von Alfred J. Noll
Der Staats- und Soziallehre von Thomas Hobbes (1588–1679) wird allenthalben ein grundsätzlicher Individualismus nachgesagt. Eine Vielzahl moderner Hobbes-Interpreten will darin die Grundlage für einen liberalen Hobbes erkennen; mitunter sehen sie darin sogar das Fundament des neuzeitlichen Liberalismus. Das ist freilich ein grundlegendes Missverständnis. Es resultiert aus der Vermengung von analytischer Methode und philosophischem Gehalt bei Hobbes. Aus analytischen Gründen isoliert Hobbes den Einzelmenschen zunächst von all seinen sozialen Bezügen, setzt ihn dann aber wiederum sogleich ins Netz der natur-gesellschaftlichen Koordinaten. Keinen Moment hat Hobbes je daran gedacht, seine Staatskonstruktion als eine Robinsonade zu formulieren. Der Individualismus von Hobbes, wenn man ihn so nennen will, beschreibt den Menschen doch nicht eigentlich als eine von Natur aus absolut isolierte Existenz. Schon die Rede von the war of all against all kann doch immer nur als eine gesellschaftliche Beziehung gedacht werden, mehr noch: als eine für jeden Menschen sogar offenbar existenznotwendige (wenn auch um der Selbsterhaltung willen notwendig anstrengende) Beziehung. Und auch das bekannte Titelbild des Leviathan sollte die Anhänger der Rede vom Individualismus bei Hobbes lehren, dass die corpora artificialia der menschlichen Gemeinschaft bei Hobbes zweifellos merklich mehr sind, als bloße Summationen von Individuen.
Warum ist es aber dennoch berechtigt, von einem radikalindividualistischen Ansatz bei Hobbes zu sprechen? Das ist deshalb berechtigt, weil die frühbürgerliche Gesellschaftsvertragstheorie einen sich radikalisierenden Individualismus aufweist, der im Gegensatz steht zum mittelalterlichen Rechtsdenken, das eine Gesellschaft widerspiegelte, in der die sozialen Beziehungen weitgehend noch naturgebundenen, organischen Chatakter haben, das Element der Willemäußerung des Einzelnen bei der Formierung sozialer Gruppen also gering ist und demzufolge das Vertragsmoment auch im Staatsrecht nicht überschätzt werden darf.
Demokratie als Ausgangspunkt
Die Demokratie ist bei Hobbes die älteste, überdies die der natürlichen Gleichheit der den Gesellschaftsvertrag schließenden Individuen nächststehende, die einzig originäre, die Urform des Staates; und deshalb heißt es in den Elements of Law (1640) über Monarchie, Aristokratie und Demokratie ganz eindeutig: „Die erste, der Zeit nach, von diesen drei Arten ist die Demokratie, und das muss notwendig so sein, weil eine Aristokratie und eine Monarchie die Ernennung von Personen erfordern, über die man sich verständigt haben muss; diese Verständigung aber unter einer großen Menge von Menschen muss in der Zustimmung des größeren Teils bestehen, und wo die Stimmen der Majorität die Stimmen der übrigen in sich schließen, da ist tatsächlich eine Demokratie.“ Daran ändert auch Hobbes persönliche Vorliebe für die Monarchie nichts. Hier kommt es nur darauf an zu betonen, dass Hobbes schon für die Einsetzung des Souveräns notwendig von einer Sozialbezogenheit der Individuen ausgeht, ja, davon ausgehen muss.
Indes kommt dem vereinzelt gedachten Individuum im Rahmen von Hobbes’ Theorie dennoch eine besondere Stellung zu. Hobbes denkt zunächst immer aus streng subjektivistischer Perspektive, wenn er im Leviathan davon ausgeht, dass das jeweils Gute „immer das Objekt von jemandes Trieb oder Verlangen ist“. – Und an anderer Stelle heißt es: „Alle Dinge, die begehrt werden, bezeichnet man, da sie ja begehrt werden, allgemein als gut; alle Dinge, die wir vermeiden, als schlecht.“
Alle Menschen stimmen darüber ein, dass der Krieg ihr gemeinsamer Feind sei, und deshalb „sind alle Menschen darüber einig, dass Frieden gut ist, und deshalb auch darüber, dass die Wege oder Mittel zum Frieden, die in […] Gerechtigkeit, Dankbarkeit, Mäßigung, Billigkeit, Barmherzigkeit und den übrigen Naturgesetzen bestehen, gut sind, das heißt moralische Tugenden“. Die bloß isolierte, individuelle Klugheit muss scheitern.
