von Peter Klein
Dass die politische Demokratie in enger Beziehung zu den Unterschichten der bürgerlichen Gesellschaft steht, dass der Demokrat deshalb immer schon ein „Linker“ ist, ein Freund der Erniedrigten und Beleidigten, war in den Anfängen der Arbeiterbewegung eine Selbstverständlichkeit. Da die Masse der Bevölkerung über kein bürgerliches Eigentum verfügte, über nichts also, was sie über ihre Mitmenschen hinausgehoben hätte, schienen die universellen Menschheitsprinzipien, die voraussetzungslos (oder kategorisch, wie es bei Kant heißt) zu gelten beanspruchen, eine besondere Affinität zu dieser eigentumslosen Masse zu besitzen. Dass sich die Bourgeoisie gegen die rechtliche Gleichheit dieser Masse stellte, dass sie „politisch-rechtliche Unterschiede zugunsten der Vermöglichen“ machte (so der konservative Staatsphilosoph Friedrich Julius Stahl, den Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1871 – 1918, auf S. 81 zitiert), ließ diese Affinität nur um so deutlicher hervortreten. Die erzbürgerlichen Ideale der Freiheit und Gleichheit gewannen in realpolitischer Hinsicht eine geradezu anti-bürgerliche Färbung.
Die Defensive der demokratischen Linken
Um so schlimmer war die Niederlage, die der Arbeiterbewegung durch die rechten Diktaturen des Faschismus und Nationalsozialismus zugefügt wurde. Eine Niederlage, die nicht nur die politische Welt durcheinanderwirbelte, sondern auch die theoretischen Kategorien, die bis dahin zur Erklärung dieser Welt gedient hatten. Hitler und Mussolini waren ja unter Ausnützung demokratischer Methoden an die Macht gekommen. Der Versuch, trotzdem in den alten Gleisen des Klassenkampfes weiterzumachen, die Demokratie weiterhin für die Linke zu vindizieren und das Kapital weiterhin als antidemokratisch darzustellen, musste misslingen.
Er sah etwa folgendermaßen aus: Die Demokratie ist die Herrschaft der Mehrheit, die Mehrheit aber besitzt keinen Anteil an den modernen, in gesellschaftlichem Umfang betriebenen Produktionsmitteln, eine Minderheit von kapitalistischen Privateigentümern verfügt über sie und lässt die Mehrheit, die ihren Lebensunterhalt nicht anders verdienen kann, an diesen Produktionsmitteln arbeiten – nicht im Interesse der arbeitenden Mehrheit natürlich, sondern im eigenen, egoistischen Interesse: um den dabei entstehenden Profit einzustreichen und immer noch reicher zu werden. Mit diesem moralisch verwerflichen Tun würde die Demokratie, wenn alles mit rechten Dingen zuginge, Schluss machen. Der demokratische Staat würde die Produktionsmittel übernehmen und nicht-kapitalistisch betreiben: mit moralisch integren Funktionären, die bei all ihrem Tun nichts anderes als das Wohl des arbeitenden Volkes bzw. der Allgemeinheit im Sinne haben. Daher die Furcht der Kapitalisten vor der Demokratie. Je weiter die Konzentration des Kapitals fortschreitet, desto kleiner wird die Zahl der Kapitalisten, desto größer und mächtiger jeder einzelne. Die Neigung des Kapitals, diktatorische Regierungsformen zu unterstützen, wächst. So etwa die Linie der Komintern und ihres Chefs Georgi Dimitroff. Ähnlich auch der Politologe Franz Neumann (1900–1954), Mitarbeiter an Max Horkheimers „Institut für Sozialforschung“, in seinem 1942 erschienenen „Behemoth – Struktur und Praxis des Nationalsozialismus“.
