von Franz Schandl
Im Norden Europas nützen die Regierungen gerade das temporäre Umschlagen der Stimmung, außenpolitisch einen neuen Kurs zu setzen. Putin hat geschafft, was sie selbst nicht bewerkstelligen hätten können. So schnell Schweden und Finnland nun in die NATO eilen, so schnell wird Österreich allerdings nicht folgen. Dezidierte Befürworter eines Beitritts sind hier, auch in den politischen Parteien, in der Minderheit. Sie stehen auch nicht wirklich in den Startlöchern. Das hat sich selbst durch diesen Krieg nicht geändert. Vereinzelte Stimmen, vor allem einiger NATO-Spatzen in der ÖVP, wurden sofort vom Kanzler Karl Nehammmer zurückgepfiffen. Im engeren Sinne freilich sind weder Schweden noch Finnland mehr blockfrei, aber auch Österreich oder neuerdings sogar die Schweiz sind kaum noch als neutral zu betrachten. Die Anbindung an die westliche Militärallianz ist weit fortgeschritten. In der aktuellen Auseinandersetzung sind diese Staaten eindeutig Partei und sie betonen das auch.
Die „immerwährende Neutralität“, auf die Österreich verpflichtet ist, hat man in der Alpenrepublik nicht aus freien Stücken gewählt. Sie wurde ihr 1955 durch die Signatarmächte des Staatsvertrags (insbesondere die Sowjetunion) im Austausch zur Souveränität aufgedrängt und erfreute sich vorerst auch nicht unbedingt großer Beliebtheit. Aus der Nötigung wurde aber eine Tugend. Unter der Kanzlerschaft des Sozialdemokraten Bruno Kreisky (1970-1983) gelang es so etwas wie eine aktive Neutralitätspolitik zu entfalten und als Mittler in diversen Konflikten aufzutreten. Kanzler Nehammer hingegen wurde bei seinem letzten Moskauer Besuch nicht einmal in Ansätzen als solcher wahrgenommen. Das frostige Treffen blieb ohne Ergebnis geschweige denn Ertrag, und niemand weiß, was ausgerechnet er dort wollte.
Ende der Neunziger drängte vornehmlich die konservative ÖVP Richtung NATO und auch in der Sozialdemokratie gab es prominente Stimmen. Just zu dem Moment begann die Haider-Partei, bis dahin die vehementeste Befürworterin eines Vollbeitritts, ihre Position fundamental zu ändern. Mittlerweile ist die FPÖ zu einer ehernen Verfechterin der Neutralität geworden. Beantragte sie 1998 im Nationalrat noch den sofortigen NATO-Beitritt, so heißt es nun seitens der Freiheitlichen ganz kategorisch, dass Österreich niemals Teil der Militärbündnis werden dürfe.
Heute gehört die Neutralität zur Folklore der österreichischen Identität. So absurd es klingt, zum allgemeinen Credo avancierte sie erst nach dem Epochenbruch von 1989. So sehr die Bekenntnisse als Konsens erscheinen, so ist die reale Neutralität jedoch eine Fiktion, die einer Überprüfung nicht standhalten könnte. Schon Anfang der Neunzigerjahre wurde die Neutralität faktisch demontiert, man denke nur an die Überfluggenehmigungen für amerikanische Militärflugzeuge. Auch die 1996 nach Bosnien entsandten Bundesheersoldaten standen unter NATO-Kommando. Etc.- Stets ersetzte eine euphemistisch beschworene „Solidarität“ die ausgehebelte Neutralität. Nicht selten wird Österreich wie ein Mitglied der NATO behandelt. Man tut so, als wäre man längst dabei.
Gelegentlich behauptet man sogar, dass NATO-Mitgliedschaft und Neutralität vereinbar wären. Erst vorletzte Woche präsentierte Außenminister Alexander Schallenberg die Neutralität als „Element der Selbstdefinition“. Ein taktisches Verhältnis zu einem Verfassungsgesetz, wäre hierzulande nichts Neues. Da ist man oft ganz und gar situationselastisch. Eine seiner Vorgängerinnen, Benita Ferrero-Waldner (ÖVP), bezeichnete etwa die Luftschläge gegen Afghanistan als Notwehr und nicht als Krieg, daher käme die österreichische Neutralitätsbestimmung gar nicht zur Anwendung. Und auch Alexander Van der Bellen, der jetzige Bundespräsident und damalige Parteichef der Grünen, meinte bereits 1998: „Ich habe übrigens noch nie ein schlechtes Wort über die NATO gesagt.“ Die Aushöhlung der Neutralität ist weit fortgeschritten. Wozu sie noch abschaffen?
Dafür ist eine andere Ex-Außenministerin wegen ihrer russland-affinen Position in Ungnade gefallen. Die von der FPÖ nominierte Karin Kneissel hatte Wladimir Putin 2018 zu ihrer Hochzeit eingeladen, und der war auch prompt erschienen. Zuletzt war sie Autorin von Russian Today und Aufsichtsrätin im Ölkonzern Rosneft. Nun ist sie angeblich ins (westliche) Ausland übersiedelt und versteht sich als „politischer Flüchtling“. Für kräftige Aufregung sorgte auch wiederum der aktuelle Amtsinhaber Schallenberg, als er laut über „maßgeschneiderte Angebote der engstmöglichen Anbindung der Ukraine“ an die EU nachgedacht hat, Angebote, die nicht unbedingt eine Vollmitgliedschaft bedeuten müssten. Mehr hat er nicht gebraucht, um eine Empörung von Kiew bis Brüssel auszulösen. Parteifreunde und der grüne Koalitionspartner gingen auf Distanz. „Ich weiß nicht, was mit Schalli derzeit los ist – sehr unglückliche Aussagen, auch zur Neutralität“, ließ der österreichische EU-Kommissar Johannes Hahn (ÖVP) in einer Botschaft, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war, twittern. Derweil hat der Minister nur festgehalten, was eigentlich Sache ist, dass es nämlich Aufnahmekriterien gibt, die zu erfüllen wären, aber von der Ukraine aktuell nicht erfüllt werden. Selbstverständlich wurde er von diversen formellen wie informellen ukrainischen Vertretungen sogleich virtuell in deren Botschaft zitiert.
In einer im Auftrag des Nachrichtenmagazin profil durchgeführten Umfrage heißt es, dass 40 Prozent der Österreicher die Positionierung der Regierung im Ukraine-Krieg im Großen und Ganzen für richtig halten. 23 Prozent der Befragten empfinden die Haltung der Regierung für zu ukrainefreundlich, aber nur 17 Prozent für zu russlandfreundlich. 20 Prozent verbleiben ohne Angabe. Die geschlossene Phalanx gegen den russischen Feind ist ein Phantasma liberaler Eliten und medialer Kolonnen. Die öffentliche Begeisterung für blau-gelb ist geringer als propagiert. Ohne stetes Trommelfeuer an der ideellen Heimat- und Wertefront käme das noch deutlicher zum Vorschein. Das hat freilich auch wirtschaftliche Gründe, denn Österreich ist das Land, das wie kein anderes in Europa von russischen Gaslieferungen abhängig ist. So billig kriegen wir das nimmer. Den Boykott russischen Öls wird man indes mittragen, denn das betrifft wiederum kaum.