von Emmerich Nyikos
1.
Marx sagt in einem seiner Briefe mit der üblichen Prägnanz: „Daß jede Nation verrecken würde, die, ich will nicht sagen für ein Jahr, sondern für ein paar Wochen die Arbeit einstellte, weiß jedes Kind.“ (MEW 32, S. 552) Das ist soweit durchaus richtig. Nur: Was ist unter „Arbeit“ zu verstehen? Seien wir präzise: Als „Arbeit“ im eigentlichen Sinn können einzig und allein solche Tätigkeiten aufgefasst werden, die den Stoffwechsel mit der Natur effektuieren.
Der Stoffwechsel mit der Natur nun, oder, wenn man so will, die physische Gebrauchswertproduktion, ist ein Prozess, der die Transformation von Naturstoff (im weitesten Sinn) entlang einer Kette umfasst, die von der Extraktion über diverse Zwischenstufen bis hin zur Endfertigung von Finalgütern reicht, also von Gütern, die in den konsumtiven Konsum eingehen können, der, im Unterschied zum produktiven Konsum (dem Konsum von Produktionsmitteln im weitesten Sinn: Rohstoffe, Zwischenprodukte, Werkzeuge, Maschinen, Apparate und die produktive Infrastruktur) nur mehr indirekt mit dem Stoffwechsel mit der Natur assoziiert ist: nämlich über die Reproduktion des Arbeitsvermögens. Es versteht sich von selbst, dass der so indizierte Metabolismus dann auch die Rückführung des Mülls (der diversen Abfallstoffe) in die Umwelt oder, im Fall von Recycling, erneut in den Produktionsprozess impliziert, sei es entlang dieser Kette oder am Ende des finalen Konsums.
Wir können demnach innerhalb einer jeden Gesellschaft grob zwei Sphären unterscheiden: die Sphäre der Produktion auf der einen, die Sphäre der Konsumtion auf der anderen Seite, d.h. jene Sphäre, in der die Güter aufgebraucht werden, die von der Produktionssphäre bereitgestellt wurden: Basiskonsum (Nahrung, Kleidung, Wohnung usw.), Luxuskonsum (Paläste, Yachten, Limousinen usw.), staatliche Verwaltung, Jurisprudenz, Militärwesen, Kult, Ausbildungswesen, Kommunikation, Gesundheitssystem, Vergnügungsinfrastruktur, Touristik und was es dergleichen noch mehr gibt.
2.
Aus dem Gesagten folgt unmittelbar: All die Tätigkeiten, die nicht dem Stoffwechsel mit der Natur zurechenbar sind, insofern ihre Funktion eine andere ist, die Aktivitäten jenseits davon (also grob gesprochen die „Dienste“), müssen als Nicht-Arbeit eingestuft werden, als konsumtive Praxis mithin. Das versteht sich von selbst, wenn wir die Nahrungsaufnahme oder die Lektüre von Büchern betrachten, gilt aber auch für jegliche andere Betätigungsform, die sich jenseits des Stoffwechsels mit der Natur und auf deren Basis entfaltet. Das war früher ganz offensichtlich: Kein römischer Konsul oder Senator, kein Maya- oder sumerischer Priester, kein sassanidischer oder aztekischer Heerführer hätte sich selbst jemals in dem Sinne verstanden, dass er Arbeit verrichtet. So sagt Marx ganz richtig:
„Moses würde sich schön bei Herrn Senior bedankt haben, ein Smithscher ,travailleur productif‘ zu sein. Diese Menschen sind so unter ihre fixen Bourgeoisideen unterjocht, daß sie glauben würden, den Aristoteles oder den Julius Cäsar zu beleidigen, wenn sie dieselben ,travailleurs improductifs‘ nennten. Diese würden schon den Titel ,travailleurs‘ als eine Beleidigung betrachtet haben.“ (MEW 26.1, S. 411)
Für den römischen Bürger war das, was nicht Muße, otium,war, die Tätigkeit also im Staat, die Geldgeschäfte und die Verwaltung der Güter (oder die bloße Überwachung der Administrationstätigkeit der procuratores), negotium, aber nicht labor.
