Schulden essen Zukunft auf

von Alexander Maly

„… ein Problem, das die Plebejer bedrohte, war die Schuldknechtschaft: wer in Not geraten war und sich gezwungen sah, ein Saatdarlehen aufzunehmen, schließlich aber selbst nicht im Stande war, die Schuld zu begleichen und keinen Gläubiger fand, musste mit seiner Arbeitskraft herhalten und geriet so in die Schuldsklaverei (lat. nexum). Erst 300 v. Chr. wurde die Schuldknechtschaft aufgehoben.“ (Wikipedia)

Ohne Blick in die Vergangenheit sind die Gefahren der Zukunft nicht erkennbar

Bis in die 1980er Jahre war die Verschuldung der privaten Haushalte und auch die damit verbundene Verschuldung von Privatpersonen kein großes Thema. Wer kein Vermögen hatte, konnte sich auch nicht nennenswert verschulden. Warum? Sehr einfach: nur wer „dingliche Sicherheiten“ (Immobilieneigentum, Grundeigentum oder eine florierende Firma) sein Eigen nannte, hatte die „Chance“ größere Kredite von Banken zu bekommen.

Heutzutage kaum vorstellbar, aber bis 1982 gab es unter österreichischen Banken ein Agreement, dass für Kredite an Private nicht geworben werden dürfe. Eine Bank, die gegen diese Vereinbarung verstieß, konnte mit einer Konventionalstrafe belegt werden – zumindest in der Theorie. Beflügelt durch das Wirtschaftswachstum der Nachkriegsjahre suchte jedoch auch der Finanzsektor nach neuen Produkten und Kundenschichten.

Was lag also näher, als die bisher wenig beachteten privaten Haushalte ins Visier zu nehmen. Bei Kreditdienstleistungen gab es aber ein Problem: wer nichts besaß, dem konnte nichts weggenommen werden, falls er oder sie den Kredit nicht mehr zahlen konnte – das Geld der Bank war weg. Um den Banken eine bessere Handhabe gegen säumige Schuldner zu geben, wurde 1986 kurzerhand die Exekutionsordnung verändert: der Zugriff auf Lohn oder Gehalt eines Schuldners wurde deutlich vereinfacht. Die „Drittschuldneranfrage“ beim Hauptverband der Sozialversicherungsträger wurde ab 1986 allen Gläubigern ermöglicht, die einen gerichtlichen Titel vorweisen konnten. Diese Anfrage war davor nur „Unterhaltsgläubigern“ (Kindern) vorbehalten.

Auch Förderungen aus Steuergeldern, vor allem im Bereich Wohnen, wurden zunehmend nicht nur über Banken abgewickelt, sondern konnten nur noch lukriert werden, wenn damit ein Kredit zurückgezahlt wurde („Annuitätenförderung“). Wer eine geförderte Wohnung erhielt, musste zur Bank und bekam dort auch gleich den Konsumkredit für die Einrichtung.

Die Statistiken der Österreichischen Nationalbank zeigen daher auch sehr deutlich, dass ab 1986 die Finanzprodukte „Konsumkredit“ und „Kontoüberziehung“ mit jährlich zweistelligen Prozentraten geradezu explosionsartig gewachsen sind.

Auf der Kommunikationsebene konnten drei Entwicklungen beobachtet werden:


+ Mit riesigem Werbeaufwand gelang es, den Konsumkredit „salonfähig“ zu machen. Wer immer die konventionelle Meinung vertrat, dass ein Konsumgut (Fernseher, Einrichtung, KFZ, …) zuerst erspart und erst dann gekauft werden sollte, wurde (und wird nach wie vor!) von der Werbung mehr oder weniger subtil als Hinterwäldler oder Spaßverderber bezeichnet. Die sofortige Erfüllung von Konsumwünschen mittels Kredit wurde als „Normalzustand“ propagiert. Etliche Werbestrategien richteten sich auch ganz eindeutig an ärmere Bevölkerungsschichten: schon 1986 gab es den berühmten Werbespruch „Anna, den Kredit hamma“.