Tatsächlich etablierten sich nach dem Ersten Weltkrieg in 15 europäischen Ländern autoritäre bis diktatorische Regimes, die von der Geheimpolizei bis zum Folterkeller mit allen Schikanen des staatlichen Terrors ausgerüstet waren. Und dabei ist das „Heimatland aller Werktätigen“, die Stalin’sche Sowjetunion, noch nicht mitgezählt. Soweit ist der Rede von den antidemokratischen Tendenzen beizupflichten. Allerdings zeigt diese Entwicklung, dass das Konzept der linken Demokratie, bei dem die „Enteignung der Kapitalisten“ als Verstaatlichung gedacht wurde, sich bereits in der historischen Defensive befand. Die moderne Diktatur, die cäsaristisch oder bonapartistisch genannt wird, weil sie sich wie ihre historischen Vorbilder auf breite Massen der Bevölkerung zu stützen versteht, ist ja schon als solche ein Sprung in Richtung Verstaatlichung der Gesellschaft. Sie erweitert die Zuständigkeit des Staates gerade auch in Sachen Ökonomie und hebt überhaupt sein „Allgemeinheitsniveau“ auf eine (verglichen mit der Epoche des Liberalismus) höhere Stufe. Die gesamte Bevölkerung wird staatsunmittelbar: direkt angesprochen und direkt betroffen von den Maßnahmen des Staates und seinen gesetzlichen Vorgaben. Die Zeiten, in denen man den Universalismus der bürgerlichen Ideen gegen die real existierenden Bürger in Stellung zu bringen pflegte, gegen jene „Bourgeoisie“ also, die ein eigener Stand war und die Staatsbürgerrechte den Kreisen von „Besitz und Bildung“ vorbehalten wissen wollte, waren also bereits vorbei. Die „Bourgeoisie“ war nach der Massenschlächterei des Ersten Weltkriegs nicht mehr das, was sie im 19. Jahrhundert gewesen war. Ihre Rolle als Intermediärgewalt, in welcher der „Fabrikant absoluter Gesetzgeber“ war, der „Fabrikregulationen (erließ), wie er Lust und Laune (hatte)“ (Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, MEW 2:399), war ausgespielt.
Die Erinnerung an jene Zeiten war bei den Bekennern der linken Gesinnung aber noch frisch. Daher verstanden sie Figuren wie Hitler oder Mussolini nicht als eigenständige Phänomene der kapitalistischen Entwicklung, die den Weg zu einem die gesamte Gesellschaft umfassenden Funktionszusammenhang eingeschlagen hatte, sondern sahen lediglich „Marionetten“ in ihnen, die an den von der altbewährten „Bourgeoise“ gezogenen Fäden hingen. Man denke an die bekannte Fotocollage von John Heartfield Hinter mir stehen Millionen: Hitler hebt den rechten Arm zum Gruß und empfängt ein Bündel Geldscheine aus der Hand des hinter ihm stehenden Großkapitalisten. Die „Ökonomie“ (= das große Geld), so will uns das Bild sagen, bestimmt die „Politik“. Auf diese Weise meinte man wohl, dem marxistischen Basis-Überbau-Schema Genüge zu tun, landete aber bei der abstrakten Moral, die die bürgerliche, aus lauter Privatinteressen zusammengesetzte Gesellschaft zu ihrer Voraussetzung hat.
Der eine besticht, der andere wird bestochen. Indem die populistischen Diktaturen der Zwischenkriegszeit als moralisches Problem dargestellt wurden, erlangten die Grundprinzipien der Moral und des modernen Rechts, Freiheit und Gleichheit, eine eigenständige Bedeutung. Die Verbindung zu einem bestimmten sozialen Interesse reißt ab, die Demokratie ist kein Instrument des Klassenkampfes mehr, sie wird – durchaus im Sinne von Hitlers „Volksgemeinschaft“ – zum „Staat des ganzen Volkes“. Dieser versteht sich nicht mehr als Ausdruck oder Diener einer Massenbewegung, sondern er gründet sich auf die Verfassung und die darin niedergelegten Menschen- und Staatsbürgerrechte. Die Politik versachlicht sich, gewinnt mehr und mehr den Charakter einer Verwaltungstätigkeit, und eine Atmosphäre der Ernüchterung und der verlorenen Illusionen entsteht. Die bürgerlichen Abstraktionen sind jetzt gewissermaßen zum Allgemeinbesitz geworden, und damit hat sich auch das typisch bürgerliche Verfahren, die Wirklichkeit am Ideal zu messen, am Kant’schen „Sollen“ sozusagen, verallgemeinert. Weil das Ideal, die Gesellschaft der Freien und Gleichen, für sich genommen inhaltslos ist, ist es bestens dafür geeignet, mit Bildern und Vorstellungen vom guten Leben gefüllt zu werden. Und wie es so geht mit Abstraktionen, in die hinein man ideale Vorstellungen projiziert: Die Wirklichkeit reicht niemals an sie heran – oder anders: Freiheit und Gleichheit werden niemals angemessen „verwirklicht“.
