von Friederike Habermann
Meine Oma, so sehr sie uns Enkel*innen auch verwöhnte, wusste, wie Schenken gegenüber anderen geht. „Ich brauche noch etwas für Frau Meyer. Für 5 D-Mark.“ „??“ „Soviel war ihr letztes Geschenk an mich wert.“ Hätte ein Ethnologe ihr Verhalten untersucht, wäre die damals gängige Interpretation von Gaben bestätigt worden: nichts als zeitverzögerte Tauschgeschäfte.
Ohne Geld wird getauscht – das ist der Mythos. Zum Beispiel mit Zigaretten in Gefängnissen. Auch Yanis Varoufakis führte dies in seinem Buch Time for Change. Wie ich meiner Tochter die Wirtschaft erkläre aus, anhand der berühmt gewordenen Erfahrungen des Ökonomen Robert A. Radford als Brite in einem deutschen Kriegsgefangenenlager. Varoufakis hatte das Skript für das Buch fertig, als er auf die Idee kam, seinen Vater zu befragen, der vor und nach dem Ende des griechischen Bürgerkriegs interniert gewesen war. Des Vaters Antwort: „Nein, bei uns wurde alles geteilt.“
So sehr ist uns eingetrichtert worden, dass es ohne Geld nur primitive Tauschwirtschaft geben kann, dass wir uns anderes gar nicht mehr vorstellen können. Es ist umständlich, Lebensmittel gegen Schuhe einzutauschen, wenn der Schuster ein Messer braucht und auch der Schmied kein Gemüse, sondern lieber einen Pullover hätte undsoweiterundsofort: Dies lernte ich bereits im Vorschulalter durch eine Comicsendung, und bis heute wird es in Einführungen in die Wirtschaftswissenschaften wiederholt. Der vergangenes Jahr verstorbene Anthropologe David Graeber machte sich darüber lustig: „Welcher Mensch, der bei Verstand ist, würde an einem solchen Ort einen Lebensmittelladen eröffnen?“. Vor der (kolonial motivierten) Einführung von Geld hätten nirgends Individuen Güter innergesellschaftlich auf diese Weise getauscht, so Graeber in seiner Untersuchung über die Entstehung des Geldes Schulden. Die ersten 5000 Jahre. „Seit Jahrhunderten suchen Forscher mittlerweile nach diesem sagenhaften Land des Tauschhandels – alle ohne Erfolg.“ Umgekehrt lasse sich feststellen: Es kam in unterschiedlichen Kulturen zu ganz unterschiedlichen Wirtschaftsformen. Nur Tausch im gemeinten ökonomischen Sinne als äquivalenter Tausch, bei dem offiziell gleiche Werte getauscht werden, kam nicht vor.
Doch auch Yanis Varoufakis wiederholt diese Vorstellung vom ursprünglichen Tausch mit Tauschlogik: „Wenn einer unserer Vorfahren einem anderen eine Banane anbot und dafür einen Apfel wollte, war das eine Form des Austauschs; ein unvollkommener Markt, bei dem eine Banane den Preis für einen Apfel darstellte und umgekehrt.“ Wo auch immer dieses Land mit Bananen und Äpfeln gelegen haben mag: Ein Markt (denn genau das ist Tausch mit Tauschlogik) wäre es eben nur in dem unwahrscheinlichen Fall, dass sowohl Apfel als auch Banane bereits denselben Tauschwert innegehabt hätten. Ansonsten bräche einer von beiden – vielleicht der mit der Banane – seine Frucht in zwei Teile. Und würde hinzufügen: „Ob ich den anderen Teil selbst esse oder in den Dreck schmeiße, geht Dich nichts an, denn Dein Apfel ist weniger wert als meine Banane.“
Und selbst wenn der mit der Banane so viele davon hätte, dass diese ihm bereits wegfaulen, würde er keine davon abgeben, wenn der andere keinen Apfel oder etwas anderes zu bieten hat. Und dieser andere damit im Zweifel verhungert. Das ist Tauschlogik. Tauschlogik – und damit jeder Markt – erzeugt künstlich Knappheit.
