Care und Kehricht

Zu Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“

von Hermann Engster

Es gibt einen Punkt, von dem es keine Rückkehr gibt.
Dieser Punkt ist zu erreichen.

(Franz Kafka)

Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.

Mit diesem so grausigen wie grandiosen Satz hebt eine der verstörendsten Erzählungen von Kafka an. Sie wurde 1915 veröffentlicht und ist mit fünfzig Seiten seine längste vollendete Erzählung. Sie ist wohl allen literarisch Interessierten bekannt, doch soll ihre Handlung kurz in Erinnerung gerufen werden.

Die Erzählung ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil denkt Gregor über seinen Beruf als Handlungsreisender nach, ohne sich darüber klar zu sein, dass er ihn wegen der Verwandlung nicht mehr würde ausführen können. Nach der Begegnung mit der Familie und dem Prokuristen der Firma wird Gregor in seinem Zimmer eingesperrt. Das Geschehen dauert nur eine Stunde und bleibt auf Gregors von ihm selbst verriegeltes Zimmer beschränkt.

Im zweiten Teil geht es um das zunehmend angespannte Verhältnis von Gregor zu seiner Familie. Seine Schwester kümmert sich zunächst fürsorglich um ihn, wird aber zunehmend unwilliger. Der Vater wird aggressiv, schleudert einen Apfel auf ihn, der in Gregors Rückenpanzer steckenbleibt und eine dauernde schmerzhafte Wunde bewirkt. Die Zeit dehnt sich, die Zeitangaben werden diffus; das Zimmer wird nun von außen verschlossen, ab und zu jedoch kann er es verlassen; aus dem Zimmer werden die Möbel entfernt, sodass Gregor über die Wände krabbeln kann und damit seine menschliche Identität mehr und mehr verliert.

Im dritten Teil wird Gregors Zimmer von der Familie als Rumpelkammer benutzt, die Rolle der fürsorgenden Schwester übernimmt eine robuste Dienstmagd. Im Gegenzug lebt die Familie auf. Die Schwester fordert, dass Gregor verschwinden müsse. Er bekommt es mit, wird wieder in sein Zimmer eingeschlossen, das Zimmer verdreckt, Gregor verwahrlost und verhungert schließlich. Die Familie ist von dem Ungeziefer befreit.

Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?

(Kafka, 1904)

Diese Erzählung hat, wie nicht anders bei Kafka zu erwarten, eine Fülle von Interpretationen hervorgerufen:

  • Autobiographische Interpretationen als Vater-Sohn-Konflikt mit Kafkas Brief an den Vater als Folie, in dem Kafka mit seinem übermächtigen Vater abrechnet (als Ödipus-Komplex identifiziert von Sigmund Freud).
  • Dies fortgeführt von Deleuze und Guattari als erweiterten Ödipus-Komplex, indem die Tierwerdung nicht nur als Loslösung vom Vater gedeutet wird, sondern als Versuch, der den Menschen sich selbst entfremdenden Arbeitswelt zu entrinnen und „in jene Region zu gelangen, wo die Stimme nur noch summt – : ‚Hast du Gregor jetzt reden gehört?‘ – ‚Das war eine Tierstimme‘, sagte der Prokurist“ (Deleuze/Guattari).
  • Sodann auch solche, die Kafkas Erfahrungen mit dem Antisemitismus einbeziehen – schon damals wurden Juden als „Ungeziefer“ diffamiert, also Samsa ein Kryptogramm für Kafka? – da jeweils zwei Silben, viermal -a-, zweimal gleiche Konsonanten.
  • Ferner literaturtheoretische Erörterungen: Kafkas Erzählungen als Vorahnung des absurden Theaters von Ionesco, Genet, Beckett, Dürrenmatt. Denn in der Finsternis der Erzählung finden sich auch komisch-groteske, ja geradezu slapstickhafte Elemente – Chaplins Filme eroberten zu dieser Zeit die Kinowelt – so, wenn der in seinem Bett auf dem Rücken liegende Käfer Gregor mit zappelnden Beinchen mühsam versucht, auf den Fußboden zu gelangen und sich aufzurichten. Kafkas Freund Max Brod berichtet, dass Kafka beim Vorlesen seiner Geschichten oft in lautes Lachen ausgebrochen sei.
  • Ferner Tzvetan Todorov, der Kafka als Schöpfer einer neuen Phantastik bezeichnet, die keinen realistischen Referenzpunkt mehr hat und die er als Neophantastik bezeichnet.