Welcher Steuersatz ist gerecht? Kann man freien Bürgern ein Tempolimit zumuten oder Atemschutzmasken vorschreiben? Fragen dieser Art hören nicht auf. Um sie zu klären, gibt es die Meinungsfreiheit und den Minderheitenschutz, sodass sich eine demokratische Streit- und Debattenkultur entwickeln konnte, an der sich zu beteiligen alle politischen Farben eingeladen sind. Einer verwirrten Linken, die immer noch glaubt, Freiheit und Gleichheit gegen den „bösen Kapitalismus“ in Stellung bringen zu sollen, bleibt nichts anderes übrig, als ihre Erkennungsmelodie von Betrug und Manipulation in dieses Meinungskonzert einzubringen.
Zwei vernachlässigte Aspekte
Für das Verständnis des modernen, weitgehend individualisierten Kapitalismus scheinen mir zwei Gesichtspunkte wichtig zu sein, die im traditionellen linken Denken, soweit es in der Epoche der bürgerlichen Revolution wurzelt, eher zu kurz kommen. Zum einen geht es um den Systemcharakter des modernen Kapitalismus, zum anderen um den Privateigentümer, wie er nach der klassischen juristischen Definition beschaffen und im freien Willen des modernen Individuums wirksam geworden ist.
Der Grund der Vernachlässigung liegt natürlich darin, dass Freiheit und Gleichheit nicht hinlänglich deutlich und konsequent als Momente der bestehenden Produktionsverhältnisse wahrgenommen werden. Als notwendige Momente der Warenzirkulation sind sie ursprünglich und zunächst eine praktische Angelegenheit. Sie werden im Augenblick des Warentausches praktisch vollzogen, ohne dass dies den Kontrahenten, die sich dabei wechselseitig als frei über das jeweilige Produkt verfügende Eigentümer behandeln, zu Bewusstsein kommen muss. Erst aus dieser Praxis des Warentausches, nachdem sie hinlänglich lange und regelmäßig geübt worden ist, gelangen die bürgerlichen Abstraktionen in die Köpfe der Menschen und erscheinen hier als Ideen, die der Natur bzw. der Vernunft gemäß sind und deshalb überall gelten sollten.
Der moderne Mensch pflegt von den materiellen Voraussetzungen seiner Denk- und Bewusstseinsform nichts zu wissen. Auch deshalb ist es gerechtfertigt, sein Ich-Bewusstsein abstrakt zu nennen. Wie Spinozas Stein, der, von einer ihm unbekannten Kraft geworfen, meint, aus eigenem Antrieb zu fliegen, so versteht sich auch das abstrakte Individuum als der (nur) für sich selbst verantwortliche Ausgangspunkt seines Denkens und Handelns. Es reflektiert nicht auf Freiheit und Gleichheit als die in den Produktionsverhältnissen wurzelnden Realabstraktionen, denen es sich selbst verdankt, sondern wendet sie, moralische Urteile fällend, unbesehen an. Indem es sie den vorgefundenen sozialen Kategorien äußerlich anklebt, werden diese gewissermaßen konserviert und stabil gehalten – nicht in der Wirklichkeit, sehr wohl aber im Denken des abstrakten Individuums, von dem wir ja alle affiziert sind.