Unseren Vorfahren wäre das absurd erschienen. Uns nicht. Weil wir es normal finden, dass Lebensmittel dorthin gehen, wo das Geld ist, hungert eine Milliarde Menschen und ist eine weitere Milliarde unterernährt – während in Europa mehr Lebensmittel weggeschmissen werden, als auf der eigenen Fläche angebaut werden könnten. Marktwirtschaft tötet. Alltäglich Zigtausende. Zwar gab es schon immer vereinzelt Hungersnöte aufgrund von Dürre oder anderen Ereignissen, aber Hunger als Dauerzustand kam durch Marktwirtschaft in die Welt. Und klar: auch durch koloniale Machtverhältnisse, die Mehrwertausbeutung des Kapitalismus, Lebensmittelspekulation etc. Aber all dies braucht es gar nicht dafür. Tauschlogik reicht.
Da der Markt über einen Preis funktioniert und damit nur, wenn nicht alle, die im Grunde das Produkt gerne hätten, es auch bekommen, gilt das Prinzip künstlicher Knappheit für alle Güter. Eine Amazon-Mitarbeiterin wird im Magazin Wirtschaftswoche zitiert, sie allein habe täglich Werte von 23.000 Euro vernichtet. Dies preisen wir gesellschaftlich als Allokation: als magische Hand der Marktwirtschaft, die die Ressourcen und Güter zuteilt.
Gibt dagegen die eine Person die Banane trotzdem her, um das Bedürfnis der anderen zu stillen, verlässt sie die geltende ökonomische Rationalität. Doch diese prägt. Und so entwickelten Menschen, die bereits Geld kennen, in Situationen, wo es nicht mehr zur Verfügung stand, Systeme des Tausches. Das erklärt, warum es in Gefängnissen zu Alternativwährungen kommen kann.
Doch unsere Phantasie dürfen wir nicht länger durch das Märchen vom Tauschen beschränken lassen. Sonst werden wir keine befreite Gesellschaft erreichen können. Wir werden auch die ökologische Katastrophe nicht vermeiden können. Denn Markt, also Tauschlogik, hat noch weitere gravierende Konsequenzen.
Fangen wir wieder klein an. Um ein Anrecht auf die Banane zu bekommen, muss ich mich verwerten. Ich könnte also der Person mit den Bananen anbieten, sie zu massieren. Dann aber muss ich das besser machen, als jede andere Person, die ihr das auch anbieten würde im Tausch für Bananen. Das ist der Grund, warum schon Kinder vor Klausuren nicht schlafen können. Und Erwachsene ebenso. Aus Stress und Leistungsdruck.
Gummibärcheneffekt
War künstliche Knappheit der erste Grund gegen Markt und Tauschlogik, so ist Leistungsdruck der zweite. Doch es geht gleich weiter. So wie Kinder oft nur gerne lernen, bis sie ins Notensystem hineinwachsen, so wird auch die innere Motivation, also Lust etwas zu tun oder Hilfsbereitschaft oder Verantwortungsgefühl durch Geld zerstört. Und zwar praktisch sofort. Dieser als Gummibärcheneffekt bekannte Zusammenhang wurde in vielen Experimenten bestätigt. Denn scheinbar tun die anderen auch nichts ohne Belohnung. Und scheinbar sind die Menschen durch den Austausch von Geld miteinander quitt. Warum dann noch Rücksicht nehmen?
So hatte der Ökonom Uri Gneezy bemerkt, dass im Kindergarten seiner Tochter die Einführung einer Strafgebühr für Eltern, die ihr Kind nachmittags zu spät abholten, nicht zu dem gewünschten Ergebnis führte, denn nun kamen mehr als doppelt so viele Eltern zu spät. Das Verantwortungsgefühl, die betreuende Person nicht warten zu lassen, war offenbar hinfällig geworden, da durch Geld scheinbar ersetzbar. Doch nachdem das Bußgeld wieder abgeschafft wurde, blieb es beim Zuspätkommen. Dass es dies nun wieder umsonst gab, erschien den Eltern offenbar lediglich wie ein Spezialangebot.