Das sind nur wenige Beispiele der vielen Deutungsansätze. Jede Interpretation steht jedoch vor folgenden Fragen:

  • Handelt es sich um einen Traum, gar um eine psychotische Vorstellung, oder um Wirklichkeit?
  • Wie ist Gregors Verwandlung in ein Ungeziefer zu deuten?
  • Wie ist die gegenläufige Entwicklung von Gregor auf der einen Seite und die der Familie auf der andern zu erklären?

Ich möchte mich auf das Thema „Sorge“ dieser Nummer der Streifzüge konzentrieren und den Aspekt der Sorge, neudeutsch „Care-Arbeit“, in Augenschein nehmen, und dies ganz nüchtern-materialistisch.

Zunächst die erste Frage, die das zentrale Interpretationsproblem formuliert: Handelt es sich um einen Traum, gar um eine Wahnvorstellung, oder um Wirklichkeit? Gregor wird zu einem Insekt, jedoch denkend und fühlend wie ein Mensch. Wir erleben den Einbruch des Phantastisch-Unmöglichen in die reale Welt, und diese Welt wird in der Erzählung weiterhin nach realistischen Regeln gestaltet. Gregors Verwandlung in ein Insekt ist sicher eine Metapher, aber was für eine?

Ich schreibe anders, als ich rede, ich rede anders, als ich denke, ich denke anders, als ich denken soll, und so geht es weiter bis ins tiefste Dunkel.

(Kafka)

Es gibt Deutungen, welche die gesamte Erzählung als eine einzige „Supermetapher“ betrachten und Gregors Aufwachen in Gestalt eines Insekts als Erkenntnisakt der Sinnlosigkeit seiner Existenz sehen. Es fände somit nur eine mentale Veränderung Gregors statt, und dafür spräche auch, dass Kafka sich gegenüber seinem Verleger strikt gegen jegliche Käfer-Illustration verwahrt hat.

Mit dieser Sichtweise springt man jedoch aus dem Fiktionsrahmen der Erzählung heraus. Interpretieren wir die Erzählung jedoch von innen her, dann wird, wie in andern Werken Kafkas auch, im Imaginationsraum der Erzählung die Metapher zur Wirklichkeit. Schlicht ausgedrückt: Gregor träumt nicht, hat keine Wahnvorstellungen, er ist keine Metapher seiner selbst, sondern wirklich und wahrhaftig ein Ungeziefer. Ich gehe also von der Realität der Käferverwandlung aus.

Auch mit diesem Ausgangspunkt bleibt die Erzählung weiterhin extrem offen. Dies zeigt sich schon zu Beginn in der vagen Formulierung: fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er fand sich verwandelt, d.h. er nimmt es als schlichte Tatsache hin und fragt sich weder, wie dies geschehen, noch warum ihm so etwas widerfahren konnte. Günter Anders schrieb 1947 in der Neuen Rundschau dazu: „Nicht daß Gregor Samsa am Morgen als Käfer erwacht, sondern dass er darin nichts Erstaunenswertes sieht, diese Alltäglichkeit des Grotesken macht die Lektüre so entsetzenerregend.“

Dieses wird bewirkt durch die Darstellungstechnik. Die Erzählung beginnt mit einer personalen Erzählperspektive, auch „Er-Erzählung“ genannt: Als Gregor Samsa eines Morgens … erwachte, fand er sich … zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.

