von Franz Schandl
Die Moderne modert unter dem Vorzeichen der Dystopie. Nicht wenig ist die Rede von ihr und diese wird zusehends mehr. Chic ist das Thema zweifellos auch.
Indes verursacht der Terminus schon auf begrifflicher Ebene einige Probleme. Entweder gibt es gar keine Dystopie, da sie bloß als negative Projektion eines zukünftigen Zustands denkbar ist. Was ist, kann gar nicht dystopisch sein. Auf keine Gegenwart träfe sie dann zu. Gegenwart hingegen wäre das Obligate, die alltäglich erfahrene Normalität. Aktualität und Dystopie schlössen sich also aus. Oder aber, Variante zwei, wir leben andauernd in einer solchen. Auch das ist nicht ganz von der Hand zu weisen, betrachten wir Normalität als das stets Ungewollte. Gegenwart und Dystopie wären also eins.
Utopien in emphatischem Sinne sind hingegen kaum präsent, sie wirken altbacken und langweilig, haben gar nichts vom Prickel eines Katastrophenszenarios. Das Gute wird zusehends verlacht, ist wirklichkeitsfremdes Gutmenschentum. Es muss schon ein schräger Gefühlshaushalt bestimmend sein, wenn gerade das, was wir uns nicht an uns selbst wünschen, doch ziemlich aufgeilt. Man denke ganz naheliegend an Computerspiele oder Filme. Es herrscht eine sadomasochistische Grundstimmung. Diese Mischung aus Unterwerfung und Übergriff bestimmt übrigens auch das gemeine Verhalten in der Corona-Krise. Angst wird zur Grundbefindlichkeit, die auch eifrig geschürt wird. Wir haben uns zu fürchten. Kategorisch versetzt uns die Seuche mit dystopischen Keimen. Auch das ist ansteckend. Wir werden beschädigter rauskommen, als wir reingegangen sind, falls wir überhaupt rauskommen. Denn nach den aktuellen Kriterien ist nicht zu erkennen, wie sich das bewerkstelligen ließe, höchstens das Virus kollabiert in den nächsten Monaten. Das ist nicht ausgeschlossen, aber doch unwahrscheinlich.
Das Leben verlagert sich in virtuelle Räume, Nähe wird zur Gefahr. Die Anderen sind als Bedrohung zu denken. Das digitale Universum wird zum maßgeblichen. Jedes maskierte Exponat hat ein Handy in der Hand oder einen Laptop eingeschaltet, um angeschlossen zu bleiben. Es droht eine Periode von Überwachung und Kontrolle, Sanktion und Stigmatisierung. Selbst Rudimente des Weltvertrauens werden so schnell nicht wiederherstellbar sein, wenn überhaupt. Hochrüstung und Ausweitung des medizinisch-technisch-pharmazeutischen Komplexes und seiner Apparaturen in Wissenschaft und Gesellschaft werden die Folgen sein. Die Lagen sind kryptisch wie die Reflexe.
Im digitalen Zeitalter wird die sinnliche durch die elektronische Kommunikation abgelöst. Das ist fundamental. Wir leben ein Leben, das vor einer Generation nicht einmal gedacht werden konnte, jetzt jedoch zur unhintergehbaren Realität wird. Von der Bürokratie bis zum Sex, vom Geschäft bis zum Gespräch, wir verkehren zunehmend virtuell. Ein Schub folgt dem nächsten. Ein Raum nach dem anderen wird einkassiert. Es geht schneller, als wir begreifen, falls wir überhaupt begreifen, was geschieht. Vielleicht liegt die wahre Dystopie auch darin, nicht mehr begreifen zu können. Kollektiver Wahn greift um sich, auch wenn seine Diversifikationen ganz spezifische und widersprüchliche Ausformungen annehmen.
Kein Konflikt der letzten Jahre war so zugespitzt wie dieser. Die dominante Erzählung ist eine, die nur noch die Nacherzählung duldet und das Gebet einfordert. Kein Aufbruch scheint anzustehen, die vernehmbaren Einwände zum herrschenden Narrativ sind oft noch abgedrehter als der serielle Irrsinn der Konvention. Der Wahn ist ein generelles, kein spezielles Problem. Viel Ende ist zurzeit, aber nirgendwo ein Anfang. Daran haben wir uns gewöhnt und es scheint, als könnten wir uns das auch gar nicht mehr abgewöhnen. Das versäumte Leben wird in pandemischen Zeiten geradezu multipliziert. Die Angst um das Leben (egal ob berechtigt oder übertrieben), schafft dieses prophylaktisch ab. Wir sitzen in der Kammer und geben uns dem Kummer hin. Sosehr es uns auch reicht, uns reicht es noch immer nicht.