Erst mit dem Lohn, erst mit der Zahlung von Geld als Entgelt für diverse Tätigkeiten (oder, im kapitalistischen Kontext, für das Arbeitsvermögen), ändert sich dies: Sobald sich die Lohnform massenhaft durchgesetzt hatte, so dass der Lebensunterhalt breitester Schichten von dieser Geldzahlung abhängig war (wodurch diese Aktivitäten in Analogie gesetzt wurden zur Sicherung des Lebensunterhalts durch produktive Arbeit wie etwa das Sammeln und Jagen oder den Landbau), konnte die Tätigkeit, die diese Geldzahlung legitimierte, in der Form der „Erwerbsarbeit“ als Arbeit aufgefasst werden, ganz unabhängig von ihrem Gehalt, unabhängig davon, ob sie zum Stoffwechsel mit der Natur beitrug oder auch nicht. Denn formal war kein Unterschied auszumachen. In all diesen Fällen führte die Tätigkeit dazu, dass man Geld in Lohnform erhielt, Geld, das dann für den Lebensunterhalt ausgegeben wurde oder genauer: das man dafür ausgeben musste. – Das finale Resultat, das Überleben („physisch“ und „moralisch“), gibt der Tätigkeit, welche auch immer es sei, den Charakter oder den Anschein von Arbeit.
Ja noch mehr: Selbst diejenigen Tätigkeiten, die in der bürgerlichen Gesellschaft nach wie vor zum Stoffwechsel mit der Natur hinzugezählt werden müssen (die Fabrikarbeit zum Beispiel), werden verrichtet, nicht im Hinblick auf die Bereitstellung von Gütern für die Gesellschaft, sondern einzig und allein im Hinblick auf den Lohn – um, anders gesagt, an Geld heranzukommen. Das subjektive Motiv unterscheidet sie also nicht von all den anderen Aktivitäten, die mit dem Stoffwechsel mit der Natur im Grunde nichts zu schaffen haben.
3.
Im Prinzip hat Marx mit seinem Bonmot, dass „jedes Kind weiß“, für alle historischen Gesellschaften recht. Heute allerdings hat sich die Lage gründlich gewandelt. Die Arbeit als solche ist gerade dabei zu verschwinden, sie wird obsolet. Oder anders gesagt: Die Produktion des Extramehrwerts, unbedingte Notwendigkeit im System der kapitalistischen Produktion, direkte Frucht der Konkurrenz (sei sie frei, sei sie monopolistisch), hat zur Folge, dass das Produktivkraftniveau fortwährend steigt – bis hin zur vollständigen Automatisation der Produktionsprozesse. Robotisierung und Computerisierung, 3-D-Druck, autonomes Fahren, um nur einige Facetten davon zu erwähnen – all das macht die Arbeit (in einem strengen Sinn) obsolet. Sie löst sich, metaphorische gesprochen, perspektivisch in Luft auf.
4.
Das ist es nun, was uns die SARS-CoV2-Krise lehrt: Der Lockdown – der Umstand, dass „Erwerbsarbeit“ staatlich unterbunden, lahmgelegt wird – tangiert die Produktion von Gebrauchswerten (physischer Natur) an und für sich nicht im geringsten. Der Stoffwechsel mit der Natur wird zwar (so wie in einer normalen kapitalistischen Krise) gestört, er kommt indes nicht zum Stillstand. Die Einbußen, die sich ergeben, ergeben sich nur, weil das System eben kapitalistisch organisiert ist (wo die Nachfrage schwindet, da geht der Profit desgleichen zurück und die Produktion wird gedrosselt), nicht aber, weil man die Leute am „Arbeiten“ hindert. Deren „Arbeit“ trägt nämlich nichts mehr zur Produktion von (physischen) Gebrauchswerten bei (das gilt zumindest heute schon für die Mehrheit derer, die „Erwerbsarbeit“ leisten).
5.
Corona zeigt also eines: Stellt man die „Erwerbsarbeit“ ein, so geht im Prinzip dadurch die Gesellschaft nicht unter. Die Versorgung mit Gütern wird davon keineswegs affiziert. Die Produktion kann durchaus weiterlaufen, auch wenn sie natürlich beeinträchtigt wird – aber nur, um es nochmals zu sagen, insofern die Gesellschaft gemäß kapitalistischen Prinzipien organisiert ist. Das Geheimnis dabei: Die Inhibition von „Erwerbsarbeit“ betrifft den „Dienstleistungssektor“, nicht aber (oder nur in homöopathischen Dosen) den Stoffwechsel mit der Natur.
6.
