von Maria Wölflingseder
Noch bevor ich in meiner Schulzeit – neben viel belletristischer Literatur – Robert Jungk und Paulo Freire las, kreuzte ein allererster kritischer Denker meinen Weg. Es muss 1972 gewesen sein, als ich mit 14 Jahren erstmals von Ivan Illich hörte. Mein Vater – in seinen katholischen Kreisen im Salzburg der 60er Jahre nicht nur wegen seines dunklen Vollbartes scherzeshalber Fidel Castro genannt – war als mit dem Schulsystem unzufriedener Lehrer begeistert von Illichs Büchern „Die Entschulung der Gesellschaft“ und „Schulen helfen nicht“.
Ivan Illich gehört zu jenen hellsichtigen Köpfen, die bereits früh die Versprechungen der Moderne als Illusion erkannten, und radikale Kritik an den gesellschaftlichen Entwicklungen formulierte. Erziehung und Schulen, Medizin und Gesundheitswesen, Verkehrswesen und Energiewirtschaft, die gesamte Industrialisierung, sie führten in der praktizierten Weise nicht zu mehr Partizipation, Freiheit, Gesundheit und einem guten Leben für alle. Und heute steht sogar der gesamte Planet auf der Kippe.
Illich war in den 70er Jahren sehr bekannt. Seine Bücher erzielten hohe Auflagen und er wurde in Wissenschaft und Medien weltweit eingehend rezipiert. Als jedoch die gesellschaftlichen Emanzipationsbestrebungen schwanden, gab man ihm mitunter deutlich zu verstehen, seine Zeit sei abgelaufen. Da sich aber das, was er bereits vor langem in Frage gestellt hat, gerade in den letzten zwanzig Jahren noch viel bedrohlicher weiterentwickelt hat, müssten seine erhellenden, ja geradezu prophetischen Warnungen im gegenwärtigen Diskurs eine große Rolle spielen. Dem ist jedoch ganz und gar nicht so.
Umso wichtiger, an sein Vermächtnis zu erinnern. Am 2. Dezember jährt sich der Todestag von Ivan Illich zum 20. Mal. Ein Anlass, nicht nur seine Literatur in Erinnerung zu rufen, sondern auch, euch drei aufschlussreiche Bücher – von Martina Kaller-Dietrich, Thierry Paquot und David Cayley – ans Herz zu legen, die das Denken Illichs erläutern und den Bezug zu seiner Biografie herstellen. Sein Lebensweg war genauso außergewöhnlich wie sein Denken, seine Wege zu Erkenntnissen und seine Arbeitsweisen.
Keine Wahrheitssuche ohne Gastlichkeit
In den Streifzügen hat vor allem die Pädagogin Marianne Gronemeyer von der Stiftung Convivial in ihren acht Beiträgen bereitsAspekte von Illichs Erkenntnissen herausgearbeitet. Ein Satz lautet: „Mein Lehrer Ivan Illich, der als Lehrer Gastlichkeit wie kein anderer gepflegt hat, hat in seinen letzten Lebensjahren eher beiläufig darauf hingewiesen, dass Wahrheitssuche und das Ringen um Einsicht überhaupt nur in einem Klima der Gastlichkeit und der Freundschaft, um den gemeinsamen Tisch herum, stattfinden könne …“ (57/2013) – Seine Bücher und Aufsätze, deren Inhalte er immer wieder weiterentwickelte und die Texte dementsprechend ergänzte, entstanden in regem Austausch mit anderen, in Gesprächszirkeln, in den sogenannten Living room consultations.
Auch Lorenz Glatz und Franz Schandl haben in den Streifzügen immer wieder Bezug auf ihn genommen. Im letzten Heft (85/2022) hat Schandl hervorgehoben, dass Illich zu jenen wenigen gehört, die den „Wert“ explizit kritisieren. Auch David Cayley betont dies in seiner umfassenden Einführung des Buches „Ivan Illich: In den Flüssen nördlich der Zukunft“, wenn er auf Illichs Erforschung der Geschichte der Sinne hinweist. In den 80er Jahren entfernte er sich von der Sprache der „Werte“, die er früher verwendet hatte, und begann einfach vom Guten zu sprechen. „Das Gute, wie er es zu verstehen begann, ist das, was in einer gegebenen Situation einzigartig und unverkennbar angemessen ist. Es besitzt einen bestimmten Maßstab, zeigt eine bestimmte Proportion. Es passt und die Sinne können dies wahrnehmen, genau so, wie sie wahrnehmen können, wenn etwas falsch klingt. Werte sind dagegen eine universelle Währung ohne festen Ort oder innere Begrenzung. Sie ordnen und vergleichen anhand ihres Maßstabes alle Dinge nach ihrer Nützlichkeit oder ihrer relativen Knappheit. … Werte untergraben das Gefühl für die richtige Proportion und ersetzen sie durch eine ökonomische Berechnung.“ Illich untersuchte in „H2O und die Wasser des Vergessens“ in welcher Weise in der Vergangenheit die Sinne mit dem Guten in Einklang gebracht wurden und wie dieser Einklang verloren gegangen ist.