Der Er-Erzähler benutzt die Technik der „erlebten Rede“. Er erzählt dabei nicht, was er selbst über das Innenleben der von ihm geschilderten Person vermutet oder weiß – dann wäre er ein sogenannter auktorialer (oder allwissender) Erzähler –, sondern er erzählt nur das, was die von ihm geschilderte Person, hier also Gregor, tatsächlich denkt und fühlt. Obwohl Gregor von sich als Ich redet, findet bei ihm jedoch keine innerpsychische Reflexion statt und kann folglich auch vom Erzähler nicht erzählt werden. Dieses Fehlen lässt sich deuten als Gregors Unfähigkeit zur Selbstreflexion über seine – sowohl berufliche als auch familiäre – Situation. Sinnbild dafür wäre sein Eingeschlossensein in seinem Käferpanzer. Ebenso auch, dass er sogar zu Hause sein Zimmer abschließt, angeblich aus der Gewohnheit heraus, weil er als Handlungsreisender in Hotels sich vor Dieben schützen muss. Diese erlebte Rede als neutrale Darstellungsperspektive, welche sowohl Leserin und Leser als auch den Protagonisten auf Distanz hält, ist es, was die Erzählung so beklemmend macht. Mit Gregors Tod wird diese Erzählperspektive dann notwendigerweise aufgegeben und wechselt in die auktoriale Erzählperspektive über.

Die Verwandlung ist indes das einzige Phantastische in der Erzählung; alles andere, also die ganze fiktionale Welt, wird nach realistischen Regeln gestaltet. Ich konzentriere mich auf den ersten Teil der Erzählung, weil dieser für meine Interpretation am ergiebigsten ist; die beiden andern Teile schildern die inneren und äußeren Auswirkungen der Verwandlung in Bezug auf Gregor und, was für eine psychologische Analyse von Bedeutung ist, die Veränderung in der Haltung der Familie.

Konzentriert auf das Thema „Sorge“, bietet für eine materialistische Interpretation der Erzählung vor allem ihr erster Teil eine Fülle von Indizien.

So geht es nach dem ersten Satz weiter:

Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen.

(Zitiert nach: Franz Kafka, Die Erzählungen. Originalfassung. Frankfurt a.M. 1996)

Nach einer knappen Beschreibung von Gregors kleinem Zimmer wendet sich der Erzähler Gregors beruflicher Tätigkeit zu. Er ist Handlungsreisender bei einer Tuchwarenfirma, und diese Tätigkeit wird nun ausführlich geschildert. Auf dem Tisch liegt seine Musterkollektion ausgebreitet und

darüber hing das Bild, das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte. Es stellte eine Dame dar, die mit einem Pelzhut und einer Pelzboa versehen, aufrecht dasaß und einen schweren Pelzmuff, in dem ihr ganzer Unterarm verschwunden war, dem Beschauer entgegenhob.

Der die Hände gegen die Kälte schützende (und heute aus der Mode gekommene) Muff ist ein Refugium der Wärme und Geborgenheit. Der Frauenarm mit dem Muff hebt sich auf dem Bild dem Beschauer entgegen, und das Bild verrät Gregors verborgene und erotisch gefärbte Sehnsucht nach einem andern Leben. Später, wenn die Möbel aus seinem Zimmer entfernt sind und er die Wände hinaufkrabbelt, wird er sich auf dieses Bild legen, um auch dessen Entfernung zu verhindern.

Und während er nun, auf dem Rücken schaukelnd und mit den dünnen Beinchen zappelnd, bemüht ist, sich aufzurichten, schießen ihm trübsinnige Gedanken durch den Kopf:

Ach Gott“, dachte er, „was für einen anstrengenden Beruf habe ich gewählt! Tag aus, Tag ein auf der Reise. Die geschäftlichen Aufregungen sind viel größer, als im eigentlichen Geschäft zu Hause, und außerdem ist mir noch diese Plage des Reisens auferlegt, die Sorgen um die Zuganschlüsse, das unregelmäßige, schlechte Essen, ein immer wechselnder, nie andauernder, nie herzlich werdender menschlicher Verkehr. Der Teufel soll das alles holen!“

Er ist nur ein kleiner Vertreter und beneidet die höherrangigen Handlungsreisenden, die erst beim Frühstück sitzen, während er schon die Aufträge bearbeiten muss: „Das sollte ich bei meinem Chef versuchen; ich würde auf der Stelle hinausfliegen.“ Er würde dem arroganten Chef gern die Meinung sagen, doch kündigen kann er nicht.

