… und können nun niemandem mehr die Hand geben.
von Wolf Wetzel
(zuerst publiziert im Magazin Overton 4. 10. 2022)
Erst besetzen sie das AKW Saporischschja in der Ukraine. Anschließend beschießen sie sich selbst. Dann wurde es immer dramatischer. In der Tagesschau vom 9.9.2022 wurden wir in Atem gehalten: „Anhaltender Beschuss, keine externe Stromversorgung mehr, kaum noch ausreichend Personal – im AKW Saporischschja ist die Gefahr einer Nuklearkatastrophe laut IAEA noch einmal deutlich gestiegen.“
Wer könnte diesen Beschuss verursachen? Die „Russen“ oder die „Ukrainer“? Dass niemand sagt: Ich wars! liegt auf der Hand. Was könnten die Motive der möglichen Täter sein? Was kann man an Indizien vorlegen und zusammenfügen? Ist es logisch, naheliegend und geradezu selbsterklärend, dass die „Russen“ sich selbst beschießen? Was hätte die ukrainische Regierung davon? Was ergab die Satelittenüberwachung, die sicherlich dieses Gebiet besonders im Visier hat? Das AKW läuft ja nicht weg und verstecken tut es sich auch nicht? Warum erfahren wir darüber nichts?
Bei einem Beschuss bleiben „Beweisstücke“ zurück, also Munition, Raketentrümmer. Die IAEO-Inspektoren waren im AKW Saporischschja und konnten sich dort frei bewegen. Warum schweigt man darüber, was man dort sicherstellen konnte. Warum gibt es keine „Tatortanalyse“?
Stattdessen eine merkwürdige Erklärung: „Wir spielen mit dem Feuer und etwas sehr, sehr Katastrophales könnte passieren“, erklärte der Leiter der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) nach seinem Besuch im ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja am 6. September 2022 vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) in New York. Seitdem ist die Gefahr der nuklearen Katastrophe aus dem Sinn und aus dem Nachrichten.
Nun sprengen „die Russen“ auch noch ihre eigene Pipeline (Nordstream I und II) in die Luft. Was denn sonst? Erst bezahlten sie für die Pipeline das meiste, also Milliarden an Euro, dann finden sie alles ganz blöd und jagen sie in die Luft. Im „freien Westen“ wird die Ursachensuche auch immer freier – abseits jeder Logik. Man weiß gar nichts und kennt den Schuldigen: Die „Russen“ wollen damit weiter eskalieren, indem sie sich selbst zwei Finger abschneiden. Jawohl, das tut weh, aber ist so perfide, dass niemand es für möglich hält, dass genau dies der Russe tut. Klar, das leuchtet doch jedem ein.
Und auch dieser logische Gedanke ist offensichtlich gänzlich offline: Wenn die Russen ihre eigene Pipeline in die Luft jagen wollen, dann machen sie das gerade dort, wo sie am wenigsten Kontrolle über die Aktion haben: in schwedischen bzw. dänischen Gewässern. Ist einfach auch viel spannender. Außerdem ist den Russen auch zuzutrauen, dass sie gar nicht wussten, dass sie das Ganze auch bei sich zuhause machen können.
Und warum stellen sich die Laufstall-Medien nicht die Frage, warum Russland nicht eine der Pipelines zerstört, die durch die Ukraine führen, um dann diesen Angriff dem ukrainischen Militär in die Schuhe zu schieben? Es wäre ein Kinderspiel! Die südliche Druschba-Pipeline führt über die Ukraine nach Ungarn, Tschechien und in die Slowakei. Warum macht Russland aber genau das nicht? Außerdem verlaufen die Pipelines „Brotherhood“ und „Sojus“ ebenfalls durch ukrainisches Gebiet.
Eines steht fest: Es handelt sich um Staatsterrorismus
Immerhin ist man sich im „freien“ Westen in einem einig: Ein solcher Sabotageakt kann nur von staatlichen Akteuren ausgeführt werden. Damit man dem Gedanken nicht in allen Richtungen nachgeht, dreht man schnell den Spieß um: Der Nato-Rat erklärte, „alle derzeit verfügbaren Informationen“ würden darauf hindeuteten, dass die Lecks das Ergebnis „vorsätzlicher, rücksichtsloser und unverantwortlicher Sabotageakte“ seien.