Hobbes geht es darum zu zeigen: Würden die Menschen ihr unbeschränktes natürliches Recht auf alles jeweils nur entsprechend ihren eigenen (alleinigen) Maßstäben realisieren, dann fänden sie sich in einem Krieg aller gegen alle. Die natürlichen Gesetze, wie sie der Vernunft aller Menschen zum Vorteil gereichen, erfordern daher, dass die Menschen ihr natürliches Recht auf alles beschränken und wechselseitige Verpflichtungen akzeptieren. Derart beansprucht Hobbes, aus den Ruinen bloß subjektiver Klugheit eine objektive Moralordnung aufzustellen; anders gesagt: Dem Individualismus von Hobbes liegt von allem Anfang eine konstitutive Sozialbezogenheit zugrunde, die ihn vor jeder Robinsonade bewahrt.
An keiner Stelle seiner Argumentation verliert Hobbes den Sichtpunkt des Individuums. Wenn auch sein moralisches System (soweit man es so nennen kann) einen gemeinsamen Aussichtspunkt für alle Menschen bereitstellt, so muss doch jeder Einzelne stets beobachten, worauf das Ganze für alle gemeinsam hinausläuft, wenn er seine individuellen Interessen verfolgt und sich um sein eigenes Wohlbefindung kümmert und sich um seine Selbsterhaltung sorgt. „Das erste Gut ist für jeden die Selbsterhaltung.“ Deshalb wird jede weitere Überlegung immer gerechtfertigt unter Bedachtnahme auf den je individuellen Nutzen.
Das Recht ist die Freiheit, das Gesetz beseitigt sie
Wie aber lässt sich das Allgemeinwohl durch die gesicherte Betätigung der einzelnen Egoismen erhalten? Hobbes meint, dies könne nicht von alleine geschehen, es bedürfe des absoluten Souveräns, der mit sichtbarer Hand für Frieden sorge. Das dem Souverän zur Verfügung stehende Mittel dazu ist zunächst das Gesetz – und daran anschließend die physische Gewalt: Das lange Kapitel XXVI des Leviathan ist mit „Von staatlichen Gesetzen“ betitelt. Hobbes definiert das Gesetz in ganz unzweifelhafter Weise: „Das staatliche Gesetz besteht für jeden Untertan in jenen Regeln, die ihm das Gemeinwesen durch Wort, Schrift oder andere hinreichende Zeichen des Willens befohlen hat, dass er davon zur Unterscheidung von Recht und Unrecht Gebrauch macht, das heißt zur Unterscheidung dessen, was der Regel zuwiderläuft und was nicht.“ Daraus folgt, worauf es Hobbes in der Sache ankommt: „Recht ist Freiheit, nämlich jene Freiheit, die uns das staatliche Gesetz lässt; aber das staatliche Gesetz ist eine Verpflichtung und nimmt uns die Freiheit, die uns das Naturgesetz gegeben hat. Die Natur gab jedem das Recht, sich mit seiner eigenen Kraft zu schützen und einen verdächtigen Nachbarn vorbeugend anzugreifen; aber das staatliche Gesetz beseitigt diese Freiheit in allen Fällen, wo man sich sicher auf den Schutz durch das Gesetz verlassen kann. Also sind lex und jus so verschieden wie Verpflichtung und Freiheit.“
Hobbes betreibt keine unzulässige Verallgemeinerung. Er bringt den Grundsatz zum Ausdruck, dass unter den gleichbleibenden Konstitutionsbedingungen der kapitalistischen Warenproduktion immer nur das strukturelle Ordnungsmuster der „abstrakten Vergesellschaftung“ (Tuschling) in Frage kommt, also der prinzipiellen Trennung von Gesellschaft und Staat. Damit wird auch erklärt, warum Hobbes die jeweilige Staatsform (Demokratie oder Monarchie) in theoretischer Hinsicht vergleichsweise einerlei ist. Ihm ist es nicht nur biographisch kein Problem gewesen, sich zunächst der Krone, dann dem Parlament