von Stefan Meretz
Um welche Art von Begriff handelt es sich beim Wert, so wie ihn Karl Marx entwickelte? Schnell wird klar, dass es nicht um oberflächliche Beschreibungen geht. Der Wert ist also nicht etwas einfach Daseiendes, (An-)Fassbares oder bloß subjektive Präferenz als „Ausdruck der Wichtigkeit eines Gutes, die es für die Befriedigung der subjektiven Bedürfnisse besitzt“ (Gabler Wirtschaftslexikon), wie etwa die bürgerliche Ökonomik meint. Marx entwickelte den Begriff Wert als objektive Kategorie.
Eine Kategorie entsteht nicht durch schrittweise Abstraktion von Konkretem, etwa um ein in dem bunten Erscheinenden verborgenes Allgemeines hervorzulocken. So könnte ich auf die Idee kommen, einen objektiven Wert in den vielen subjektiven Werten, den oben genannten konkreten einzelnen Präferenzen, zu finden. Schrittweise würde ich die individuellen Besonderheiten wegstreichen und erhielte am Ende – eine leere Menge. Ich erkenne, was ich hineingesteckt hatte: Es sind subjektive Präferenzen.
Marx macht es anders. Er abstrahiert nicht von den Einzelhandlungen, sondern rekonstruiert die typischen gesellschaftlichen Handlungen und bestimmt ihre konstitutiven Aspekte. Konkrete einzelne Handlungen haben für Marx nur illustrativen Charakter. Was ihn interessiert, ist der ideale gesellschaftliche Durchschnitt, denn nur darin findet der Wertbegriff seinen Ort. So rekonstruiert Marx den Wert als gesellschaftliches Verhältnis.
Was bedeutet Wert als Verhältnis? Das wird deutlich, wenn wir uns den Charakter der Tauschhandlungen vor dem Kapitalismus klarmachen. Hier stand jeder einzelne Tauschakt für sich. Relevant war, was jede Seite von der anderen für den je eigenen Gebrauchszweck bekommen wollte und ob sich der Tausch fair anfühlte. Das war jedes Mal neu anzuschauen, neu auszutarieren, neu auszuhandeln. Ob dabei ein vermittelndes Drittes (Münzen oder anderes) im Spiel war, war nicht wesentlich.
Das stimmt ziemlich gut mit dem oben zitierten bürgerlichen Begriff vom Wert als Präferenz überein, der ja gerade keinen objektiven Charakter hat. Objektiven Charakter und allgemeine Existenz bekommt der Wert erst, wenn nicht die einzelne Tauschhandlung der für sich abgeschlossene Bezugsrahmen ist, sondern jeder Tausch gleichsam die ganze Gesellschaft einbezieht. Der einzelne Tausch wird damit Aspekt der gesellschaftlichen Gesamtheit aller Warenvergleiche, in welcher die einzelne Ware ins Verhältnis zu allen anderen Waren gesetzt wird. Nun erst manifestiert sich Wert. Doch was konstituiert sich da als Wert? Das ist die Frage nach dem Inhalt oder der Substanz.
Das Wort Substanz hat schon viele in die Irre geführt. Einige sehen darin eine physiologische Quantität, was Marx’sche Formulierungen auch nahelegen, denn Substanz klingt so physisch. Doch Marx hat Hegel im Denkgepäck, und bei der Substanz kommt das zum Tragen. Traditionell ist die Fassung von Etwas als Substanz der Versuch, dieses Etwas ontisch zu fixieren und als von den Menschen unabhängig Seiendes zu fassen – anstatt dieses Etwas als von den Menschen Gemachtes, etwas durch die Menschen Seiendes zu begreifen. Auch die Substanz entpuppt sich so als ein Verhältnis, als eines des Machens und des Gemachten, das nicht starr, sondern sich permanent ändernd in Bewegung befindet.
Die Substanz des Werts ist bei Marx die abstrakte Arbeit oder genauer: die allgemeine Dimension menschlichen Arbeitens, die Zeitdauer. Doch beim Warentausch werden nicht nur die unmittelbaren Herstellzeiten der Waren verglichen, es ist komplizierter. Da die konkreten Arbeiten jeweils ihre Voraussetzungen benötigen wie Produktionsmittel und -material und qualifizierte Arbeitskraft, die ihrerseits Herstellzeit kosten, erstreckt sich das genannte Substanzverhältnis nicht nur auf die unmittelbaren Aufwände bei der Herstellung der Waren, sondern ebenso auf die mittelbaren Aufwände der Produktionsvoraussetzungen (Ressourcen, Technik, Qualifikation). So kommt es, dass global Aufwände mit geringen Voraussetzungen (Low-Tech) und niedrig bezahlten langen Arbeitszeiten mit solchen mit hohen Voraussetzungen (High-Tech) und höher bezahlten kurzen Arbeitszeiten gleichgesetzt werden, also den gleichen Wert haben. Die Folge: Ungerechtigkeit durch gerechten Tausch.
Das globalgesellschaftliche Wertverhältnis ändert sich permanent – und darin schwimmt die einzelne Ware. Wie kann sie einen festen Preis haben, jedenfalls für eine gewisse Zeit? Um ein hochdimensionales Verhältnis in Raum und Zeit auf eine raum- und zeitlose Dimension abzubilden, braucht es das Geld. Das Geld ist eindimensionale reine Quantität, es ist das Dritte, auf das sich alle Waren beziehen. Aus einer Megarelation der Aufwände wird so ein simpler Geldwert und schließlich ein Preis. Damit ist das Geld logisch dem Wert vorausgesetzt, und gleichzeitig ist es als allgemeine Ware sein Produkt. Folglich sind Geld und Wert gleichursprünglich und erst mit dem Kapitalismus in die Welt gekommen.
Missverständnisse sind an der Tagesordnung (wer weiß, welchen ich aufsitze). Eines besteht darin, Wert und Geld zu ontologisieren, also zu Seinsweisen jeglicher Produktion zu erklären. So wird rückprojizierend auch für den antiken Tausch ein Wertvergleich angenommen, den es dort noch gar nicht geben konnte, weil sich noch kein gesellschaftliches Aufwandsverhältnis herausgebildet hatte. Ebenso wird in frühen Münzen oder Muscheln etc. das Geld vermutet, das erst mit dem Kapitalismus aus Vorformen hervorging. Die Summe der Einzeltausche, ob mit oder ohne Tauschmittel, ergaben vor dem Kapitalismus noch lange kein objektives Gesamtverhältnis, sondern blieben von subjektiven Präferenzen und kulturellen Gepflogenheiten bestimmte Einzelhandlungen.
Erst der Kapitalismus machte mit allem Besonderen, allem Einzelnen, allem Lokalen Schluss und schuf damit umgekehrt erst die Voraussetzung für die Entstehung von Individualität, Anonymität und Autonomie. Paradoxerweise ist es eine Individualität der Uniformität des immer gleichen Warenhandelns, denn wir alle müssen Ware, Wert und Geld täglich aufs Neue reproduzieren, um unsere Existenz zu sichern. Es ist die Individualität der traurigen Getrenntheit des isolierten Einzelnen in einer Welt wahnwitzigen Wachstums, das allein der abstrakten Form des Reichtums entspringt. Ohne ein Ende von Ware, Wert und Geld ist nichts anderes zu haben.