von Götz Eisenberg
„Weltformel nicht in Sicht: vermutlich alles sinnlos.“
(Wolfgang Herrndorf)
Auf dem Rückweg von meiner Badestelle am See stieß ich auf einen toten Maulwurf. Er lag mitten auf dem Weg. Er konnte noch nicht lange tot sein, denn das Tier schien äußerlich unversehrt und war noch nicht in Verwesung übergegangen. Es lag auf dem Rücken, die schaufelartigen Arme seitlich ausgestreckt – wie aufgebahrt.
Der Maulwurf war für Marx ein Revolutionssymbol. Wie so Vieles hat Marx auch die Maulwurfsmetapher von Hegel übernommen. Das Kommende, heißt es bei Hegel, treibt sich mitunter „sous terre“ herum: „Der Geist gräbt oft wie ein Maulwurf unter der Erde fort und vollendet sein Werk.“ Der Maulwurf gehört im wahrsten Sinn des Wortes zu den Bodentruppen des Weltgeistes. Er wühlt in nicht-revolutionären Zeiten unter der Erde weiter, bis er eines Tages wieder an der Oberfläche auftaucht und seinen revolutionären Mulm aufwirft. Marx lobte seine unterirdische Vorarbeit in seiner Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte: „Brav gewühlt, alter Maulwurf!“ Da lag nun das Wappentier der Revolution tot auf einem staubigen Waldweg. Ich nahm das als Symbol dafür, dass der kritische Geist jetzt auch unterirdisch nicht mehr weitergräbt. Es ist, um im Bild zu bleiben, Schicht im Schacht.
Unsere Generation hatte das Glück, der Göttin der Geschichte, die einmal für sinnvolle Zeitabläufe zuständig war, noch persönlich zu begegnen. Kurz darauf zog sie sich in den Olymp zurück und meidet seither den Kontakt mit den Menschen. Diese Begegnung hat in unserer Generation tiefe Spuren hinterlassen, die man Prägung nennt. Überall sehen wir sie am Werk, jede noch so flüchtige soziale Bewegung wird von uns mit geschichtsphilosophischen Bedeutungen aufgeladen. Nachdem die Arbeiterklasse sich endgültig geweigert hat, ihre historische Mission zu erfüllen, haben wir die Rolle des revolutionären Subjekts allen möglichen Gruppierungen angetragen. Keine hat sie länger als eine Saison gespielt. Nun wird das Stück abgesetzt.
Nachfolgende Generationen werden das Problem mit der Geschichte nicht mehr haben. Die Kinder des Konsums leben in einem dumpfen, formlosen Präsens. Unlängst blätterte ich in einem Band mit Briefen, die Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sich nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben haben. Ich stieß dabei auf einen Brief von Adorno aus dem Jahr 1957. Dort heißt es: „Zum Schluss noch ein Gedänkchen: in allen Bewegungen, welche die Welt verändern möchten, ist immer etwas Altertümliches, Zurückgebliebenes. Das Maß dessen, was ersehnt wird, ist immer bis zu einem gewissen Grade Glück, das durch den Fortschritt der Geschichte verloren gegangen ist. Wer sich ganz auf der Höhe der Zeit befindet, ist immer auch ganz angepasst, und will es darum nicht anders haben.“
In Termini von Ernst Bloch: Ohne Ungleichzeitigkeit keine Übergleichzeitigkeit. Die Kraft der Antizipation stammt aus der Differenzerfahrung, das heißt aus der Erinnerung daran, dass es einmal anders war. Widerstand kann nur leisten, wer eine Differenzerfahrung gemacht hat und im Bloch’schen Sinn ungleichzeitig ist. Es muss noch etwas nicht ganz von der Warenform Erfasstes vorhanden gewesen sein, von dem man wenigstens noch einen Zipfel zu fassen bekommen hat. Das macht einem ein Gedächtnis, aus dem die Fähigkeit erwachsen kann, dem Bestehenden das Realitätsmonopol streitig zu machen. Wenn die Erinnerung an den Gebrauchswert gänzlich getilgt ist, ist die Entfremdung komplett und jeder Ausweg verbaut. Es wäre die vollendete Eindimensionalität, die Herbert Marcuse bereits Anfang der 1960er Jahre von den USA aus heraufziehen sah. Sie wurde kurz darauf durch die weltweite Revolte der Studenten und Jugendlichen aufgebrochen. Für einen kurzen geschichtlichen Augenblick schien noch einmal alles, oder fast alles möglich. Nun, nach Jahrzehnten neoliberaler Herrschaft des losgelassenen Marktes, hat sich das Bestehende zur „Herrschaftstotalität von Verdinglichung“ (Hans-Jürgen Krahl) verfestigt, in der Widerstand nur noch in Form des Vandalismus oder Wahnsinns möglich zu sein scheint. Es tut weh, diese Gedanken zu denken, aber wir müssen sie zulassen und der noch so schmerzhaften Wahrheit ins Auge sehen.