Warum die Kopplung von Geben und Nehmen aufhören muss

von Stefan Meretz

Corona zeigt uns die Verrücktheit unserer gesellschaftlichen Organisation. Und wie wir uns damit buchstäblich um unsere Existenz bringen.

Wir halten Tauschen für eine der natürlichsten Sachen der Welt. Ist es aber nicht. Tauschen koppelt Geben und Nehmen aneinander. Du kriegst nur was, wenn du auch was gibst. In modern: Lege Geld auf den Tisch und du bekommst das Begehrte. Oder umgekehrt: Hier ist mein Geld, jetzt gib es mir. Das ist der Kern dessen, was wir als Marktwirtschaft kennen. Ist doch natürlich, oder? Tausch gibt es doch schon ewig? Geld ist eine tolle Erfindung zur Vereinfachung des Tausches? Markt ist eine Errungenschaft? Und überhaupt: Was soll daran schlimm sein? Schauen wir hin, was wir von Corona lernen können.

Erstens ist die Kopplung von Geben nicht natürlich, sondern sozial gemacht. Nun ist es zwar richtig, dass wir auf gesellschaftlicher Ebene für einen Ausgleich von Produktion („Geben“) und Konsum („Nehmen“) sorgen sollten – aber muss das auch individuell gelten? Und, nur am Rande, es ist ja nicht so, dass die perfekte Geben-Nehmen-Kopplungsgesellschaft, der Kapitalismus, eine Balance hinbekäme. Alle wissen mehr oder weniger, dass der Kapitalismus effizient dabei ist, unsere Zukunft und die unserer Kinder zu zerstören.

Zweitens gibt es den Tausch mitnichten schon ewig. Sicherlich gibt es das Bestreben, das Herbeischaffen von Gütern und das Konsumieren dieser Güter in eine Balance zu bringen, schon so lange wie es Menschen gibt. Eigentlich muss jede Gesellschaft das hinbekommen, siehe oben. Doch getauscht haben die Menschen deswegen noch lange nicht, zumindest nicht in dem harten Sinne wie wir es heute kennen.

Tausch als unbedingte Kopplung – man könnte auch sagen: als wechselseitige Erpressung – ist eine moderne Erfindung. Die gute Nachricht: Auch in unserer harten Tausch-Gesellschaft läuft nicht alles darüber. Man stelle sich vor, wir würden von Babys eine Gegenleistung verlangen, wenn wir sie füttern. Oder unserer betagten Nachbarin Geld dafür abknöpfen, dass wir in Coronazeiten für sie das Rezept in der Apotheke einlösen. Und schließlich springt hierzulande auch der Staat ein, wenn Menschen beim harten Tausch nicht mithalten können.

Drittens ist das moderne Geld nicht als Erfindung zur Vereinfachung des Tausches entstanden. Alle kennen die Geschichten von der Kuh und den Schuhen, die sich nicht gut tauschen lassen. Zur Erleichterung sei das Geld erfunden worden. Auch wenn dieser Mythos vermutlich immer noch gelehrt wird, ist es eben das: ein Mythos. Wie wir heute wissen, ist Geld als Schuld auf die Welt gekommen. Modern gesagt: Geld sind Schulden. Historisch waren Macht und Gewalt im Spiel. Früher wurde den Bauern der Zehnte direkt abgepresst – das waren ihre „Schulden“, weil die Fürsten es ihnen aufdrückten. Heute bürden wir uns die Schulden gleichseitig auf: „Sie schulden mir zehn Euro für das Essen“ wie auch „Sie schulden mir ein Essen für die zehn Euro“.

Viertens ist der Markt zwar eine Errungenschaft, aber nur, wenn man großzügig die koloniale Vorgeschichte und die negativen Schlagseiten ausblendet. Das Argument, dass Kolonialismus und Klimazerstörung – um nur diese beiden Beispiele zu nehmen – ja gerade die Unperfektheit des Marktes zeigten, ist ein weiterer Mythos. Denn was heißt „Unperfektheit“? Es ist die unperfekte wechselseitige Erpressung, die der Markt in der Tat perfektioniert. Unter die Räder kommt allerdings, wer im Tausch nicht mithalten kann. Und irgendwer oder irgendwas kommt immer unter die Räder, seien es andere Menschen oder eben das Klima. Markt inkludiert und exkludiert. Er inkludiert die, die im Tausch was zu bieten haben, und exkludiert die, die das nicht können.

Der Tausch-Geld-Markt-Aufwand ist ein riesiger Umweg

So, jetzt zum Punkt. Was zeigt uns Corona?

Das Virus zeigt uns, wie die Kopplung von Geben und Nehmen die Kopplung von Gesundheit und Existenzsicherung zerreißt. Die gesundheitliche Sicherung von Leben verlangt, die Wirtschaft runterzufahren, weil wir die physischen Kontakte minimieren müssen. Nur wenn die Ansteckungsrate niedrig ist, kann das Gesundheitssystem die Flut der schweren Erkrankungen bewältigen und Leben retten. Das haben wir in der Pandemie gelernt.

Gleichzeitig gefährdet genau das die Existenz von Millionen – weltweit gesehen von Milliarden – Menschen, weil sie ihre Geldeinnahmen verlieren. Eben weil die Wirtschaft in vielen Bereichen nicht mehr läuft. Die UNO spricht von drohenden Hungersnöten „biblischen Ausmaßes“ in Ländern des Südens, weil die Menschen sich ihr Essen nicht mehr kaufen können.