Doch es bleibt nicht beim Verlust des Verantwortungsgefühls. Der Verwertungsdruck erzeugt strukturellen Hass, wenn wir einander als Konkurrenz begreifen müssen. Im obigen Beispiel: Wenn die andere besser massieren kann als ich und deshalb die Bananen bekommt, die ich brauche, um nicht Not zu leiden, ist das kaum ohne negative Gefühle zu haben. Doch selbst, wenn wir diese nicht spüren, so müssen wir uns doch so verhalten, als würden wir die anderen hassen. Schreiben wir einen Lebenslauf, der zeigt, wie viele Massagepraktika wir schon absolviert haben, so machen wir nichts anderes, als die Lebensläufe aller anderen gegenüber unserem schlechter zu machen. Struktureller Hass ist also der dritte Grund, warum wir mit Markt nie ein schönes Leben haben werden.
Der bereits genannte Gummibärcheneffekt berührt auch den vierten: Entfremdung. Zum einen besteht Entfremdung immer dann, wenn wir mit unserer Lebenszeit einen Job machen, hinter dem wir nicht stehen. Aber selbst wenn wir erfolgreich unsere Konkurrent*innen aus dem Weg schlagen und auf diese Weise unser Hobby zum Beruf machen könnten, dann hieße das beispielsweise, jeden Montag morgen im Wald Spazierengehen bis nachmittags und das montags bis freitags und am besten ein Leben lang und immer besser als die anderen, die ebenfalls diesen tollen Job wollen.
Strukturelle Zwänge
Das alles macht Tauschlogik mit uns. Doch gehen wir zurück auf die gesamtwirtschaftliche Ebene: Es heißt, das Gesundheitswesen wird immer teurer. Das stimmt aber nur, weil es immer billiger wird, Industrieprodukte herzustellen. Teurer wird es nur im Vergleich. Die IT-Revolution birgt exponentielles Potential, die Herstellung von Industriegütern zu rationalisieren. Menschen dagegen brauchen Zeit, um groß oder gesund zu werden.
Das schlechte Tauschverhältnis auf dem Markt von diesen reproduktiven gegenüber produktiven Tätigkeiten wird darum die Sorgenden immer schlechter entlohnen als jene, die in der Industrie tätig sind. Darum wurden historisch diese Arbeiten nicht nur fast durchgängig bestimmten Menschengruppen zugeteilt, sondern deren Identitätskategorien als besonders geeignet dafür oft erst konstruiert – um diese unschöne Arbeitsteilung zu legitimieren. War noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts von der „Monotonieresistenz der Frauen“ wissenschaftlich die Rede, so macht heute das Bild der „geduldigen Polin“ die Runde auf Stehpartys, auf denen über die osteuropäischen Pflegekräfte für die Eltern geplauscht wird.
Zwischen Industrieländern und jenen, die auf Rohstoffe, Tourismus oder Lebensmittel spezialisiert sind, besteht ein ganz ähnlicher Zusammenhang. Auch deren Herstellung lässt sich schlecht rationalisieren. Und wenn doch, so nützt es den Produzierenden wenig. Da Kakao sich nicht besonders von Kakao unterscheidet, besteht starker Konkurrenzdruck, weshalb mehr Kakao im Grunde lediglich zu fallenden Preisen führt. Und selbst, wenn es gelänge und Menschen in der Kakaoproduktion nun mehr verdienten, so würde dieses steigende Einkommen sich vor allem in vermehrtem Kauf von Industriegütern auswirken, und dort die Wirtschaft steigern. So entwickeln sich auch international auseinandergehende Tauschverhältnisse, die nichts mit gleicher Arbeit oder gleichem Leid zu tun haben.