+ Die von den Banken stark beworbene Möglichkeit, das Konto zu „überziehen“, entwickelte sich zu dem am meisten verkauften und teuersten Konsumkredit. Die Marktstrategen schafften es, ihn nicht als „Schuldverhältnis“, sondern als „Goodie“ im Bewusstsein der Kunden zu verankern. Die „persönliche Einkaufsreserve“ (O-Ton Bank Austria) war und ist in Wahrheit vor allem bei vielen jungen Erwachsenen die „Einstiegsdroge“ in einen späteren finanziellen Absturz.

+ Eine „Meisterleistung“ im Missbrauch von Kommunikationsstrategien ist die Brandmarkung aller derjenigen, die sich an Kreditdienstleistungen „verschluckten“ und in die Überschuldung gerieten. Waren sie vorher noch die umschmeichelten Kunden, wurden sie im Handumdrehen als gewissenlose Menschen, die über ihre Verhältnisse leben, gebrandmarkt. Weitere Verschärfungen der Exekutionsordnung (z.B. 1991 Pfändbarkeit auch des Arbeitslosengeldes) unterstrichen die Meinung, dass Überschuldung ausschließlich der Schuldner zu verantworten habe. Als dann in Österreich – nachdem bereits zigtausende Haushalte in der Schuldenfalle saßen – endlich 1995 der Privatkonkurs eingeführt wurde, war und ist dieser nach wie vor geprägt von moralischen Termini: so sollen im Abschöpfungsverfahren nur „redliche Schuldner“ die Befreiung von ihren Schulden erlangen – als ob „unredliche Schuldner“ nicht ohnehin vom Strafrecht erfasst wären.

Zum Thema „Moral“ und zahlungsunfähige Schuldner melden sich regelmäßig die drei Gläubigerschutzverbände KSV von 1870, AKV und Creditreform zu Wort. Sie alle sprechen lieber von der Zahlungsmoral und nicht von steigender oder sinkender Zahlungsfähigkeit der österreichischen Haushalte.

Nicht nur die privaten Haushalte …

Ein weiteres bedenkliches Resultat dieser Entwicklung seit 1986 war im Bereich der (kleinen) Selbstständigen, der „KMUs“ zu beobachten:

Bei Unternehmen mit persönlich haftenden Betreibern (z.B. Ein-Personen-Unternehmen, OEGs, aber auch „Schein-Selbstständige“) wurde kaum noch das Unternehmen an sich und seine Erfolgschancen am Markt beurteilt, sondern nur noch, was im Fall des Falles aus der, mit ihrem Privatvermögen haftenden, Person „rauszuholen“ wäre. Bereits vorhandenes Wissen der Banken zur realistischen Beurteilung von Kleinunternehmen wurde als unnötiger Kostenfaktor gesehen und ging sukzessive verloren. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn seit Bestehen der Schuldnerberatungsstellen die „ehemals Selbstständigen“ konstant ein Drittel der Ratsuchenden ausmachen.

Insgesamt zeichnet sich die Rechtslage ab 1986 und bis zur Bankenkrise 2007/2008 dadurch aus, dass den Wünschen der Banken, möglichst risikolos und massenhaft standardisierte Kredite verkaufen zu wollen, zu stark Rechnung getragen wurde. Nach der Bankenkrise wurden von der EU unter dem Stichwort „Basel III“ diverse Regelwerke entwickelt, die Banken bezüglich Kreditvergabe in die Schranken weisen sollten. Genau diese Regelwerkewerden von der EU selbst entwertet: Das seit Jahren von der EZB betriebene „Quantitative Easing“ pumpt Geld in die europäischen Märkte, mit dem deklarierten Ziel, die Wirtschaft mit billigen Krediten anzutreiben – sprich, die Verschuldung wiederum anzukurbeln.

