von Tomasz Konicz
Von der Offensive im Donbass, der drohenden Kriegserklärung und dem Untergang der „Moskau“: Verfangen in einer Eskalationsspirale, taumeln Russland und der Westen in die Katastrophe.
Die „Moskau“ war das Flaggschiff und der Stolz der russischen Schwarzmeerflotte. Nun liegt der 1979 in Dienst gestellte sowjetische Raketenkreuzer, der erst 2021 eine umfassende Modernisierung erfahren hat, auf dem Grund des Schwarzen Meeres. Während Moskau von einem außer Kontrolle geratenen Feuer an Bord des Schiffes sprach, das beim Abschleppen in einen Sturm geraten und gesunken sein soll, meldete Kiew schon Stunden zuvor, dass die „Moskau“ von einer landgestützten ukrainischen Schiffsabwehrrakete getroffen worden sei.
Da das russische Flaggschiff über ein Luftabwehrsystem verfügte, das eigentlich mehrere solcher Ziele zugleich bekämpfen kann, muss ein erfolgreicher ukrainischer Angriff entweder auf ein unglaublich scheinendes Versagen der russischen Marine oder auf handfeste Unterstützung seitens der Nato (etwa durch satellitengestützte Echtzeitortung) zurückgeführt werden. Inzwischen mehren sich überdies Hinweise über eine nukleare Bestückung des Schiffs bei seinem Untergang: Die „Moskau“ könnte mehrere Atomsprengköpfe auf den Boden des Schwarzen Meeres mitgenommen haben.1
Der Verlust der „Moskau“ stellt für den Kreml – nach dem Rückzug aus der Region Kiew und der Nordukraine – ein abermaliges militärisches Desaster dar, das zu einer substanziellen Schwächung der Schwarzmeerflotte und zu einem ungeheuren Prestigeverlust Russlands als einer militärischen Großmacht führt (Die russische Marine verlor zuletzt ein Flaggschiff während des russisch-japanischen Krieges, also in der Spätphase des morschen zaristischen Russland – zumindest in dieser Hinsicht kommt Putin seinem imperialen Ideal schon sehr nahe). Das russische Flaggschiff diente vor allem als eine schwimmende Luftabwehrbatterie, sodass nun mögliche Landungen russischer Marineinfanterie an der ukrainischen Küste, etwa um Odessa herum, unwahrscheinlicher geworden sind. Hinzu kommt die starke Wirkung dieses Verlusts auf die russische Öffentlichkeit und die ohnehin angeschlagene Moral der Truppen in der Ukraine.
Für einen erfolgreichen ukrainisch-westlichen Angriff auf die „Moskau“ sprechen auch die Reaktionen der russischen Armee: Die übrigen russischen Schiffe wurden von der ukrainischen Küste abgezogen,2 eine verschärfte Bombardierung der Ukraine setzte ein,3 Moskau kündigte verstärkte Raketenangriffe auf Kiew an, während der Kremlsprecher Dimitri Peskow Kiew warnte, dass Russland sich bei weiteren „Provokationen“ genötigt sehen könnte, der Ukraine den Krieg zu erklären (ukrainische Truppen haben zuletzt etliche grenznahe Ziele in Russland angreifen können).4 Zudem warnte der Kreml die USA und die EU vor „unvorhersehbaren Konsequenzen“, sollten die westlichen Waffenlieferungen in die Ukraine nicht bald eingestellt werden.
Putin findet sich somit in der selben Lage wieder, wie nach dem Scheitern seines „Blitzkrieges“ in der ersten Woche der russischen Invasion, die bislang einer Aneinanderreihung militärischer Desaster und Katastrophen Russlands gleichkommt. Damals scheiterten die Vorstöße russischer Einheiten in ukrainische Städte wie Kiew und Charkow, was Moskau in einem Eskalationsschritt dazu veranlasste, zum Einsatz schwerer Waffen überzugehen. Entweder reagiert Moskau auf das aktuelle Desaster mit einer Eskalation, oder der Kreml fügt sich in die Niederlage und sucht einen Weg aus dem Krieg. Doch die letzte Option scheint für Putin kaum noch praktikabel, ohne den Machtverlust zu riskieren. Je weiter der Krieg, der faktisch einer Abfolge von Eskalationsschritten gleicht, vorangeschritten ist, desto größer ist der politische Einsatz, der auf dem Spiel steht. Russlands Armee hat enorme Verluste an Mensch und Material hingenommen, sodass ein bloßes „Einfrieren“ des Konflikts, oder gar ein weiterer partieller Rückzug aus der Ukraine einer niederschmetternden Niederlage gleichkäme, die das Überleben der putinischen Machtvertikale und selbst der Russischen Föderation infrage stellte.