Cromwells, und anschließend Charles II. unterzuordnen. Ob Monarchie oder Republik, Krone oder Parlament, das ist Hobbes ganz einerlei, wenn nur die absolute Souveränität von der durch wütende Einzelinteressen tagtäglich aufgerissenen Gesellschaft definitiv getrennt ist. Ihre Funktionstüchtigkeit vorausgesetzt, können sowohl Monarch als auch Parlament die für das Florieren der Geschäfte erforderlichen allgemeinen Bedingungen garantieren – aber sie müssen sie eben garantieren können. Damit ist quasi nebenbei ein weiter historischer Rahmen gezogen, innerhalb dessen verschiedene konkret-soziale Verhältnisse strukturiert werden können. Will ein gesellschaftlicher Regulierungsversuch Verbindlichkeit erlangen (d.h. „Gesetz werden“), dann muss er durch dieses Strukturmuster „hindurch“. Der konkrete Inhalt einer Regelung wird damit nicht berührt. Insofern behält auch die von Friedrich Engels (MEW 21: 300) getroffene Feststellung Gültigkeit: Alle Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft müssen durch den Staatswillen hindurchgehen, um allgemeine Geltung in Form von Gesetzen zu erhalten; und er ergänzt: „Es fragt sich nur, welchen Inhalt dieser nur formelle Wille – des einzelnen wie des Staates – hat und woher dieser Inhalt kommt, warum gerade dies und nichts anderes gewollt wird.“
Eine Gesellschaft der Privateigentümer
Wir können an dieser Stelle nicht unbeachtet lassen, dass zu Zeiten von Hobbes in England von einer allgemeinen Warenform der Produkte, von wertformvermittelter Distribution der Produktionsmittel und Produzenten, von der Produktion und Aneignung des Mehrprodukts, von Dominanz der Tauschverhältnisse oder gar von einem die Verteilungskonflikte regulierenden Staat zunächst noch überhaupt keine Rede sein konnte. Bis in die Zeit von Hobbes bewegte sich die Produktion kaum über dem Niveau der Subsistenzwirtschaft. Immer noch war zu Zeiten Hobbes in England das feudale Ausbeutungsverhältnis ein durch außerökonomischen Zwang vermitteltes Verhältnis, und die Aneignung des Mehrprodukts durch die Nichtproduzenten fand (noch) nicht, wie im Kapitalismus, im Prozess der Warenproduktion und der Realisierung des in den Waren vergegenständlichten Werts in der Zirkulation statt; die Verteilung des feudalen Mehrprodukts wurde mithin weder durch das Wertgesetz noch durch einen Verteilungskonflikte vermittelnden Staat geregelt. Lohnarbeit als Quelle aller Wertschöpfung war erst im Entstehen begriffen, Selbstverwertung, -bewegung und Akkumulation des Kapitals waren allenfalls erahnbar, aber der realen Wirtschaft kaum schon ablesbar, und die Entfesselung der Produktivkräfte hatte Mitte des 17. Jahrhunderts in England allenfalls erst eine Zukunft vor sich, kaum jedoch schon Gegenwart; und schließlich war von einer tatsächlichen Beziehung zwischen Lohnarbeit und Kapital als dem die Reproduktion der Gesellschaft bestimmenden Antagonismus und als entscheidendem Grund aller Unfreiheit und Ungleichheit in dieser Gesellschaft (noch) nichts bzw. kaum etwas zu sehen. Mit einem Wort: Von einer „Marktgesellschaft“ (C. B. Macpherson) und einer direkt darauf gerichteten Theorie Hobbes’ lässt sich nicht sprechen. Hobbes hat aber, insofern in genialer Inkongruenz zum aktuellen ökonomischen Hintergrund seines Schaffens, durch die theoretische Begründung der politischen Gewalt als Rechtszwangsgewalt das Zentralproblem der klassischen