Belastung für die Zukunft

Die seit den 1980er Jahren stattgefundene „Durchseuchung“ der Gesellschaft mit Krediten ist folgenschwer:

Private Haushalte, die verschuldet sind, kommen durch jede Einkommensverschlechterung (auf Grund der drei Ks: Kind, Kurzarbeit, Kündigung) massiv unter Druck. Sowohl der seit Jahrzehnten volatil gewordene Arbeitsmarkt und natürlich erst recht die Covid-19-Krise, machen Einkommensverschlechterungen zum Standardfall – Rückzahlungsverpflichtungen und auch die zitierte Exekutionsordnung nehmen darauf keine Rücksicht.

KMUs, die verschuldet sind, müssten deutlich mehr „Gewinn“ erwirtschaften, um ihre Kreditverpflichtungen erfüllen zu können. Hier rächt sich die österreichische Praxis aller bisherigen Finanzminister, die Bildung von Eigenkapital in Unternehmen eher behindert und nur die steuerliche Berücksichtigung von Kreditraten gefördert haben.

Selbst große Unternehmen wurden darauf „dressiert“, Überschüsse an die „Shareholder“ abzugeben, aber notwendige Investitionen über Kredite zu finanzieren. Was dazu führt, dass selbst hoch profitable Unternehmen in Krisensituationen schon nach wenigen Wochen mit schlechtem Geschäftsgang die Luft ausgeht und der Weg zum Konkursgericht (oder zum Staat) im Raum steht.

Nutzen von Krediten?

Mantraartig wird immer wieder behauptet, dass Kredite den Blutkreislauf unseres Wirtschaftssystems darstellen. Nun, das mag für unser Wirtschaftssystem sogar stimmen. Denn immerhin werden im Bereich der Privathaushalte die Konsumkredite tatsächlich für Konsum ausgegeben. Und stimulieren damit die Wirtschaft – das Kaufen, das Wegwerfen, das weit-Fliegen, das weit-Fahren, den Konsum um des Konsums wegen …

Auch im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen, auch KMUs genannt, wird damit der in unserem System postulierte Zwang zu Wachstum, zu Größe und zur Verdrängung Anderer finanziert. Unsere bisherige „Wachstumsgesellschaft“ ist ohne Kredite kaum denkbar, auf der Strecke bleiben klarerweise verbrauchte Ressourcen, die Verdrängten, die „nicht ganz so cleveren“ Überschuldeten und die Umwelt. Es ist stark zu bezweifeln, dass sich daran demnächst etwas ändern wird.

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Die Antworten der österreichischen Bundesregierung zur „Rettung der KMUs“, im Zuge der Covid-19-Krise, müssen daher als brandgefährlich bezeichnet werden. Den Banken werden Stundungen von Krediten verordnet, doch was heißt das: Stundung heißt ja nur Aufschub der Rückzahlungsverpflichtung. Aber was ist, wenn das Geschäft einfach nicht mehr so richtig anspringt?

So richtig gruselig wird es aber, wenn – wie in der aktuellen Situation – der Finanzminister die Banken ermuntert, bei der Kreditvergabe lockerer vorzugehen. Für die Banken bedeutet das kein zusätzliches Risiko, lassen sie sich doch die „großzügigere“ Bonitätsprüfung durch staatliche Garantien absichern. Für den kleinen Unternehmer bedeutet es jedoch, dass er mehr denn je nur dafür arbeitet, die Kredite abzuzahlen. Die Bildung von Eigenkapital – eigentlich ein wichtiger Faktor für „betriebliche Resilienz“ gegenüber Krisen aller Art – wird erst recht und nachhaltig behindert.

Zeitverzögert, dafür umso häufiger werden daher in den nächsten Jahren KMUs in einer Art „Schuldknechtschaft“ landen. Viele werden die Notbremse ziehen und aufgeben. Da sich die Meisten aber nicht hinter einer Haftungsbeschränkung á la Aktiengesellschaft oder (eingeschränkt) GmbH verstecken können, wartet nach dem Unternehmenskonkurs der Privatkonkurs.

