09.05.2009)

aus: „Auswege aus dem Kapitalismus“ erschienen 2009 im Zürcher Rotpunktverlag.

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