Daraus ersieht man: Sieht man vom Ausbildungswesen und dem Gesundheitssystem einmal ab, so könnte man überhaupt das, was als „Dienstleistung“ gilt, vollkommen streichen, ersatzlos: Denn die „Dienste“ gibt es zum größten Teil eben nur deshalb, weil die bürgerliche Gesellschaft bürgerlich ist. Wäre sie nicht bürgerlich, so würde man sie gar nicht mehr brauchen. Kommerz, Reklame, die Börse und was dazugehört, Bankwesen, Versicherungen, Betriebsspionage, Steuerverwaltung, Steuerberatung, zivile Jurisprudenz (Rechtsstreitigkeiten wegen Patenten, Vererbung und anderes mehr), Notariate (Verträge), Rechtsberatung, Militärwesen, Spionage, die verschiedenen Departements der medialen Unterhaltungsbranche (die seichte Unterhaltung, die es nur gibt, weil sie als Ausgleich zur Lohnarbeit notwendig ist: Fernsehen, Internet, Computerspiele und was es dergleichen noch mehr geben mag), Profisport, Gastronomie, Sicherheitsdienste, dazu die produktiven Tätigkeiten, die einzig und allein die Waren produzieren, die für die „Dienstleistungen“ notwendig sind (Ärmelschoner, Bleistift und Computer in den Büros) und, last but not least, die Reinigungsdienste, die von all dem abhängig sind – all dessen bedarf es in Wirklichkeit nicht. Gibt es kein Privateigentum an den Mitteln zur Produktion, werden die Produktionsprozesse geplant und erfolgt die Verteilung nach dem Prinzip „jedem nach seinem Bedürfnis“ – all dies selbstverständlich auf der Basis eines vollautomatisierten Produktionsapparats (und eines hohen Grads von Disziplin und Bewusstheit) –, dann verdampfen die „Dienste“, so wie die Arbeit unter unseren Augen verdampft.
7.
Seit dem Advent der in Klassen geteilten Gesellschaft, seit ihrem Morgengrauen, ist der Konsum der herrschenden Klassen nicht an deren Teilhabe am Arbeitsprozess, nicht an die Leistung von Arbeit gebunden. Es hatte genügt und es genügt bis auf den heutigen Tag, dass sie die Eigentümer der Produktionsmittel sind oder zumindest deren Agenten, damit sie an der Distribution (in privilegierter Form) teilnehmen konnten. Allenfalls wurde (und wird) bisweilen versucht (obwohl das gar nicht notwendig wäre), die privilegierte Stellung der oberen Klassen dadurch zu legitimieren, dass man auf die spezifischen Funktionen verweist, die sie, wie es heißt, „selbstlos“ erfüllen: Kampf und Kult (wie bei Menenius Agrippa und Adalbero von Laon, dem Ideologen der „tripartiten Gesellschaft“) oder, was heute besonders beliebt ist, durch die Beteuerung, dass sie „uns Arbeit geben“.
Dem entspricht analog, dass heutigentags die große Masse der „Erwerbsarbeiter“ am gesellschaftlichen Produkt, am Gebrauchswertreichtum, partizipiert, ohne am Stoffwechsel mit der Natur in irgendeiner relevanten Form beteiligt zu sein. Der Unterschied ist nur, dass sie dazu nicht das Privateigentum, das Eigentum am Produktionsapparat, sondern irgendeine „Aktivität“, wie sinnlos sie immer auch sein mag, berechtigt.
Die Tätigkeiten, denen man nachgeht und die zur Teilnahme an der Verteilung des produzierten Reichtums autorisieren, sind in den allermeisten Fällen nicht an die Basis dieser Verteilung gebunden – an die Voraussetzung jeglicher Verteilung, den Stoffwechsel mit der Natur. Es ist eine Abstraktion: Die Distribution ist von der Produktion komplett abgekoppelt. Das eine hat mit dem anderen nichts mehr zu tun. Die Verteilung schwebt in der Luft, ihr Prinzip beruht jetzt darauf, dass irgend etwas getan wird. Was es ist, das ist unerheblich, belanglos. Es kann, vom Standpunkt einer rationalen Organisation der Gesellschaft, vollkommen nichtig, völlig bedeutungslos sein. Die Essenz dieses Tuns besteht gerade darin, dass es die Akteure zur Teilnahme an der Verteilung der Waren berechtigt. Was darüber hinausgeht – all das, was man dann wirklich „vollbringt“ –, hat Sinn nur im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft. Im Prinzip trägt es nichts zur Produktion von Gebrauchswerten bei oder genauer: zu dem, was eine kultivierte Gesellschaft tatsächlich braucht. Das, was ein Werbedesigner, ein Börsenbroker oder ein Verkaufsleiter machen, kommt im Prinzip der „Erwerbsarbeit“ gleich, die in einem Achternbusch-Film diejenigen leisten, die den ganzen Arbeitstag lang an aus der Wand ragenden Stangen solange hängen, bis sie erschöpft zu Boden fallen, um dort bis zum Feierabend liegenzubleiben – ihr Beitrag zu dem, was der Gesellschaft förderlich ist, ist ebenfalls Null.