von Franz Schandl
Draußen in der Stadt ist es so ruhig wie schon lange nicht. Es kann sich wohl niemand mehr erinnern, wann es je so still gewesen ist. Die Lokale sind geschlossen, nur Lebensmittelgeschäfte haben offen. Wer es sich leisten kann, aufs Land zu flüchten, hat es getan. Das erkennt man an den freien Parkplätzen und den nicht erleuchteten Fenstern. Da fährt ein städtischer Linienbus vorbei, doch außer dem Fahrer sitzt niemand in ihm. Die Schwiegermutter im nahen Pensionistenheim darf nicht mehr besucht werden. In der Hofmühlgasse blühen die Mandelbäume. Schönbrunn ist gesperrt, wer Joggen will, hat durch die Stadt zu laufen. Wien ist in diesen Tagen der Kasernierung wirklich zu einem „Draußen“ geworden, das kaum noch frequentiert wird. Drinnen sitzen wir und harren den Ereignissen, immer virtuell angebunden an die Welt, die unmittelbar wie ein Fremdkörper erscheint. Die Wohnung soll nur noch aus triftigen Gründen verlassen werden. Weitgehend wird das befolgt.
Vor unserem Wohnhaus in Wien trifft man jetzt auf eine Warteschlange von Menschen, die gerade weil sie sehr locker stehen, das Trottoir blockieren. Sie warten drauf, zur Apotheke (nicht: in die!) vorgelassen zu werden. Nachdem einem die anderen immer offensichtlicher ausweichen, weichen wir ihnen ebenfalls aus. Das Verhalten ist ansteckend geworden, es herrscht der Affekt. Vielleicht auch besser so. Man kann ja nicht wissen, was die da mit sich herumschleppen. Mysophobie nennt sich die krankhafte Angst vor Ansteckung. Zur Zeit mag sie mehr nutzen als schaden. Doch kriegen wir sie wieder los? Beklemmung und Verdächtigung haben sich unserer Psyche bemächtigt. Je öfter gesagt wird, es gäbe keinen Grund zur Panik, desto mehr steigt die Unsicherheit.
Die Großstadt Wien rangiert im regionalen Ranking bloß an fünfter Stelle. Ganz vorne bei den Infektionszahlen liegt das Bundesland Tirol, nicht nur prozentuell, sondern auch nominell. Bis jetzt muss man sagen, dass die Seuche in der Alpenrepublik eher finanzkräftige Schichten und eine jüngere Population erwischt hat. Daher gibt es auch nur wenig Tote. Die Hot Spots fanden sich jedenfalls in den mondänen Fremdenverkehrszentren, wo Ski- und Konferenztourismus Leben und Rhythmus dieser Orte bestimmen. Die Sonderwohlstandszonen Europas zwischen Mailand und München sind überproportional betroffen. Dito die reiche Schweiz. Freilich ist das eine Momentaufnahme, möglicherweise trifft es die Armen dieser Erde erst in einer zweiten, noch grausameren Welle.
Die Tiroler Skigebiete haben einen wesentlichen Anteil an der Ausbreitung des Coronavirus geleistet, nicht nur hierzulande, sondern auch in Deutschland, den Niederlanden oder in Skandinavien. Noch bis vor wenigen Tagen fürchtete man in Tirol hauptsächlich die Beeinträchtigung der Skisaison. „Nordtirol sei nicht mit Südtirol vergleichbar, betonen Touristiker“, stand da in der Tiroler Tageszeitung vom 11. März (!) zu lesen. Bald werde man zum Normalbetrieb zurückkehren. Man freute sich ausdrücklich über die Urlauber, die von Südtirol nach Nordtirol umbuchten. Der Seilbahn-Lobbyist und ÖVP-Nationalratsabgeordnete Franz Hörl, hielt gleichentags fest: „Es gibt keinen Grund, davon auszugehen, dass in Österreich Skigebiete geschlossen werden müssen.“ Das war zwei Tage bevor Ischgl abgeriegelt wurde. An den Besitzer der Kitzbar, eines Après-Ski-Lokals in Ischgl, der den Betrieb auch nach den ersten Fällen unbeeindruckt weiterführte, richtete besagter Hörl folgendes SMS: „Lieber Peter, das ganze Land schaut auf Euer Lokal – wenn eine Kamera den Betrieb sieht, stehen wir Tiroler da wie ein Hottentotten-Staat“. Zählte die Innsbrucker Landesregierung vorerst zu den Abwieglern, so schaltete sie inzwischen auf ultrascharf und stellte am 18. März ganz Tirol unter Quarantäne. (Weitere Details zu Tirol siehe die Website von Markus Wilhelm: http://www.dietiwag.org)
