Die subjektiv moralische Seite des Rechts: Gerechtigkeit

von Alfred Fresin

„Die Gerechtigkeit“ ist eine häufig strapazierte Berufungsinstanz, für die Armen wie die Reichen, die Opfer wie die Täter, die Gebildeten wie die Ungebildeten, die Politiker wie die Geistlichen, die Linken wie die Rechten. Dabei berufen sie sich auf ein Recht, das mit dem geltenden Recht (des Staates) nicht zu verwechseln ist: Gemeinsam ist beiden Rechtsstandpunkten, dass diese sich mit den gegensätzlichen Interessen der Gesellschaft bzw. der Gesellschaftsmitglieder auseinandersetzen und einen Regelkodex daran anlegen. Dieser Kodex beruft sich auf ein wie immer geartetes übergeordnetes Prinzip, das absolute Gültigkeit haben soll und garantiert, dass es keine Durchsetzung der Interessen per Willkür gibt. Sowohl das Recht als auch der Gerechtigkeitsstandpunkt beziehen sich auf bestimmte ökonomische und politische Verhältnisse und sehen deshalb im Laufe der Geschichte unterschiedlich aus.

Nun zu den Unterschieden: Das Recht und dessen Gesetze könnten zwar auch von einem Gelehrten im stillen Kämmerlein aufgeschrieben werden, es bedarf allerdings einer Gewalt, in der Regel einer Staatsgewalt, die dieses Recht auch durchsetzen kann. Insofern hat es dann auch allgemeine objektive Gültigkeit, zumindest in dem Bereich, in dem die Gewalt herrscht. Die Anrufung der Gerechtigkeit mag sich zwar auf ein Prinzip, ein höheres Recht berufen, es verbleibt allerdings sowohl in der subjektiven als auch moralischen Sphäre.

Subjektiv insofern, als die Gerechtigkeit sich auf ein Recht bzw. Prinzip beruft, das eben nicht (objektiv) gilt, sondern aus dem eigenen Rechtsempfinden erwächst. Moralisch und idealistisch, weil es das Bestehende an einem Sollen, einem hehren Ideal misst, das für alle gelten sollte. Viele Philosophen haben versucht, ein allgemeines Maß für die Gerechtigkeit zu finden, das dann auch der Rechtssetzung zugrunde gelegt werden sollte. Dabei sind sie zu den Begriffen Freiheit und Gleichheit gelangt, die jedoch in der praktischen Entscheidung im Einzelfall ebenso wenig weiterhelfen wie die Maxime der Alltagsmoral: „Jedem das Seine“. Der Philosoph Amartya Sen bringt dazu das folgende Beispiel: Drei Kinder streiten sich um den Besitz eines Spielzeugs, nämlich einer Flöte, und sie bringen jeweils folgende Argumente für eine gerechte Lösung vor. Das eine Kind weist darauf hin, dass es die Flöte hergestellt hat, das zweite Kind, dass es als einziges die Flöte spielen kann und das dritte, dass es sonst kein Spielzeug hätte, weil es so arm wäre. Sen bemerkt dazu, dass alle drei „Recht“ hätten und schlussfolgert: „Es kann sein, dass es tatsächlich keine erkennbare vollkommen gerechte soziale Regelung gibt, aus der eine unparteiische Einigung hervorginge.“ (in: „Die Idee der Gerechtigkeit“)

Es gibt also mehrere moralische Gesichtspunkte und Gerechtigkeitsideale – deshalb kann es auch keine eindeutige Lösung geben, wenn man es mit der Moral versucht. Das Beispiel verrät jedoch mit seiner konstruierten Annahme, auf welche Gesellschaft da Bezug genommen wird. Eine Gesellschaft, in der es auf Eigentum und ausschließende Verfügung ankommt. Als Lösung wird weder in Betracht gezogen, dass die Flöte von allen drei Kindern je nach Bedarf und Bedürfnis genützt wird (gemeinsame Nutzung), noch dass das jeweils kundige Kind den anderen beibringt, selbst eine Flöte herzustellen bzw. zu spielen.

Das Gerechtigkeitsempfinden, vor allem, was die sozialen Verhältnisse betrifft, ist Wandlungen unterworfen. Es sah in den Zeiten einer Sklavenhaltergesellschaft anders aus als im heutigen Kapitalismus. Es wäre keinem Sklaven der damaligen Zeit in den Sinn gekommen, vom Kaiser oder König größere soziale Gerechtigkeit zu fordern, genauso wenig wie ein Leibeigener seine Stimme für mehr Verteilungs- oder Chancengerechtigkeit erhoben hätte. Mit der Etablierung der Begriffe Freiheit und Gleichheit im Recht des bürgerlichen Staates, mit dem Recht jedes Bürgers, sich mit den Mitteln seines Eigentums in Konkurrenz zu bewähren und an das Lebensmittel schlechthin, das Geld, ranzukommen, in so einer Gesellschaft entstehen ganz spezielle Gerechtigkeitsempfindungen. Vor allem die große Schere bei den Einkommen wird als ungerecht empfunden, wobei es wirklich schwerfällt, zu bestimmen, wie hoch denn ein gerechter Lohn sein sollte. Ist ein Mindestlohn von 1.500 Euro oder eher einer von 2.000 Euro gerecht? Ist es gerecht, dass ein Manager für die gleiche Arbeitsstundenleistung das Hundertfache eines Schwerarbeiters verdient? Das subjektive Rechtsempfinden des Arbeiters wird das als höchst ungerecht beurteilen, der Manager als äußerst gerecht und es mit seiner „Verantwortung“ für das Wohlergehen der Firma und die tausenden Arbeitsplätze rechtfertigen. Wem ist da Recht zu geben? Diese Entscheidung wird von den objektiven ökonomischen Verhältnissen und den tatsächlich geltenden Gesetzen getroffen. Darauf weist der alte Marx die Genossen in ihrem Ruf nach gerechter Verteilung hin: „Was ist gerechte Verteilung? Behaupten die Bourgeois nicht, dass die heutige Verteilung ‚gerecht‘ ist? Und ist sie in der Tat nicht die einzige ‚gerechte‘ Verteilung aufgrund der heutigen Produktionsweise?“ (in: „Kritik des Gothaer Programms“)

Und sein weiterer Hinweis ist: Wenn man etwas gegen die herrschenden Verhältnisse hat, dann sollte man nicht eine „gerechte Verteilung“ fordern, sondern die Grundlage dieser Verteilung, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, bekämpfen und aufheben. Das Gerechtigkeitsempfinden mag zwar der moralische Ausgangspunkt für die Empörung über soziale Verhältnisse sein, es liefert allerdings keine Erklärung der Verhältnisse und greift auch deren Grundlagen nicht an – es ist also davon abzuraten, als Gesellschaftskritiker den Standpunkt der Gerechtigkeit einzunehmen. Dieser führt bloß zur Einbildung, „im Recht“ zu sein.

Auf die „soziale Gerechtigkeit“ wird auch im neuen Buch von Alfred Fresin: „Wie kommt der Kapitalismus an sein Ende? – Kritik an Vorstellungen zum Abgang dieser Ökonomie“ ausführlich Bezug genommen.

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