Man will damit andeuten, dass für unverantwortliche Sabotageaktionen nur Russland in Frage kommen kann. Immerhin steckt in dieser Andeutung auch ein kleiner Hinweis auf einen Terrorismus, der im Kreise der NATO selbstverständlich gepflegt, angewandt und gedeckt wird. Solche Sabotageakte müssen dann einfach nur … verantwortungsvoll ausgeführt und benotet werden. Dass die ukrainische Regierung damit etwas zu tun haben könnte, ist per se auszuschließen, da sie ja am meisten davon profitiert. Logisch oder?
Und das kann man der ukrainische Regierung summa summarum nicht vorhalten: Sie opfert Soldaten, Land und Leben, damit ein Krieg geführt wird, in dem sie nur das menschliche Material und das Territorium stellen. Am Ende, selbst im Falle eines Sieges ist die Ukraine der haushohe Verlierer: Sie werden Bücklinge eines Schuldenberges sein. Dort oben hat die Souveränität, um die angeblich die Ukraine kämpft, die Größe eines Flohs.
Da man der ersten Spur nicht nachgeht, wer könnte Interesse an einem solchen Sabotageakt haben, erübrigt sich die folgende Frage: Hat die Ukraine das technische Knowhow für einen Anschlag in 80 Meter Tiefe auf dänischen/schwedischen Gebiet? Und in der Tat ist eine direkte Beteiligung sehr unwahrscheinlich. Man muss schon ein bisschen suchen, um einen zu finden, der die Frage schnell und zuverlässig beantworten kann: Der ehemalige polnische Außenminister und heutige Europaabgeordnete Radek Sikorski kommentierte auf Twitter ein Foto vom Anschlagsort in der Ostsee erst mit den Worten „Eine Kleinigkeit, aber so große Freude“ und sodann mit „Thank you, USA“.
Dieser reaktionäre Mann hat nicht nur ideologische Gründe für diesen Jubelschrei. Er weiß auch um den ökonomischen Gewinn dieser Nachricht: Nordstream I und II haben die polnischen Regierung um die Durchleitungsgebühren gebracht, die im Fall einer Landführung angefallen würden. Seinen Twitter-Jubel musste er wenig später löschen. Wahrscheinlich hat man ihm gesagt, dass das gar keine Kleinigkeit war …
Und was ist mit dem Hauptsponsor des Krieges in der Ukraine? Was ist mit der Regierung, die lange vor dem Krieg in der Ukraine ab 2022, einen Wirtschaftskrieg begonnen hatte, mit dem unverhohlenen Ziel, die Pipeline Nordstream II zu verhindern, mit allen Mitteln, mit der Verve eines Paten, der sein Territorium absteckt und nur Geschäftspartner duldet, die für ihn „anschaffen“?