Allesamt haben wir Schwierigkeiten mit dieser Krise zurechtzukommen. Emotionell wie intellektuell. Können wir den Status realistisch einschätzen? Kaum. Kann die Regierung das? Man hofft, aber sicher ist da gar nichts. Außerdem: Sagen sie uns alles? Wir wissen so viel und wissen doch eigentlich wenig. Tatsächlich ist man perplex, überwältigt und außerstande, sich ein seriöses Bild zu machen und relevante Aussagen zu treffen. Das ist eine beängstigende Konstellation, die man auch nicht einfach überspielen soll. Schon gar nicht mit Zynismus. Wir sind ausgeliefert, weil eine unsichtbare und unbekannte Kraft auf unsren Körper zu greifen, zuzugreifen droht. Wehrlos, wie wir uns wähnen, sperren wir uns weg. Da gibt es keine Erfahrung. So fällt man leicht von der Bagatellisierung in den Alarmismus. Letzterer dominiert aktuell den Modus der Politik.
Beunruhigend sind Entwicklungen ganz unterschiedlicher Natur. Einerseits ärgert das absolut rücksichtslose Abfeiern von Corona-Parties, wie sie am letzten Wochenende stattgefunden haben, immens. Da sind einige so megacool, dass ihre Kälte gegenüber den Mitmenschen als gemeingefährlich eingestuft werden muss. Andererseits gilt es auch aufzupassen, dass eifrige Blockwarte nicht jede lebendige Regung bei den Behörden anzeigen und so der Tendenz zur polizeilichen und privaten Überwachung Vorschub leisten. Auffällig ist weiters die martialische Rhetorik des Kampfes: Da ist unentwegt die Rede von Helden, vom Durchhalten und natürlich vom nationalen Schulterschluss. Warum aber muss die Krise sapperlot immer als Krieg und Nation gedacht werden?
Das Virus hat eine Lawine losgetreten. Regierungen reagieren hyperaktiv. Die Zeitungen sind voll, die Sendungen quellen über und in den sozialen Medien wird ein Schneebrett nach dem anderen losgetreten. Das alles erzeugt einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann, nicht nur der Form nach, sondern auch betreffend die Inhalte, die da seriell abgespult werden. Alleine die Menge oder besser: Unmenge der Meldungen und Daten überfordert. Sie überwältigen uns, halten uns fest und zwingen uns bestimmte Sichtweisen auf. Es gibt keine Zeit mehr, sich damit eingehend auseinanderzusetzen. Können unter solchen Prämissen überhaupt noch Erkenntnisse reifen? Ich bin immer wieder erstaunt, wie unterschiedlich die Urteile von geschätzten Zeitgenossen in meiner Umgebung ausfallen, ja dass diese sich oft diametral widersprechen.
Das gesellschaftliche Gefüge erodiert. Arbeitsplätze und Einkommen werden in rasanter Geschwindigkeit wegrasiert, konservative Regierungen legen staatsinterventionistische Konjunkturpakete auf, gegebenenfalls wird mit Verstaatlichung gedroht. An die reinigenden Kräfte des Marktes appelliert niemand. Nebenbei ergeben sich Effekte, die keine Umwelt- und Klimabewegung je durchsetzen hätte können: Die Industrie wird heruntergefahren, der Verkehr wird drastisch reduziert, der Alltag verliert an Tempo und Lärm. Die Luft wird besser, das Wasser klärt auf, von einer Hektik ist, ausgenommen jener, die in Zusammenhang mit COVID 19 steht, wenig zu spüren. Rettet das Virus gar mehr Leben als es vernichtet? Die Geschwindigkeiten verlieren ihre Limits und vor allem ihre bisherige Synchronität. Manches wird langsamer, anderes dafür schneller: die Politik etwa, die gezwungen ist, Entscheidungen binnen Stunden zu treffen, für die sie sonst Jahre braucht. So gesehen leben wir in interessanten Zeiten. Wir sind Teil des größten globalen Experiments der Geschichte.