Erfindung der Experten
Ein zentraler Punkt in der Analyse und Kritik Illichs ist die – nicht zuletzt durch die Herrschaft der Experten – immer weiter fortschreitende Zurückdrängung der Autonomie des Menschen in der Moderne. Heute, an der Schwelle zum Transhumanismus ist sie bereits dabei, getilgt zu werden. Wie kam es dazu? Ab dem frühen 17. Jahrhundert wurden – wie die Historikerin Martina Kaller beim Illich-Symposium in Wien ausführte – Missetäter nicht mehr kurzerhand gefoltert oder hingerichtet, sondern nun mussten sie ihre Schuld am eigenen Leib sühnen. Dazu wurden Gefängnisse und Erziehungsanstalten installiert. Mit der Entstehung des neuzeitlichen Staates traten die ersten Experten auf den Plan. Sie sollten Strategien für den Umgang mit „Sündern“ entwickeln und Konzepte, um für Zucht und Ordnung und die Rekrutierung von loyalen Untertanen zu sorgen. Die Erziehung in einem monopolisierten Schulsystem brachte aber – auch später in einem modernisierten – weniger Chancen zur Entfaltung der vielfältigen Fähigkeiten und Vorlieben junger Menschen, sondern wirkte vielmehr sowohl stark auf ihre Nivellierung als auch auf die Differenzierung in Erfolgreiche und Verlierer. Außerdem diente sie und dient heute genauso stark der Anpassung an die Herrschaftsverhältnisse.
Kaller hob auch hervor, dass die Wissenschaft für bestimmte Herausforderungen in der Regel mehrere Lösungsvorschläge anzubieten habe. Experten hingegen wollen uns meist nur eine – möglichst warenförmige – Lösung unterjubeln. Als Beispiele nannte sie die Corona-Impfung oder die E-Autos. Jedenfalls wurde unser Dasein im Laufe der Jahrhunderte zunehmend verwaltet und gemanagt. Und um wieviel mehr noch als 1988, als Illich dies konstatierte, werden wir heute von Experten und Expertinnen „diagnostiziert, kuriert, erzogen, sozialisiert, informiert, unterhalten, garagiert, beraten, zertifiziert, gefördert oder beschützt“.
„Weltentfremdete Entsinnlichung“
Illich wurde nicht müde, die Verschiedenartigkeit, die Einzigartigkeit jedes Menschen hervorzuheben, und aufzuzeigen wie diese jedoch krass missachtet werden. Diese Nivellierung und die zunehmende Auslöschung der Selbstbestimmung durch verschiedene Kontrollsysteme und Institutionen gehe auch einher mit einer „weltentfremdeten Entsinnlichung“. Wobei heute die Kontrollinstanzen immer weniger nötig sind, weil die Menschen die Guidelines bereits verinnerlicht haben. Sie uniformieren sich von selber. „Immer tiefer sinkt die sinnliche Wirklichkeit unter die Folien von Seh-, Hör- und Schmeck-Befehlen.“ Es hat eine „einzigartige Geschichte der Entkörperung unserer Wahrnehmung, unserer Begriffe und unserer Sinne“ stattgefunden. Das Ergebnis ist eine „programmierte Hilflosigkeit“.
Heute erfolgt die Selbstwahrnehmung der Menschen immer weniger durch die Sinne, sondern zunehmend via Daten. Daten, die der Fitnesstracker liefert oder die aus den Klicks in den sozialen Medien errechnet werden. Ranking und Rating bestimmen unser Wohl und Weh. Auch dieser Entwicklung war Illich bereits vor Jahrzehnten auf der Spur. Er hatte ein besonders scharfes Auge auf die – geradezu „entmenschlichende Wirkung“ der zunehmenden medialen Verbreitung von Infografiken, von Säulen-, Kreis-, Balken-, und Kurvendiagrammen. Eine „unheimliche Visualisierung von verwaltungsförmigen Abstrakta“ mit „Aussagen ohne Subjekt und Prädikat“.
„Die Erziehung zum unwirklichen Machwerk beginnt mit den Lehrbüchern, deren Text auf Legenden zu Graphik-Kästen zusammengeschrumpft ist, und endet mit dem Sich-Festhalten des Sterbenden an ermunternden Test-Resultaten über seinen Zustand. Erregende, seelisch besetzende Abstrakta haben sich wie plastische Polsterüberzüge auf die Wahrnehmung von Welt und Selbst gelegt.“
Literatur:
Martina Kaller-Dietrich: Ivan Illich – Sein Leben und Denken, Weitra 2007.
Thierry Paquot: Ivan Illich – Denker und Rebell, München 2017.
Ivan Illich: In den Flüssen nördlich der Zukunft. Letzte Gespräche über Religion und Gesellschaft mit David Cayley, München 2006.
Video des Symposiums mit Martina Kaller, Silja Samerski und Franz Tutzer in Wien am 15. September 2022.
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