Der Grund sind die Eltern. Der Vater hat mit seinem Geschäft Konkurs gemacht und einen Berg Schulden hinterlassen, den Gregor nun durch diese ungeliebte Berufstätigkeit abträgt. Der Vater gebärdet sich zwar streng – er wird aus Zorn über die fatale Lage der Familie auf Gregor einen Apfel schleudern, der in dessen Rückenpanzer steckenbleibt und eine schwärende Wunde erzeugt – jedoch erklärt er sich für unfähig, eine Arbeit aufzunehmen, sitzt apathisch und sich selbst bemitleidend den ganzen Tag herum und wird fett. Die Mutter ist völlig unselbständig und hat nichts gelernt; die Schwester Grete ist verzogen, übt keinen Beruf aus und lebt in den Tag hinein. So ist Gregor die gesamte Sorge und Verantwortung für die Familie übertragen, und diese Sorge belastet ihn jetzt noch sogar mehr als seine prekäre Käferexistenz.

Das, was Verantwortungsgefühl ist und als solches sehr ehrenwert wäre,
ist im letzten Grunde Beamtengeist,
Knabenhaftigkeit, vom Vater her gebrochener Wille.

(Kafka, Tagebucheintrag, 27. August 1916)

Er hat sich im Beruf hochgearbeitet, vom Lehrling zum Handlungsreisenden, und er verdient so viel, dass von dem Gehalt und den Provisionen, wovon er fast nichts für sich behält, die ganze Familie ein angenehmes Auskommen hat:

Man hatte sich eben daran gewöhnt, sowohl die Familie, als auch Gregor, man nahm das Geld dankbar an, er lieferte es gern ab, aber eine besondere Wärme wollte sich nicht mehr ergeben. Nur die Schwester war Gregor doch noch nahe geblieben, und es war sein geheimer Plan, sie, die zum Unterschied von Gregor Musik sehr liebte und rührend Violine zu spielen verstand, nächstes Jahr, ohne Rücksicht auf die großen Kosten, die das verursachen mußte, … auf das Konservatorium zu schicken. … Gregor dachte sehr bestimmt daran und beabsichtigte, es am Weihnachtsabend feierlich zu erklären.

In der Firma steht er unter Arbeits- und Erfolgsdruck. Kafka selbst war Beamter in der „Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt für das Königreich Böhmen“ in Prag und mit dem Angestelltenmilieu bestens vertraut, ebenso wie mit den Schicksalen der durch Unfälle, zumeist Arbeitsunfälle, geschädigten Menschen. Bei Gregor kommt zum Arbeitsdruck noch die Überwachung seiner Leistung hinzu. Diese erfolgt, wie es im Text heißt, durch einen „Geschäftsdiener“; ein solcher meldet, dass Gregor den Fünfuhrzug versäumt habe. Dieser Geschäftsdiener, so konstatiert Gregor, war eine Kreatur des Chefs, ohne Rückgrat und Verstand. Und er überlegt weiter:

Wie nun, wenn er sich krank meldete? Das wäre aber äußerst peinlich und verdächtig, denn Gregor war während seines fünfjährigen Dienstes noch nicht einmal krank gewesen. Gewiß würde der Chef mit dem Krankenkassenarzt kommen, würde den Eltern wegen des faulen Sohnes Vorwürfe machen und alle Einwände durch den Hinweis auf den Krankenkassenarzt abschneiden, für den es ja überhaupt nur ganz gesunde, aber arbeitsscheue Menschen gibt.