a) Vom Kapitalisten zum Kapitalismus
So entsteht die Neigung, den Kapitalismus in Verbindung mit der Figur des „Kapitalisten“ zu denken. Der „Kapitalist“ ist reich und mächtig und somit eine Beleidigung der Gleichheitsforderung. Man erinnere sich an jenen „Fabrikanten“, den der junge Engels vor Augen hatte. Er ist „absoluter Gesetzgeber“ und erlässt seine Regulationen nach „Lust und Laune“. Diese Figur dürfte für den seinerzeitigen „Kapitalismus“, der von sich als „Ismus“ noch nichts wusste, kennzeichnend gewesen sein. Das System war, wie man mit Hegel sagen könnte, noch nicht bei seinem „Begriff“ angelangt. Somit befanden sich viele der Regeln und Maßnahmen, die im weiteren Verlauf der Entwicklung in die Zuständigkeit des Staates fielen, im persönlichen Ermessen des jeweiligen Unternehmers. Der war sozusagen eine Persönlichkeit, prägte mit seinem Charakter den ganzen Betrieb, und fühlte sich oft auch für das Benehmen seiner Arbeiter verantwortlich. Der misanthropische Geizkragen, den Dickens in seinem Ebenezer Scrooge vorführt (A Christmas Carol, 1843), repräsentiert gewiss nicht das ganze Spektrum der seinerzeitigen Charaktermasken. Carl Schurz zeigt in seinen „Lebenserinnerungen“ ein anderes Exemplar, einen Unternehmer, wichtigen Helfer bei der Flucht von Gottfried Kinkel und Schurz nach England im Jahre 1852, der, „weit und breit als ein Freund und Fürsprecher der Armen und Bedrückten bekannt, „von seinen Arbeitern (…) wie ein Vater verehrt und geliebt“ wurde (Lebenserinnerungen Bd. 1, S. 339).
Das Bürgertum sah sich an der Spitze des Fortschritts stehen, es empfand seine Lebens- und Denkweise als beispielgebend für die ganze übrige noch halb im Mittelalter steckende Bevölkerung und entbehrte bei der Verkündung seiner Art von Vernünftigkeit und alkoholischer Mäßigung oft nicht eines gewissen pädagogischen Eifers. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rückte das Bürgertum vollends zur „guten Gesellschaft“ auf, wenn man in Geschmacksfragen auch gerne noch nach dem Adel schielte. (Moderne Kunst und Lebensreform traten erst am Ende des Jahrhunderts auf.) Die groß gewordenen Bürger traten jetzt, ihre gesellschaftliche Bedeutung unterstreichend, vermehrt als Stifter und Mäzene von allerlei kulturellen und sozialen Einrichtungen auf. Die Unternehmer bauten Werkswohnungen und kümmerten sich um das von den sozialistischen Ideen bedrohte Seelenheil ihrer Arbeiter. Die im Bergbau tätige Familie Chagot, so liest man etwa bei Sorel, „(unterstellte) die Arbeiter der Leitung der Priester“ und verlangte von ihnen, „zur Messe zu gehen“ (Sorel, Über die Gewalt, S. 266).
Es versteht sich, dass die patriarchalische Auffassung des Privateigentums, die noch weitgehend im Herr-Knecht-Modus verharrt („unmündig nennt man uns und Knechte“, heißt es in der „Internationale“ von 1871), mit dem modernen Kapitalismus wenig zu tun hat. Deswegen das Wort „Willkürherrschaft“ zu verwenden, wie es die Engels’sche Fomulierung nahelegt, ist aber auch nicht angebracht. Schon seinerzeit war der Kapitalist, wollte er einer bleiben, durchaus nicht frei, mit seinem Eigentum nach Belieben zu verfahren, nach Maßgabe seines freien Willens sozusagen. Er musste schon damals, um sich auf dem Markt halten zu können, die Kosten der Produktion möglichst niedrig halten, musste die Betriebsorganisation laufend verbessern und effektivieren, musste die technische Entwicklung im Auge behalten, musste in neue Maschinen investieren, musste die Arbeiter so führen, dass sie arbeitswillig blieben und mit der wertvollen Maschinerie sachgerecht umgingen, musste den Marktanteil seiner Produkte zu vergrößern trachten, musste neue Produkte entwickeln usw. usf. Eine ganze Reihe von „Muss“, die mit dem kapitalistischen Privateigentum und der daraus entspringenden Konkurrenz der Kapitalisten untereinander logisch notwendig gesetzt sind. Jeder Kapitalist ist ihnen unterworfen, sodass wir hier wieder der Kategorie der Allgemeinheit begegnen: Voraussetzung dafür, dass die Methoden und Organisationsstrukturen der kapitalistischen Produktion sich objektivieren und zur „Wissenschaft“ (BWL, VWL etc.) werden konnten, die zu studieren jedem Mann und jeder Frau nach guter demokratischer Sitte offen steht. Nimmt man die staatliche Allgemeinheit hinzu, die die für die Produktion im Großen erforderliche Infrastruktur bereitstellte (Vereinheitlichung der Maße und Gewichte, der Währung, Erziehungs- und Ausbildungswesen, nationale und internationale Kodifizierung des Rechts etc.), dann wurde „dem Kapitalisten“ als Person und Charakter in den vergangenen 150 Jahren vollends der Garaus gemacht. Er löste sich auf in das weltweit dimensionierte System „Kapitalismus“.