Moskau kann nicht mehr zurück aus der Logik der militärischen Eskalation, ohne zuvor zumindest die ohnehin zurückgeschraubten Ziele erreicht zu haben (Kontrolle über den Donbass und Teile der Südukraine). Zugleich scheint bislang die russische Armee außerstande, dem Kreml irgendetwas liefern zu können, was der russischen Öffentlichkeit als ein Sieg verkauft werden könnte. Dieser Abgrund zwischen dem imperialen, sich immer stärker auf das zaristische Russland berufenden Anspruch, und der morschen Wirklichkeit einer ineffizienten, von Korruption und Misswirtschaft geplagten Armee (die laut ursprünglicher Einschätzung westlicher Experten den Konflikt binnen weniger Tage für sich entscheiden sollte5), bringt nicht nur den im Kreml herrschenden Größenwahn zum Vorschein, er ist auch der größte Risikofaktor in diesem Krieg.
Denn für Putin gibt es bislang keine Rückzugsoption, die ihm einem Weg aus dem Krieg weisen würde6 – und der Westen scheint ihm keine liefern zu können oder zu wollen, da er selber in dieser ukrainischen Eskalationsspirale verfangen ist. Für die USA und die EU steht nicht nur die Integrationskraft der im Kriegsverlauf reanimierten Nato auf dem Spiel, sie können nun darauf spekulieren, Moskau eine strategische Niederlage zuzufügen, welche die Regentschaft Putins, oder gar die Existenz der Russischen Föderation in ihrer derzeitigen Form beenden würde. Beide Seiten spekulieren gewissermaßen auf die Desintegration des Gegners, was ja nur auf den fragilen Charakter spätkapitalistischer Staaten verweist: Russland will die Ukraine in „Volksrepubliken“ zerfallen lassen, um diese dann zu absorbieren, während im Westen längst offen über den Zusammenbruch Russlands spekuliert wird.7
Überdies muss auch der Westen einen hohen Preis für den Krieg zahlen: es ist ein ökonomischer Preis, da der Krieg als Krisenbeschleuniger fungiert und sich in der anstehenden Rezession und der sich beschleunigenden Inflation manifestiert.8 In a nutshell: Da der Einsatz in diesem Krieg beständig erhöht wurde, droht beiden Seiten im Fall einer Niederlage ein katastrophaler Fallout, während ein Sieg einen großen Machtzuwachs mit sich brächte. Sollte etwa Russland substanzielle Geländegewinne verzeichnen, würde die Nato massiv geschwächt.
Die Eskalationsspirale dürfte sich somit weiterdrehen. Und hier stehen Moskau – solange der Konflikt nicht in einen nuklearen Schlagabtausch übergeht – letztendlich die längeren Hebel zur Verfügung. Zum einen könnte Russland tatsächlich dazu übergehen, sein Militär ohne jedwede Rücksichtnahme entlang militärischer Logik agieren zu lassen. Bislang hat der Kreml nicht das ganze konventionelle Potenzial seiner Militärmaschinerie in der Ukraine zur Anwendung gebracht, was auch das linksliberale deutsche Gerede von einem russischen „Vernichtungskrieg“ in der Ukraine als opportunistischen Bellizismus und Geschichtsrevisionismus demaskiert, der den tatsächlichen Vernichtungskrieg der Nazis im Osten in einem milderen Licht erscheinen lässt.9
Russlands Militärmaschinerie agiert derzeit gewissermaßen mit angezogener Handbremse, wie US-Militärs gegenüber dem Wochenmagazin Newsweek Ende März erläuterten.10 Demnach lasse Putin bislang seine Armee nicht ihr volles Zerstörungspotenzial entfalten – trotz aller sichtbaren „massiven Schäden“. Kiew etwa sei bislang „kaum getroffen“ worden, zudem würden zumeist militärische Ziele bombardiert. Die gesamte strategische Bomberflotte, die die Ukraine „verwüsten“ könnte, sei kaum im Einsatz. Folglich zeige Russlands Militär bislang „Zurückhaltung“ bei seiner Bombenkampagne, da trotz aller „beispiellosen Zerstörung“ im Osten und Süden die zivilen Opfer sehr viel höher ausfallen könnten. Moskau habe bislang vor allem davon Abstand genommen, der nackten militärischen Logik folgend die Infrastruktur der Ukraine zu zerstören.
Bevor man also den Konflikt propagandistisch weiter anstachelt, indem unter Aufbietung akademischer Phrasen ein „russischer Vernichtungskrieg“ in der Ukraine konstruiert wird, sollte eventuell der simple Umstand reflektiert werden, dass Millionen ukrainischer Flüchtlinge über ein funktionierendes Schienennetz flüchten konnten und in weiten Teilen der Ukraine immer noch das Licht brennt. Es gab bislang laut US-Experten keinen „methodischen Angriff“ Russlands auf Brücken und Transportwege, was nicht nur Fluchtbewegungen ermöglicht, sondern auch der ukrainischen Armee die Versorgung und Truppenverlegungen erleichtert.