Rechts- und Sozialphilosophie auf eine Weise thematisiert, die – anders als seine juristischen Epigonen – an dem wechselseitigen Bedingungs- und Zwangszusammenhang zwischen individueller Aneignung der gesellschaftlich verfügbaren Sachenwelt und der zentralisierten Zwangsorganisation eines solchen Systems individueller Beziehungen keinen Zweifel gelassen hat: Das Verhältnis von Rechtsstaat und kapitalistischer Gesellschaft ist eben ein Verhältnis unaufhebbarer einseitiger Gewalt zur Garantie des Rechts; und dieses Recht dient als Vermittlungsform der Beziehungen kapitalistisch vergesellschafteter Individuen zueinander. Anders gesagt: Die Garantie des Rechts erstreckt sich zunächst nur auf die Beziehungen der Individuen zueinander, also auf die Beziehungen innerhalb der Gesellschaft. Genau dies ist den bloßen Apologeten von Rechtsstaatlichkeit ein besonderer Dorn im Auge. Haben wir nicht gelernt, dass es doch noch viel wichtiger sei, dass das Recht die Untertanen vor dem Staate zu schützen hat? Hobbes ist radikal: Er bezieht das Recht nicht auf die Beziehungen zwischen der Gesellschaft selbst und der die Rechtmäßigkeit der innergesellschaftlichen Beziehungen garantierenden Zwangsgewalt. Für ihn ist der Souverän „absolut“, oder er ist keiner.
Warum das so sein muss, nämlich die bedingungslose Unterwerfung einer Gesellschaft von Privateigentümern unter eine ihre Rechte sichernde Zwangsgewalt, eben dies hat Hobbes von den Elements (1640), über De Cive (1642)bis hin zum Leviathan (1651) mit der ihm eigenen rigorosen Konsequenz begründet. Er hat damit theoretisch eine Struktur erfasst, die die Praxis der Rechtsordnung einer kapitalistisch produzierenden Gesellschaft von Privateigentümern grundlegend bestimmt. Die sich daraus ergebenden Widersprüche sind keine Widersprüche in Hobbes’ Theorie, sondern Widersprüche in der Wirklichkeit dieser Gesellschaft, die von Hobbes in ihrer Widersprüchlichkeit erfasst (abgebildet) wird. Das mag all die erschrecken, die von der bürgerlichen Idee vom Gesetzesstaat eine Beseitigung des Staates als eines Herrschaftsinstruments überhaupt geträumt haben, weil es doch nun durch parlamentarische Gesetzgebung, gesetzmäßige Verwaltung, menschenrechtsorientierten Rechtsschutz und verfassungsverbürgender Verfassungsgerichtsbarkeit ohnedies, wie von alleine, zu einer gewaltlosen Ermittlung des zugleich Richtigen und Rechten kommen würde; dies aber ist eine fromme Legende, die den Gewaltcharakter des bürgerlichen Rechtsstaates einfach ableugnet, anstatt ihn zu analysieren.
Wenn Hobbes davon spricht, dass die Menschheit aus dem Naturzustand heraustreten müsse, dann ist dies für ihn aber kein einmaliger Akt, der dann für immer und ewig schon gelungen wäre. Vielmehr ist ein Zurückfallen in diesen Zustand, oder wie Hobbes sagt, die Gefahr „in einen Bürgerkrieg herabzusinken“, die immer weiter bestehende Gefahr für das gesamte politische System. Verliert der Leviathan seine faktische Macht, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen, dann „fallen“ die Gesellschaftsmitglieder wieder in den zuvor bestehenden Kriegszustand zurück; anders gesagt: Die bürgerliche Ordnung bleibt stets gefährdet. Das kann man auch als eine Chance sehen, wenn man damit die Zuversicht verbindet, einen „Neuen Leviathan“ zu schaffen. Die Hoffnung auf ein „Absterben des Staates“ muss man dann aber zu Grabe tragen.