b) Das moderne Privateigentum
Genau in diese Richtung der Entwicklung weist schon eine Bemerkung über das Privateigentum, die Marx und Engels in der „Deutschen Ideologie“ von 1845 machen. Die Definition des Privateigentums als jus utendi et abutendi durch das (seinerzeit noch angewandte) römische Recht, erwecke den Eindruck, „als ob es auf dem bloßen Privatwillen, der willkürlichen Disposition über die Sache beruhe“ (MEW 3:63). Das Privateigentum ist aber eine gesellschaftliche Einrichtung, das Moment bestimmter Verhältnisse, und der Privateigentümer, zumal der kapitalistische, muss sich an deren Vorgaben halten, „wenn er nicht sein Eigentum und damit sein jus abutendi in andre Hände übergehen sehen will …“ (ebd.). Die Vorstellung, dass ich als ihr Eigentümer mit der betreffenden Sache machen kann, „was ich will“, nennen sie daher eine „juristische Illusion“, zu Recht, wenn man an die bekannten wirtschaftlichen „Sachzwänge“ denkt.
Gleichwohl hatte diese Illusion, was ihre Wirksamkeit und praktische Umsetzung betrifft, noch eine große Zukunft vor sich: nämlich innerhalb des zum System avancierten Kapitalismus. Jeder und jede, der oder die mit Geld zu tun hat, egal ob als Konsument oder Produzent oder Sozialhilfeempfänger, ist ein Bestandteil der kapitalistischen Geldbewegung. Diese aber, das „automatische Subjekt“ der modernen Gesellschaft (Marx), hat zu allen Tätigkeiten, die wir ausüben, zu allen sozialen Lagen, in denen wir uns befinden, lediglich ein Benutzerverhältnis. Sie akzeptiert sie nur so lange und nur in dem Maße als werthaltig, wie sie für das Gesamtsystem funktional sind, also jener Logik der Wertverwertung (vulgo „Wachstum“ genannt) dienen, die der „höhere“ oder „eigentliche“ Zweck der ganzen Veranstaltung ist. Immer neue Funktionen treten auf, alte werden ausgesondert und gehen kaputt. Man kennt das Marx’sche Wort von der „fortwährenden Umwälzung der Produktion“, von der „ununterbrochenen Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände“, die für „die Bourgeoisepoche“ kennzeichnend seien (MEW 4:465).
Ausgerechnet in diesem System der „ewigen Unsicherheit und Bewegung“ (ebd.) hat sich nun jener Eigentümer etabliert und musste sich wohl auch etablieren, der dem römischen jus utendi et abutendi sehr weitgehend entspricht. Die Rede ist natürlich vom modernen Ware-Geld-Individuum, wie es sich im Zusammenhang mit dem totalen Markt und der kapitalistischen Demokratie herausgebildet hat. Alle Funktionen und Beziehungen, in denen sich dieses Individuum befindet, sind vorübergehender Natur, nur eine ist stabil und von lebenslänglicher Dauer: die Beziehung zum eigenen Körper, zur eigenen physischen und physiologischen Existenz. An dieser hat das abstrakte Individuum jenes Eigentum, an dem es nicht nur rücksichtslos, sondern geradezu hemmungslos seinen freien Willen auslassen kann. Da es sich notgedrungen als Agent der herrschenden Logik betätigt, für den die von der Kapitalbewegung herrührenden Zwänge diejenigen des Lebens selbst bedeuten, sind dem Missbrauch der eigenen Existenz im Sinne jenes von Marx/Engels erwähnten jus abutendi Tür und Tor geöffnet. Das Ensemble empirischer Eigenschaften, über das ich verfüge, muss, damit es auf dem Arbeitsmarkt einen guten Preis erzielen kann, der Nachfrage entsprechend qualifiziert werden, es muss fit gehalten werden, es muss den Wechselfällen und Belastungen des „modernen Lebens“ standhalten können und, mit einem Wort, in jeder Lage zuverlässig funktionieren. Wenn auch der Körper alle möglichen Symptome entwickelt, vom Bluthochdruck bis zur Schlaflosigkeit – es hilft ihm nichts, er muss gehorchen.