Auf die Meldung des Geschäftsdieners hin erscheint prompt der Prokurist selbst bei der Familie. Ein Prokurist ist der Stellvertreter des Chefs und verfolgt „den Zweck, dem Handelsverkehr eine sichere Grundlage für das Vertretungshandeln der kaufmännischen Gehilfen zu bieten“ (Wikipedia). Besonders empört Gregor:

Warum war Gregor nur dazu verurteilt, bei einer Firma zu dienen, wo man bei der kleinsten Versäumnis gleich den größten Verdacht faßte? Waren denn alle Angestellten samt und sonders Lumpen? … Genügte es wirklich nicht, einen Lehrjungen nachfragen zu lassen – wenn überhaupt diese Fragerei nötig war – , mußte da der Prokurist selbst kommen, und mußte dadurch der ganzen unschuldigen Familie gezeigt werden, daß die Untersuchung dieser verdächtigen Angelegenheit nur dem Verstand des Prokuristen anvertraut werden konnte?

Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag … und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“ – „Du musst nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie.

(Kafka, Kleine Fabel)

In dem Bemühen, aus dem Bett zu kommen, verstärkt er seine Schaukelei und fällt endlich auf den Boden. Der Aufprall sorgt für Aufsehen, und die Mutter sucht den Prokuristen zu beschwichtigen:

Ihm ist nicht wohl“, sagte die Mutter zum Prokuristen „… ihm ist nicht wohl, glauben Sie mir, Herr Prokurist. Wie würde denn Gregor sonst einen Zug versäumen! Der Junge hat ja nichts im Kopf als das Geschäft. Ich ärgere mich schon fast, daß er abends niemals ausgeht; jetzt war er doch acht Tage in der Stadt, aber jeden Abend war er zu Hause. Da sitzt er bei uns am Tisch und liest still die Zeitung oder studiert Fahrpläne. Es ist schon eine Zerstreuung für ihn, wenn er sich mit Laubsägearbeiten beschäftigt. Da hat er zum Beispiel im Laufe von zwei, drei Abenden einen kleinen Rahmen geschnitzt; Sie werden staunen, wie hübsch er ist; er hängt drin im Zimmer …“

Aber der Prokurist bleibt hartnäckig und beginnt zu drohen, unterfüttert mit dunklen Verdächtigungen:

Herr Samsa“, rief nun der Prokurist mit erhobener Stimme, „was ist denn los? Sie verbarrikadieren sich da in Ihrem Zimmer, antworten bloß mit ja und nein, machen Ihren Eltern schwere, unnötige Sorgen und versäumen – dies nur nebenbei erwähnt – Ihre geschäftlichen Pflichten in einer eigentlich unerhörten Weise. Ich spreche hier im Namen Ihrer Eltern und Ihres Chefs und bitte Sie ganz ernsthaft um eine augenblickliche, deutliche Erklärung. … Der Chef deutete mir zwar heute früh eine mögliche Erklärung für Ihre Versäumnisse an – sie betraf das Ihnen seit kurzem anvertraute Inkasso – , aber ich legte wahrhaftig fast mein Ehrenwort dafür ein, daß diese Erklärung nicht zutreffen könne. Nun aber sehe ich hier Ihren unbegreiflichen Starrsinn und verliere ganz und gar jede Lust, mich auch nur im geringsten für Sie einzusetzen. Und Ihre Stellung ist durchaus nicht die festeste. Ich hatte ursprünglich die Absicht, Ihnen das alles unter vier Augen zu sagen, aber da Sie mich hier nutzlos meine Zeit versäumen lassen, weiß ich nicht, warum es nicht auch Ihr Herren Eltern erfahren sollen. Ihre Leistungen in der letzten Zeit waren also sehr unbefriedigend; es ist zwar nicht die Jahreszeit, um besondere Geschäfte zu machen, das erkennen wir an; aber eine Jahreszeit, um keine Geschäfte zu machen, gibt es überhaupt nicht, Herr Samsa, darf es nicht geben.“

Gregor versucht, den Abgesandten der Angestelltenhölle zu besänftigen, bittet ihn, beim Chef ein gutes Wort für ihn einzulegen, und versichert, den Achtuhrzug nehmen zu wollen. Unterdessen ist es ihm unter vielen Mühen gelungen, mit seinen Zähnen die Tür zu öffnen. Auf den Anblick hin fällt die Mutter in Ohnmacht, Vater und Schwester starren erschrocken, und der Prokurist stürzt davon.