Ähnlich verhalte es sich trotz der vielen zivilen Opfer mit der Bombardierung der frontnahen oder umkämpften Städte in der Ukraine, wie Charkow und Mariupol, wo die russischen Raketen- und Artillerieangriffe laut US-Militäreinschätzungen zumindest versuchten, jene „ukrainische Militäreinheiten“ zu treffen, die „aus Notwendigkeit heraus in urbanen Gebieten“ operierten. Die Betonung muss hier wohl auf das „versuchen“ gelegt werden. Im Klartext: die Eroberung von Städten geht mit hohen zivilen Opfern einher, wenn diese vorher nicht evakuiert werden, wie es etwa in Mariupol der Fall war. Das Gerede von gezielten Angriffen russischer Artillerie auf Zivilisten ist somit nach Einschätzung des US-Militärs nicht haltbar.
Das spricht den Kreml nicht frei von der historischen Verantwortung für diesen mörderischen Angriffskrieg, doch es lässt dessen Charakter als eine militärische Eskalationsdynamik klar erkennen, der bislang mitnichten ein Vernichtungskrieg oder gar ein Genozid ist. Russland agiert in der Ukraine gewissermaßen ähnlich wie die USA in Vietnam, die ebenfalls ihr militärisches Engagement schrittweise erhöhten. Im Irak setzte Washington hingegen auf die sofortige, schockweise Anwendung aller Gewaltmittel (Shock and Awe),11 um einen koordinierten militärischen Widerstand des Hussein-Regimes zu paralysieren. Aber diese Ausführungen von US-Militärs lassen erkennen, dass es noch sehr viel schlimmer kommen kann, da Moskau in Reaktion auf das Sinken der „Moskau“ noch weiter an der Eskalationsspirale drehen kann. Die jüngste Ankündigung Russlands, künftig Kiew stärker zu bombardieren12 und der Einsatz strategischer Bomber in Mariupol13 – diese aktuellen Entwicklungen deuten gerade in diese verheerende Richtung.
Die kommende Offensive im Donbass, die Russlands Armee allen Rückschlägen zum Trotz derzeit vorbereitet, stellt ebenfalls einen Eskalationsschritt dar, bei dem beide Seiten den Einsatz erhöhen – und die faktisch eine Vorentscheidung in dem Krieg bringen dürfte. Der Westen liefert schwere Waffen an die Ukraine, während Moskau alle verbliebenen militärischen Reserven im Osten mobilisiert, um die bisherigen Verluste auszugleichen. Und gerade vor dem Hintergrund dieser eventuellen „Entscheidungsschlacht“ sind die eingangs erwähnten Warnungen des Kremls über eine formelle Kriegserklärung Russlands an die Ukraine alarmierend, über die sich gerade das bürgerlich-linksliberale Milieu in seiner Ignoranz lustig macht, das auch gerne einen russischen Vernichtungskrieg in der Ukraine halluziniert.14
Eine formelle Kriegserklärung, die dem orwellschen Gerede des Kremls von der „Sonderoperation“ ein Ende bereiten würde, könnte den wichtigsten Nachteil der russischen Militärmaschine ausgleichen: den Mangel an Menschenmaterial. Ein Kriegszustand würde dieselbe Zwangsmobilisierung der wehrfähigen russischen Bevölkerung nach sich ziehen, wie sie in der Ukraine nach Kriegsausbruch vollzogen wurde. Russlands Berufsarmee verfügte bei Beginn ihres Angriffskrieges zwar über große Vorteile bei Material und Technik, doch konnte Kiew dank der Zwangsmobilisierung eine zahlenmäßig größere Armee aufstellen, die dank besserer Motivation, überlegner Strategie und Taktik (Defence in Depth)15 und umfassender westlicher Militärhilfe und satellitengestützter Echtzeitaufklärung dem russischen Militär die größte Niederlage seit dem ersten Tschetschenienkrieg zufügen konnte.
Eine Massenmobilisierung im kriegsentschlossenen Russland,16 vor der Putin bislang aus innenpolitischen Gründen zurückschreckte (die derzeitige Kriegsbegeisterung könnte dann sehr schnell verpuffen), wäre zwar ein implizites Eingeständnis der bisherigen Unterlegenheit der russischen Armee, doch sie würde mittelfristig eine zahlenmäßig der Ukraine überlegene russische Armee mobilisieren, die nur noch um den Preis einer direkten Nato-Intervention von dem Erreichen ihrer Kriegsziele17 abgehalten werden könnte. Vor dem Hintergrund dieser sich abzeichnenden Eskalationsschritte sind auch die Warnungen der CIA vor dem Einsatz von Atomwaffen durchaus ernst zu nehmen.18 Deutschlands kriegsgeiler Linksliberalismus im Umfeld von Grünen und Linkspartei, der in seiner unnachahmlichen Mischung aus Ignoranz und Arroganz den Konflikt immer weiter anheizt, anstatt um eine sofortige Deeskalation zu kämpfen, könnte somit sehr bald in Erfahrung bringen, wie ein Vernichtungskrieg im 21. Jahrhundert abläuft – eventuell sogar am eigenen Leib.