Seitdem der „Kapitalist“ zum überall wirksamen System geworden ist, hat das Verhalten des abstrakten Ich zum eigenen empirischen Dasein als zu einer Ware, die im Jobcenter angeboten wird, nichts Anrüchiges mehr. Sich „eine Arbeit“ zu suchen oder „irgendeine Beschäftigung“, ist geradezu ein moralischer Imperativ geworden, der sich an jedermann (und jede Frau) richtet. Die vielen „Muss“, die zu dieser Konstellation gehören, besitzen daher einen weitaus höheren Rang von Allgemeinheit als diejenigen des oben erwähnten „Kapitalisten“, der für den Liberalismus des 19. Jahrhunderts steht. In den demokratischen Zeiten beziehen sie sich auf das Individuum als solches, sodass sie den Eindruck erwecken, zum „Menschen schlechthin“ zu gehören. Allgemein und allseitig geworden ist die Konkurrenzsituation, in der sich das moderne Individuum befindet, allgemein verbreitet ist das entsprechende Seelenleben mit seiner Sinnsuche und seiner Selbstwertproblematik. Dass auch diese Art Allgemeinheit die entsprechenden Wissenschaften nach sich zog, nämlich solche, deren Aufgabe es ist, unser Ich „stabil“ und „realitätstüchtig“ zu halten, erwähne ich nur am Rande.
Das moderne Individuum als Moment des Rechtssystems
Einen wesentlichen Anteil an der Herstellung des abstrakten Individuums hatte natürlich der Prozess der Verrechtlichung aller Beziehungen, wie er seit dem 19. Jahrhundert als die „Demokratisierung von Staat und Gesellschaft“ abgelaufen ist. Dem Ausgangspunkt in der ständischen Gesellschaft entsprechend wurde das Recht hierbei attributiv verwendet. Gegeben ist die soziale Kategorie oder Situation, und sie soll oder will zu ihrem Recht kommen. Etwa als Lohnarbeiter: Arbeitszeit, Kündigungsfrist, gewerkschaftliche Organisierung, Wahlrecht – dass dies alles gesetzlich geregelt und gesichert wurde, erschien als eine Aufwertung und sogar Ermächtigung der entsprechenden Kategorie. Und das war es ja auch, allerdings innerhalb des kapitalistischen Funktionszusammenhangs, der damit die Gepflogenheiten der Herr-Knecht-Konstellation hinter sich ließ.
Diese Gewohnheit, das Recht attributiv zu behandeln und es an die jeweilige Materie – Arbeit, Miete, Unternehmen, Steuer, Umwelt, Urlaub – einfach nur anzuhängen, hat sich bis heute gehalten, wenn auch niemand mehr den Gedanken der politischen Macht oder gesellschaftlichen Umwälzung damit verbindet. Die Umwälzung, die gleichwohl stattgefunden hat, nämlich darin, dass die Konstellation sich umkehrte und die soziale Kategorie zum Attribut des Rechtssystems wurde, blieb deshalb meist (von gewissen Systemtheoretikern abgesehen) unbemerkt. Übermächtig wurde der Systemcharakter des Kapitalismus, übermächtig wurde die zugehörige Subjektform: das abstrakte, private, vereinzelte etc. Individuum, das frei ist, in jeder beliebigen vom System bereitgestellten Funktion tätig zu werden, an jeder beliebigen Stelle Geld zu verdienen und mitzuhelfen bei der Verwertung des Werts.