„We will – I promise you – we will be able to do it.“
Dann würde man nach Motiven suchen und nach Indizien, die auf eine Täterschaft verweisen können. Nehmen wir zum Beispiel die Ansage des US-Präsidenten Biden Anfang des Jahres 2022: „Wenn Russland einmarschiert … dann wird es kein Nord Stream II mehr geben. Wir werden dem ein Ende setzen.“ Reporter: „Aber wie wollen Sie das genau machen, da… das Projekt unter deutscher Kontrolle ist?“ Biden: „Ich verspreche Ihnen, dass wir in der Lage sein werden, das zu tun.“
Und dann nehmen wir noch ein wichtiges Element bei der Tätersuche dazu: Wer profitiert von einer solchen Aktion am meisten? Die Antwort ist mehr als eindrucksvoll: „Deutschland hat jetzt beide Nord Streams verloren. Und die Chance, russisches Gas für 220 bis 250 Euro für tausend Kubikmeter zu kaufen, es muss jetzt amerikanisches Flüssiggas für 1600 Dollar importieren.“ (Iwan Rodionow, Wirtschaftsexperte der Moskauer Hochschule für Wirtschaft gegenüber der FR vom 30. September 2022)
Wer dem „Iwan“ nicht über den Weg traut, der darf auch aus dieser Quelle schöpfen. Sie heißt nicht Iwan, sondern Antony J. Blinken und ist derzeit US-Außenminister. Am 30.September 2022 erklärte er gegenüber Journalisten ganz frei und stolz, auf die Frage, wie sich die Zerstörung eines der zentralen europäischen Energieversorgungsnetze auswirken werde: „Wir sind jetzt der führende Lieferant von Flüssigerdgas für Europa … Das ist sehr bedeutsam und bietet eine enorme strategische Chance für die kommenden Jahre.“
Jo Bidens Ankündigung war also mehr als eine Selbstanzeige. Und sie war nicht einfach nur dahingesagt, heiße Luft. Im Gegenteil: Staatsterroristische Aktionen gehören zum militärischen Arsenal aller US-Regierungen und haben einen Namen. In Militärkreisen nennt man sie Counterinsurgency Aktionen. Was man unter Counterinsurgency zu verstehen hat, erklärt uns Jochen Hippler in einem Artikel für die Bundeszentrale für politische Bildung 2006 ganz offen und geradezu multilateral:
„Im US-amerikanischen Militär (insbesondere in der US-Army und dem Marine-Corps) wird seit Jahrzehnten an Fragen militärischer Einsätze unterhalb der Kriegsschwelle konzeptionell gearbeitet, auch wenn sich die Begrifflichkeiten immer wieder änderten. Sprach man früher von ‚Small Wars‘, in den 1960er Jahren vor allem von Aufstandsbekämpfung (‚Counterinsurgency‘) und unter Präsident Ronald Reagan von ‚Low-Intensity Conflict‘ (LIC; auch: ‚Low-Intensity Warfare‘), so ist heute von ‚Military Operations Other than War‘ (MOOTW) und ‚Stability and Support Operations‘ die Rede.“
Ein paar Absätze zuvor führt der Autor aus, dass diese Art des Staatsterrorismus längst von der NATO und ihren Mitgliedern übernommen wurde: „Euphemistisch lässt sich formulieren, dass diese Vorstellung von Sicherheitspolitik höchst flexibel ist, sich auf nichts Substanzielles festlegt und zugleich alle Möglichkeiten der Militär- und Sicherheitspolitik out-of-area offen lässt. Es ließe sich aber auch feststellen, dass solche Programmatik im höchsten Maße vage und unklar bleibt, da sie von Konjunktiven („mögliche Entwicklungen könnten entstehen“ etc.) nur so wimmelt. (…) Überspitzt formuliert: Die NATO verpflichtet sich hier zu nichts, ermächtigt sich aber zu allem – je nach aktueller Einschätzung der Situation. Selbst das ‚organisierte Verbrechen‘ die ‚Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen‘ oder ‚die unkontrollierte Bewegung einer großen Zahl von Menschen‘ werden in die Zuständigkeit des Bündnisses gestellt.“
Nichts von all dem deckt sich mit internationalem Recht. Und ausgerechnet die USA und die NATO wollen zusammen genau das beschützen, was sie seit Jahrzehnten unterlaufen bzw. außer Kraft setzen? Um es kurz zu machen: Wäre Russland NATO-Mitglied würde diese „militärische Spezialoperation“ allen NATO-Standards und – Doktrinen genügen.
Out-of-area – down by law
Man muss also kein Geheimnis lüften oder sich in wilden Andeutungen ergehen. In den USA prahlen vielmehr hohe Militärs und Politiker damit – wenn man damit eine Regierung gestürzt, eine unerwünschte Person liquidiert hat oder ein nicht williges Land wirtschaftlich ruinieren will. Das nennt man in den USA auch einen low intensity war – einen Krieg, unterhalb einer offiziellen Kriegserklärung.