So sehr die Familie von Gregors Verwandlung entsetzt ist, so macht sie doch keine Anstalten zu einer wie auch immer gearteten Heilung Gregors; sie wird vielmehr von der Frage umgetrieben, wer denn nun das Geld beschaffen solle, um sie künftig zu ernähren. Wegen der finanziell prekären Lage setzt sich die Familie zusammen, und der Vater enthüllt, dass er einen Teil des Geschäftsvermögens habe beiseiteschaffen können; außerdem habe man von Gregors Gehalt und den Provisionen so viel sparen können, dass nun ein kleines Kapital entstanden sei, das auf der Bank Zinsen abwerfe. Unbemerkt von der Familie, hört Gregor das mit, erkennt, dass er seine verhasste Arbeit viel eher hätte loswerden können, doch: Gregor, hinter seiner Türe, nickte eifrig, erfreut über diese unerwartete Vorsicht und Sparsamkeit.

Die Eltern, die Dankbarkeit von ihren Kindern erwarten
(es gibt sogar solche, die sie fordern),
sind wie Wucherer, sie riskieren gern das Kapital,
wenn sie nur die Zinsen bekommen.

(Kafka, Tagebucheintrag vom 12. Nov. 1914)

Zunächst kümmert sich die Schwester um Gregor, indem sie ihn mit Nahrung versorgt, jedoch tut sie es immer unwilliger. Schließlich wird eine Dienstmagd angestellt, die diese Aufgabe mit robuster Unempfindlichkeit versieht. Gregors Zustand verschlechtert sich, die Wunde plagt ihn, er magert ab und vegetiert nur noch vor sich hin. Er wird mental mehr und mehr zu einem wirklichen Insekt, ein Rest von Menschlichkeit regt sich noch in ihm, als er voller Rührung heimlich dem Geigenspiel seiner Schwester lauscht.

Währenddessen geht eine erstaunliche, nämlich gegenläufige Entwicklung mit der Familie einher. Der Vater nimmt eine Stellung als Bankbote an und trägt stolz die dazugehörige Uniform. Die Mutter übernimmt Wäschereiarbeiten, die bislang verwöhnte Schwester nimmt eine Stelle als Verkäuferin an und besucht Abendkurse in Französisch und Stenographie. Sie entwickelt Selbstbewusstsein, tut sich mit dem Vater zusammen, und beide sind sich einig, dass sie sich Gregors entledigen müssen.

Für diese gegenläufige Entwicklung bietet sich zur Erklärung die systemische Familienpsychologie an, konzipiert vor allem von Paul Watzlawick und Ronald D. Laing. Sie betrachten die Familie als System und beschreiben, dass Familien gerade dadurch stabil sind, dass einzelne Mitglieder psychische oder körperliche Handicaps haben und dass die Stabilität gefährdet wird, wenn diese Handicaps überwunden werden. Ich selbst habe an der Göttinger Volkshochschule den Fachbereich Alphabetisierung betreut und entsprechende Erfahrungen gemacht: Ein des Lesens und Schreibens unkundiger Partner, zumeist männlich, wird vom andern, zumeist weiblich, in seinen schwierigen Lebenslagen umsorgt; doch als er sein Handicap großenteils überwindet und sich vom umsorgenden Partner unabhängig macht, gerät die Ehe in die Krise oder sogar in die Brüche, weil der sorgende Partner seine Lebensaufgabe verliert.

In Kafkas Erzählung verläuft die Entwicklung analog und mit einem grausamen Ende. Die Familie emanzipiert sich vom zur Sorge unfähig gewordenen Sorger. Der Anstoß dazu geht von der Schwester aus. Dass sie Gregor nicht mehr als ihren Bruder ansieht, macht der Erzähler dadurch deutlich, dass sie für den Bruder das neutrale Personalpronomen „es“ gebraucht:

Weg muß es“, rief die Schwester, „das ist das einzige Mittel, Vater. Du mußt bloß den Gedanken loszuwerden suchen, daß es Gregor ist. Daß wir es solange geglaubt haben, das ist ja unser eigentliches Unglück. Aber wie kann es denn Gregor sein? Wenn es Gregor wäre, er hätte längst eingesehen, daß ein Zusammenleben von Menschen mit einem solchen Tier nicht möglich ist, und wäre freiwillig fortgegangen. Wir hätten dann keinen Bruder, aber könnten weiter leben und sein Andenken in Ehren halten.“