Es ist der abstrakte Charakter des modernen Rechts, der dies bewirkt hat. Weil es für sich genommen keinerlei empirischen Inhalt hat, sondern nur eben auf das allgemeine Gelten von was auch immer hinausläuft, ist es fähig, sich jede beliebige Empirie vorzunehmen und als Rechtsmaterie zu beschreiben. Das heute noch oft zitierte Wort von Anatole France (in dem Roman „Die rote Lilie“), das allgemeine Gesetz verbiete es Armen und Reichen gleichermaßen, „unter Brücken zu schlafen“ etc., nimmt diese Abstraktheit aufs Korn, weiß aber, 1894 publiziert, noch nichts von der Flexibilität und Anschmiegsamkeit, die das moderne Recht eben aufgrund dieser Abstraktheit besitzt. Die immer weitere Ausdifferenzierung des Rechts, das in den demokratischen Zeiten versucht, jeder im Kapitalismus auftretenden Lebenslage „gerecht“ zu werden, ist genau von solchen linken Kritikern wie Anatole France vorangebracht worden. Mit ihrer Kritik haben sie dazu beigetragen, dass die soziale Basis, auf der alle linken Konzepte seit dem 19. Jahrhundert fußten, die Arbeiterklasse, untergraben und das Recht (wie übrigens von Eduard Bernstein etwa zur selben Zeit gefordert) immer mehr und immer besser auf das „Individuum als solches“ zugeschnitten wurde. Ein wichtiger Beitrag zum Prozess der Individualisierung, als dessen neoliberale Fanfare Margaret Thatcher den Satz beisteuerte: „So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht, es gibt nur einzelne Männer und Frauen, und es gibt Familien …“.
Der Mechanismus ist der folgende: Dadurch, dass eine soziale Kategorie rechtlich definiert und geordnet wird, wird sie anerkannt als normales, objektiv gegebenes Faktum des sozialen Lebens (Stichwort: Rechtspositivismus). Sie erhält den Stempel der Allgemeingültigkeit, wird gewissermaßen mit Allgemeinheit gesalbt, besser wohl: übertüncht. Die unpersönliche Formulierung besagt, dass prinzipiell jeder und jede für die betreffende Lage oder Tätigkeit infrage kommt, die tatsächlich Betroffenendurch sie also nicht definiert oder stigmatisiert werden. Informiert über das Regelwerk, das mit der betreffenden Situation verbunden ist, über die Gratifikationen oder Sanktionen, die ich je nach meiner performance erwarten kann, wird sie für mich zur Institution, in die ich durch gewisse Umstände und Zufälle hineingelangt bin, aus der ich bei veränderten Umständen aber auch wieder hinausgelangen werde. Sie steht mir als etwas fertig Definiertes gegenüber, als etwas, das es schon vor mir gegeben hat und ohne mich gibt. Ein Unterschied tritt ein zwischen dem, was ich praktisch tue und erlebe und mir, der sich dazu als zu etwas Äußerem verhält, und zwar kalkulierend verhält, Vorteile und Nachteile gegeneinander abwägend. Ich bin nicht, was ich erlebe oder tue, meine rechtliche Stellung und bald auch mein Bewusstsein, meine Identität, befinden sich diesseits davon. Für Anatole France war „der Arme“ eine substantielle Kategorie, das gesamte gesellschaftliche Sein, somit auch das Bewusstsein bestimmend; das individualisierte Recht greift durch diese Kategorie hindurch, macht sie durchsichtig, unterminiert sie gewissermaßen, und erklärt den Armen zu einem Jemand, der sich (hinzuzudenken: momentan, zeitweise) in einer schwierigen Lebenssituation „befindet“. Der Film „Vom Gießen des Zitronenbaums“ (Elia Suleiman, 2019) führt uns diese Situation drastisch vor Augen: Die Szene zeigt ein Matratzenlager an einer Straße in Paris, Wohnort eines Obdachlosen. Ein Ambulanzwagen fährt vor, zwei Angestellte der Wohlfahrtsindustrie (des Sozialamts) steigen aus und bedienen den Obdachlosen sachlich-routiniert und mit professioneller Freundlichkeit wie nur irgend sonst einen Kunden: mit den Sachleistungen (Blutdruckmessen, Medikamente, Mittagsmenü), die ihm gesetzlich zustehen, solange er sich in der Kategorie „obdachlos“ aufhält. Die „Würde der Rechtsperson“ ist unantastbar, sie wird von der Situation, Rolle, Funktion, in der sie sich befindet, nicht berührt. Das ist es, was die Grundrechte besagen.