Warum ist das so? Die Kopplung von Geben und Nehmen hat noch einen weiteren Seiteneffekt: Sie trennt die Herstellung in den Betrieben (und durch das Heer von Selbstständigen) und die Verteilung, die über den Markt läuft. Die Herstellung hat die Bedürfnisse im Auge, und eigentlich wäre es doch recht einfach, den Bedürftigen, also letztlich allen, das Hergestellte zu geben. Es ist ja da. Doch so geht das nicht, denn es verletzt die Kopplung von Geben und Nehmen.

Also gibt es zusätzlich zum Hergestellten noch etwas, das es eigentlich nicht braucht, um Bedürfnisse zu befriedigen: einen Preis. Den braucht es nämlich, damit das Hergestellte in die Verteilung kommt, sprich: auf dem Tausch-, also Kaufweg erworben werden kann. Dazu brauche ich Geld, denn ohne Geld kein Tausch. Das Mittel dazu, das Geld, bekomme ich, wenn ich anderen etwas verkaufe, und sei es mich selbst als Arbeitskraft. Was für ein Aufwand, nur weil wir Geben und Nehmen strikt aneinander koppeln! Der ganze Tausch-Geld-Markt-Aufwand ist ein riesiger Umweg. Nur wer erfolgreich verkauft, darf mitmachen und seine Existenz erhalten. Alle anderen müssen auf Wohltäter hoffen, auf den Staat oder milde Gaben. Oder sie verhungern eben.

Wir fahren also zum Schutz des Lebens die Wirtschaft teilweise runter und bedrohen damit die Existenz von Menschen, also am Ende auch das Leben. Leben gegen Leben, und die ersten fangen schon an, in utilitaristischer Manier die Leben gegeneinander aufzurechnen. Können wir das Tauschen nicht einfach sein und uns alle gut leben lassen? Verrückter Gedanke?

Nun, nicht der Gedanke ist verrückt, sondern die Sache, die er ausspricht. Es ist verrückt, dass eigentlich alles da ist, was wir brauchen, wir nur nicht rankommen, weil wir es aus Geldmangel nicht kaufen können. Weil wir ohne Geld aus dem Erpressungsdrama des Tausches rausfallen. Wir haben alles und beginnen uns zu fragen, wen wir zuerst opfern, die Kranken und Schwachen oder die aus der niederliegenden Wirtschaft Herausgefallenen? Dass wir zu dieser Frage gezwungen sind, das ist verrückt.

Der Kern von Ökonomie ist der Tausch

Spielen wir mal kurz durch, was wäre, wenn wir das Tauschen sein ließen, wenn wir aufhörten, uns gegenseitig zu erpressen – und Corona wäre da. Wir würden vermutlich genauso Schutzmaßnahmen ergreifen, wir würden Teile der Produktion stilllegen, würden Hygienemaßnahmen vorsehen. Und wir würden dafür sorgen, dass die lebensrelevanten Bereiche weiterlaufen, die Krankenhäuser wie die Nahrungsmittelherstellung und wichtige Infrastrukturen. Wir könnten Corona ohne die Angst, am Ende vor dem Nichts zu stehen, aussitzen. Nicht schön, weil Vieles nicht mehr geht, aber von der Entscheidung, was nicht mehr geht, hängt die grundsätzliche Existenzsicherung nicht ab. Denn niemand muss mehr einen Umweg gehen, um die lebensrelevanten Dinge zu bekommen.

Das Großartige ist: Das gibt es heute schon. Nicht alles ist in die Kopplung gezwungen, sondern Menschen nehmen sich gerade in der Krise die Freiheit, nichts zu verlangen. Wir singen vom Balkon und erwarten keine Münzen, wir kaufen für unsere Nachbarin ein und finden das selbstverständlich, wir nähen Schutzmasken und geben sie weiter. Und sind es nicht diese Akte der Menschlichkeit, die unser Herz mit Freude erfüllen? Warum kann das nicht immer so sein? Weil wir nicht frei sind. Sondern weil uns die Kopplung von Geben und Nehmen diktiert, dass wir nicht menschlich, sondern ökonomisch handeln sollen. Und der Kern von Ökonomie ist nun mal der Tausch.

Nun gibt es das Argument, dass die Dinge, die verteilt werden wollen, auch von irgendwem hergestellt werden müssen. Bekämen die Herstellenden kein Geld mehr, würden sie es nicht mehr tun.

Tatsächlich, so funktioniert wechselseitige Erpressung: Fällt sie weg, ließen alle den Hammer, die Nähnadel und das Kind stehen und liegen. Wirklich? Warum sollten Menschen für etwas, das sinnlos geworden ist – das Geld als Tauschmittel – weiterarbeiten, wenn sie alles Nötige auch ohne Geld bekommen würden? Wenn sie es für den Konsum nicht mehr brauchen, warum sollten sie es in der Produktion haben wollen?

Fällt die Erpressung weg, ist die Frage jedoch: Würden die Menschen das, was wir alle brauchen, freiwillig herstellen? Könnten wir uns vorstellen, dass die Verantwortung, die wir jetzt in Corona-Zeiten verstärkt füreinander empfinden, zum Grundzug unseres Handelns wird? Dass wir nicht nur in Ausnahmezeiten die notwendigen Dinge tun? Ja, dass wir sie sogar gerne tun, weil sie uns gegenseitig zu Gute kommen?

Gewiss, die gesellschaftliche Organisation müsste sich gewaltig ändern. Aber das ist ohnehin nötig, denn wir können auch aus anderen Gründen nicht so weitermachen wie bisher. Würden wir Tausch, Geld und Markt sein lassen, gäbe es eine Reihe von positiven Nebeneffekten. Der Wachstumszwang würde entfallen, weil der Treiber des Geldes weg wäre. Das würde dem Klima gut tun, die Umweltzerstörung reduzieren und die Artenvielfalt bewahren. Wir könnten den Kapitalismus ziehen lassen und uns vom Stress erholen, den er uns schon so lange bereitet.

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