Sie lassen ihn verhungern. Nach seinem Tod – und hier wechselt der Erzähler in die auktoriale Perspektive – machen sie mit der Straßenbahn einen Ausflug vor die Stadt:

Sie besprachen, bequem auf ihren Sitzen zurückgelehnt, die Aussichten für die Zukunft, und es fand sich, daß diese bei näherer Betrachtung durchaus nicht schlecht waren, denn aller drei Anstellungen waren … überaus günstig und besonders für später vielversprechend. Die größte augenblickliche Besserung der Lage mußte sich natürlich leicht durch einen Wohnungswechsel ergeben … Während sie sich so unterhielten, fiel es Herrn und Frau Samsa im Anblick ihrer immer lebhafter werdenden Tochter fast gleichzeitig ein, wie sie in der letzten Zeit trotz aller Plage, die ihre Wangen bleich gemacht hatte, zu einem schönen und üppigen Mädchen aufgeblüht war. Stiller werdend und fast unbewußt durch Blicke sich verständigend, dachten sie daran, daß es nun Zeit sein werde, auch einen braven Mann für sie zu suchen. Und es war ihnen wie eine Bestätigung ihrer neuen Träume und guten Absichten, als am Ziele ihrer Fahrt die Tochter als erste sich erhob und ihren jungen Körper dehnte.

Dies ist ein Gegenbild zu Gregors Erstarrung im Panzer. Und es ist in der Tat ein Weg der Befreiung, der Emanzipation, den die Familie beschreitet. Allerdings eine wahrhaft (wenn das Klischee noch erlaubt sei) kafkaeske Form der Emanzipation.

Und Gregors Schicksal? Es gibt marxistische Interpretationen zum Text, Interpretationen, die um die Begriffe Ausbeutung, Isolation, Entindividualisierung, Verdinglichung, Entfremdung kreisen und in der Figur des Gregor Samsa den Warencharakter des Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft sehen. Diese Kategorien sind den Leserinnen und Lesern der Streifzüge freilich wohlbekannt, sie treten im Text offen zutage und müssen deshalb nicht weiter ausgeführt werden.

Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben.

(Kafka)

So endet die Geschichte: Gregors Zimmer wird kaum noch gesäubert und ist völlig verdreckt. Eines Morgens sieht die Dienstmagd nach ihm und stellt fest, dass er tot ist:

sie … pfiff vor sich hin, hielt sich aber nicht lange auf, sondern riß die Tür des Schlafzimmers auf und rief mit lauter Stimme in das Dunkel hinein: „Sehen Sie nur mal an, es ist krepiert; da liegt es, ganz und gar krepiert!“ … „Tot?“, sagte Frau Samsa … „Das will ich meinen“, sagte die Bedienerin und stieß zum Beweis Gregors Leiche mit dem Besen noch ein großes Stück seitwärts. … „Nun“, sagte Herr Samsa, „jetzt können wir Gott danken.“ Er bekreuzte sich, und die drei Frauen folgten seinem Beispiel. Grete, die kein Auge von der Leiche wendete, sagte: „Seht nur, wie mager er war. Er hat ja auch schon so lange Zeit nichts gegessen. So wie die Speisen hereinkamen, sind sie wieder hinausgekommen.“ Tatsächlich war Gregors Körper vollständig flach und trocken, man erkannte das eigentlich erst jetzt, da er nicht mehr von den Beinchen gehoben war und auch sonst nichts den Blick ablenkte.

Gregor hat sich in Sorge für die Familie verzehrt, und als er merkt, dass dies nicht mehr nötig ist und er nur noch eine Last, stirbt er – erkennend seine Lage, doch ohne Erkenntnis seiner selbst – freiwillig den Hungertod in seinem Kehricht.

Epilog

Wie ein Hund!“ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.

Josef K.’s und des Erzählers letzter Satz im Roman Der Process (1915)

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