In den 1980er Jahren wurde zum Beispiel die Verminung von nicaraguanischen Häfen angeordnet und durchgeführt. Man wollte so, unter anderem, die Wirtschaft in Nicaragua strangulieren, nachdem 1979 die Diktatur Somozas gestürzt wurde und sich die frente sandinista damit einen noch größeren Feind gemacht hatte: Die US-Regierung, die Nicaragua als ihren „Hinterhof“ betrachtet/e, betrieb als Antwort Sabotage, aber auch die Finanzierung und Ausstattung von „Contras“ gehörte zu diesem Umsturzprogramm. Wie im Fall Kuba baute man eine Söldnerarmee auf, die unterhalb einer Kriegserklärung Krieg gegen die gewählte Regierung in Nicaragua führen sollte, und bestritt selbstverständlich eine Beteiligung an diesem beabsichtigten Regime Change.
Tatsächlich konnte man die massiven Auswirkungen dieses Wirtschafts- und Schattenkrieges in Nicaragua erleben. Fast 50 Prozent des nationalen Haushaltes mußte in die Verteidigung der sandinistischen Revolution gesteckt werden. Das ist tödlich für ein Land, das zu den ärmsten dieses Kontinentes zählt. Dieser verdeckte Krieg tötete nicht nur viele Menschen, er zerstörte auch – Jahr um Jahr – die Hoffnung auf ein besseres Leben. Denn wenn die Verteidigung einer Revolution mehr Leid und Elend mit sich bringt als das Leben unter der Diktatur Somozas, dann helfen keine politischen Ideale. Genau das war das Ziel dieses Krieges, bei dem kein US-Soldat aufs Schlachtfeld geschickt wurde.
Es werden einige zu Recht sagen, dass das möglich sei, aber erst bewiesen werden müsse. Es gäbe ja zu viele Anschuldigungen dieser Art. Tatsächlich kam es 1986 zu einem sehr seltenen Schuldspruch, was die internationale Rechtsprechung anbelangt. Die sandinistische Regierung zog 1984 vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag (IGH), klagte den Staatsterrorismus der USA an und reklamierte direkte und indirekte Kriegsschäden von 17 Milliarden US-Dollar. Zwei Jahre später stellte der IGH fest, dass die USA durch die Verminung von Häfen in Nicaragua 1984 und durch die Unterstützung der antisandinistischen „Contra“-Söldner internationales Recht und bilaterale Abkommen gebrochen haben. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag forderte die US-Regierung auf, Nicaragua für die entstandenen Verluste zu entschädigen. Und wie reagierte die Speerspitze der „regelbasierten“ Weltordnung? Sie ignorierten den Urteilsspruch. Das hatte die US-Regierung unter Ronald Reagan bereits zu Beginn des Verfahrens angekündigt: Man werde die nächsten zwei Jahre die Gerichtsbarkeit des IGH nicht anerkennen.
Quellen und Hinweise:
Wir arbeiten an der (nuklearen) Katastrophe: https://overton-magazin.de/kolumnen/kohlhaas-unchained/wir-arbeiten-an-der-nuklearen-katastrophe/
Remarks by President Biden and Chancellor Scholz of the Federal Republic of Germany at Press Conference: whitehouse.gov 07.02.2022 und https://www.youtube.com/watch?v=xMmY1pdvTOA
„Goodbye, Nord Stream”: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9037
Pipeline-Lecks: Russland verdächtigt die USA, FR vom 30.9.2022: https://www.fr.de/politik/pipeline-lecks-russland-verdaechtigt-die-usa-91820727.html
„Counterinsurgency“ – Neue Einsatzformen für die NATO? , Jochen Hippler, 2006: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29460/counterinsurgency-neue-einsatzformen-fuer-die-nato/
US-Außenminister Blinken zur Zerstörung von Nord Stream 2: https://www.nachdenkseiten.de/?p=88813#more-88813
„Wir sind dazu in der Lage“, Arno Luik, Overton vom 4.10.2022: https://overton-magazin.de/hintergrund/politik/wir-sind-dazu-in-der-lage/
Wer hat an meinem Rohr gesägt? – Küppersbusch TV: https://www.youtube.com/watch?v=8dyGfmEnfnU