Verbaute Zukunft durch Schulden

In der Schuldnerberatung Wien werden einmal pro Jahr für ein Monat alle Menschen befragt, deren Schuldensituation nun als „geregelt“ gilt. Dabei fällt bei wirklich Allen ein Satz, der in etwa lautet: „Wenn ich gewusst hätte, dass ich kein aussichtsloser Fall bin, dann wäre ich schon viel früher gekommen.“

Jede Form der Begleichung von Schulden erfordert regelmäßige und vor allem ausreichende Einnahmen des Schuldners. Kommt eine – wenn auch nur kleine – Zahlungsverzögerung zustande, dann wird ein Automatismus in Gang gesetzt, der zu einer absurden Eskalation führt. Der Gläubiger braucht sich nicht darum kümmern, warum sich eine Zahlung verzögert, sofort kann er die Forderung „fällig stellen“, zusätzliche Zinsen und Kosten verlangen und seine Forderung bei Gericht einklagen. Einsprüche sind sinnlos, da das Bestehen des Schuldverhältnisses ausreicht, um den gerichtlichen „Titel“ zu erwirken.

Spätestens dann wird das Leben eines verschuldeten Menschen zur Hölle. Sobald ein Schuldverhältnis „tituliert“ ist, können alle Möglichkeiten der „Exekutionsordnung“ ausgeschöpft werden. Das heißt, einerseits wachsen die Schulden durch die erwähnten (und beträchtlichen) Verzugszinsen, andererseits kann sich der Gläubiger aussuchen, zu welchen Zwangsmitteln der Eintreibung er greift. Er kann Lohn- oder Gehaltspfändung beantragen, den Besuch des Gerichtsvollziehers veranlassen („Fahrnispfändung“), auf das Vermögen des Schuldners zugreifen, ja sogar die Verwertung einer „geförderten Mietwohnung“ betreiben. Alles das ist möglich, selbst wenn klar ist, dass durch all diese Maßnahmen die Schulden nicht bezahlt werden können, da ja stets neue Verzugszinsen und Kosten dazu kommen.

In dieser Situation resignieren viele Menschen, da sie ständig vor Augen geführt bekommen, dass sie ihre Lage nicht mehr im Griff haben. Wie fühlt man sich, wenn z.B. einem jederzeit ein persönlicher Gegenstand im Zuge einer Fahrnispfändung weggenommen werden kann. Welche persönliche Zukunftsplanung bleibt über, wenn alle Kraft für den Schuldendienst aufgewendet werden muss. Welche reale Chancen hat jemand am Arbeitsmarkt, wenn noch im Probemonat eine Lohnpfändung einlangt?

Die Dimension der Verschuldung von Privatpersonen, die – wie erwähnt – ab den 1980er Jahren begonnen hat, ist gigantisch: Im Vorjahr, also 2019, wurden 618.338 Lohnpfändungen und 729.200 Fahrnispfändungen bei österreichischen Gerichten beantragt (Zahlen des Justizministeriums). Dem gegenüber stehen jedoch jährlich maximal 10.000 gerichtliche Schuldenregulierungsverfahren („Privatkonkurse“).

Wird eine rasche Lösung verzögert?

Nun kann der Privatkonkurs natürlich auch nicht als der Weisheit letzter Schluss gesehen werden, aber es ist doch eine Tatsache, dass er derzeit die einzige legale Möglichkeit darstellt, um aus einer Überschuldungssituation – sei sie unverschuldet oder verschuldet entstanden – wieder heraus zu kommen.

Hier gibt es eine interessante Entwicklung, die – trotz brennender Aktualität – fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit läuft: Am 20. Juni 2019 hat die Europäische Union eine Richtlinie verabschiedet, wonach KMUs (vor allem EPUs, also Ein-Personen-Unternehmen) im Falle eines Scheiterns ein Insolvenzverfahren in Anspruch nehmen können, das Schuldenfreiheit bereits nach drei Jahren garantiert. Aktuell gibt es in Österreich ein Schuldenregulierungsverfahren, das zwischen fünf Jahre (Abschöpfungsverfahren) und fünf bis sieben Jahren (Zahlungsplan) dauert.

Die Umwandlung in nationales Recht muss bis 17. Juli 2021 vollzogen sein. Angesichts der zu erwartenden Covid-19-Pleiten wäre dies ein Beitrag zur einfacheren Sanierung der gescheiterten KMUs.

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