Die strukturelle Benachteiligung von Sorgetätigkeiten und dem Globalen Süden stellen Grund 5 dar, jetzt kommen wir zu 6: dem strukturellen Zwang für Unternehmen zur Ausbeutung. Gemeint ist hier nicht die kapitalistische Mehrwertausbeutung von Lohnarbeitenden – dass diese zu bekämpfen ist, stellt wohl einen gemeinsamen Nenner aller sich als links verstehenden Kräfte dar, auch jener, die am Markt festhalten wollen. Doch auch eine Genossenschaft mit gleichen Löhnen ändert nichts am Preismechanismus, der dazu führt, dass hinter dem (Tausch-)Geschäft im Laden mit dem lächelnden Verkäufer häufig Produktionsverhältnisse stehen, die großes Leid verursachen. Der Markt basiert darauf, dass unter sonst gleichen Bedingungen die billigere Variante gewinnt und die teurere vom Markt verschwindet. Billiger aber kann sein, wer unbescholten Natur vernutzt, unbemerkt Sorgetätigkeiten mit einverleibt und Arbeit am meisten ausbeutet. Nicht zuletzt darum dreht sich der vielgepriesene Wettbewerb.
Doch wir sind noch nicht durch. Der letzte, 7. und angesichts der Klimakrise vielleicht gravierendste Grund ist: Die Marktlogik zwingt die Wirtschaft zu wachsen. Nehmen wir an, die Personen A und B produzieren unabhängig voneinander jeden Tag einen Stuhl, verkaufen ihn jeweils und können davon leben. Dann schafft sich Person B eine Maschine an, mit der sie doppelt so schnell produzieren kann, also zwei Stühle am Tag. Der Einfachheit halber sagen wir mal, sie kann nun jeden Stuhl für die Hälfte anbieten (z.B. da beide das Holz aus dem Wald holen und die Kosten für das Werkzeug vernachlässigbar sind). Dann kaufen alle nur noch bei Person B. Will Person A nicht pleite gehen, muss sie nachziehen; sie schafft sich also die gleiche Maschine an. Was ist passiert? Beide arbeiten nicht weniger. Beide haben auch nicht mehr Einkommen. Aber die Welt hat nun doppelt so viele Stühle.
Da das ein sehr konstruiertes Beispiel ist, dauert es für eine Verdoppelung aller Güter und Dienstleistungen im wirklichen Wirtschaften bei dem immer noch erstrebten und weltweit vor Corona auch erreichten Wachstum von drei Prozent 23 Jahre. Und, da es sich um exponentielles Wachstum handelt, nur noch weitere 15 Jahre später zur Verdreifachung. Und so immer weiter und immer schneller. Problem: Es gibt kein ‚entkoppeltes‘ Wachstum. Es gibt zwar eine relative Entkoppelung von Wachstum und steigendem Ressourcenverbrauch, aber keine absolute. Das ist beispielsweise 2019 ausführlich dargelegt worden in einer Studie vom European Environmental Bureau. Wenn es für Deutschland anderes heißt, dann wegen der Auslagerung von Produktion in ärmere Länder. Selbst der Spiegel-online Kolumnist Christian Stöcker schlug deshalb kürzlich vor, Bundeskanzlerin Angela Merkel möge so wie für die exponentiell ansteigenden Coronakurve doch mal eine Bundespressekonferenz veranstalten, um vor der exponentiell wachsenden Wirtschaft zu warnen.
Viele sich als Marxist*innen verstehende Menschen lassen in ihren Visionen Tauschlogik und damit Markt und Geld unangetastet. Doch wer glaubt, Marx sei es nur um eine Beendigung der Mehrwertausbeutung gegangen, irrt. Lohnerhöhungen waren für ihn „eine bessere Salairierung“, also Entlohnung, „der Sklaven“, und selbst die „Gleichheit der Salaire“ bei Verstaatlichung hieß für ihn lediglich, die gesamte Gesellschaft zum „abstrakten Kapitalisten“ werden zu lassen. Ihm aber ging es um eine Gesellschaft, in der wir in Freiheit füreinander tätig werden können.