Die Idioten der privaten Freiheit
Nach und nach wird die gesamte Empirie einschließlich meiner elementaren Bedürfnisse und Gefühle ein fremdes Wesen für mich – und mein Zuhause ist die gesellschaftliche Form, die mir unter dem Titel „Würde des Menschen“ den Standpunkt des abstrakten Individuums verschafft hat. Kein Wunder, dass dieses Individuum sich mit den existentiellen Unabänderlichkeiten, die es bei aller rechtlichen Übertünchung und Objektivierung des Lebens immer noch gibt, schwertut. Seinerzeit, als man über die Befindlichkeit des „modernen Menschen“ noch staunen konnte, hat dieses Staunen eine eigene Philosophie, den Existentialismus, hervorgebracht, der sich mit dieser Thematik auseinandersetzte.
Als aktuelles Beispiel für diese Befindlichkeit können etwa jene Idioten der privaten Freiheit dienen, die mit der Corona-Pandemie auch gleich noch eine politische Diktatur nach Art des Faschismus heraufziehen sehen. Als hätten wir den Rubikon der Gleichschaltung nicht schon längst überschritten. Das leidige Maskentragen und die anderen von den Regierungen verordneten Maßnahmen und Restriktionen seien demnach nicht auf die Eindämmung der Seuche gerichtet. Die Physiologie von Leben und Sterben, von Krankheit und Tod besitzt für das abstrakte Ware-Geld-Individuum keine Überzeugungskraft. Stofflich-empirische Gegebenheiten kann es nicht ernst nehmen. Aus diesem Bereich kommen nur Vorwände und Scheinargumente, die das „Eigentliche“ verdecken. „Eigentlich“ geht es „ihnen“, nämlich den finsteren Mächten, die hier am Werke sind, immer nur um das, was das Verkäufer-Ich des modernen Individuums selbst für erstrebenswert hält: Geld und Macht.
Der Gestus, den diese hochvergesellschafteten Sklaven des Werts an den Tag legen, erinnert an den Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Aber damals hatte das Bürgertum noch eine ganze Wegstrecke der Modernisierung vor sich. Die Privilegien des Adels, die muffige Enge der Standesvorurteile und die ideologische Gängelung durch die Kirche ließen die bürgerlichen Prinzipien leuchten. Da war noch Platz für Fortschrittsträume und Visionen. Die sich heute in die Pose des kühnen Kämpfers werfen, haben nichts dergleichen. Ohne jeden Gedanken, der über den Staat, den sie beschimpfen, hinausreichen würde, ohne die Fähigkeit, Gemeinschaftsaufgaben in kollektiver Selbstorganisation wahrzunehmen, demonstrieren sie nur, dass der private Standpunkt, dessen Freiheit sie einklagen, nun wirklich, was Enge und Beschränktheit angeht, auf dem Niveau des vereinzelten Punktes angekommen ist. „Ich bin ich“ und „das ist mein Recht“ – mehr Perspektive hat diese Endmoräne der abstrakten Vergesellschaftung nicht zu bieten. Die Protestierenden brauchen den Staat wie quengelnde Kinder die Mama brauchen, die „gemein“ ist, weil sie ihnen den bunten Lutscher nicht kauft. Aber sie sind eben keine kleinen Kinder. Die gereizte Stimmung hat etwas mit der Krise des Kapitalismus zu tun. Sie ist ein Ausdruck davon und sie kann zu ihrer Verschärfung durchaus einen Beitrag leisten. Der Standpunkt der Abstraktion wird für sich selbst dysfunktional. Die Rücksichtslosigkeit, die ihm eignet, kehrt sich neuerdings gegen das System, das im Dienst an der Abstraktion entstanden ist.
Von der über die abstrakte Vergesellschaftung hinausweisenden Perspektive soll im dritten Teil der Serie die Rede sein.