„Ich fühle in mir meinen alten Vorbehalt gegen die Jugend: Man muss ihr nur die passende Musik vorspielen, schon ist sie begeistert.“ (Wilhelm Genazino, „Das Glück in glücksfernen Zeiten“)
In der Unterstufe weihte uns der Musikprofessor in seinen Kreuzzug ein. Pädagogisch entfacht scherte er aus dem Lehrplan aus und setzte sein eigenes Anliegen auf die Agenda. Eine seiner Testfragen ging so: „Rockmusik, kombiniert mit Lichteffekten, hat eine Vergewaltigung des Bewusstseins zur Folge: Erläutere dies an je einem Beispiel.“ Meine Antworten aus dem Jahr 1994 sind mir nicht mehr erinnerlich, der Herr Professor hatte uns aber Passagen aus „Wir wollen nur deine Seele. Rockmusik und Okkultismus“, „Bielefeld: Christliche Literatur-Verbreitung 1987 (5. Aufl.)“ zur Vorbereitung kopiert. Darin steht zu lesen, dass auch durch die Manipulation durch Lichteffekte „alle moralischen Barrieren niedergerissen“ würden.
Vielleicht haben wir Heavy Metal nie mehr geliebt als im Jahr 1994. Als eines Tages der Bert mit einem „Deicide“-T-Shirt in die Klasse kam und sich darin seelenruhig im Religionsunterricht zum Morgengebet erhob, war uns ein ewiger Held geboren. Unseren Musikgeschmack rieben wir dem frommen Musiklehrer nicht unter die Nase, wir genossen still seine Warnungen vor musikalischer Blasphemie. Ihn machte ja „Sympathy for the Devil“ schon ganz fertig, da wollten wir ihn mit Titeln wie „To Kill God and All That Is Holy“ nicht aus der Bahn werfen. Auf unseren Zetteln stand „Nur wer bewusst antichristlich ist, kann solche Perversitäten auf die Bühne bringen“. Dann folgte eine Liste der Stars, die selbst an ihrem bösen Tun zugrunde gingen: „Denn ein Leben und eine Karriere kann man erst richtig bewerten, wenn man das Ende ansieht.“ Wir mussten, wenn ich mich recht erinnere, beim Test mindestens vier von ihnen samt Todesursache aufzählen können.
Höhepunkt war die Stunde, in der er uns zeigte, wie die Rockstars ihre geheimen satanischen Botschaften in ihren Songs versteckten. Er legte eine Kassette ein, auf der er mehrere Samples aufgenommen hatte. Wir hörten nur Heulen und trauriges Jaulen. „Hört genau hin!“, sagte er. Als wir nicht draufkamen, übersetzte er ungeduldig. „O Christus, du bist der Schmutz und Abschaum!“, sang Bruce Springsteen rückwärts.
Eigentlich möchte ich den armen Musiklehrer gar nicht dem zynischen Spott der Zeitgenossen preisgeben. Wenn er wüsste, welch nette Menschen wir heute alle sind! Die meisten aus unserer Klasse sind selbst Lehrer geworden, der Deicide-Bert hat lange als Sozialarbeiter gearbeitet und ich streichle gerne flauschige Tiere.
Natürlich haben wir nicht dem Lehrer zu Fleiß so wilde Sachen gehört. Die Jugend braucht Lärm, Gewalt und Intensität, sonst trägt sie später Spitzenkrägen, schlingt sich pastellfarbene Pullover um den aufgestellten Polokragen oder wird türkiser Bundeskanzler mit Gel-Frisur. Wäh! Jugendliche haben eben ein natürliches Bedürfnis nach Ohrenbetäubung. Aggression ist ein wichtiges Gefühl, auch wenn es das falsche ist.
Für von Natur aus passiv-aggressive Harmonie-Junkies wie mich ist es sehr schwer, die innere Erbosung in Akte verbaler Gewalt zu transformieren, sodass Erlösung schier unmöglich ist und man Verspannungen und Verstopfungen kriegt. Der Lärm (vom italienischen all’arme, also „zu den Waffen“) der „Rockmusik“ versetzt den Körper in einen wehrhaften Alarmzustand. Genau das ist seine Aufgabe! Die Welt ist nämlich sehr schlecht und wir sind ohne Musik, die uns aufganserlt und erregt, nur wehrlose Luschen.
In diesem Sinne: „Die heutige Jugend müsste vor den Zumutungen des blöden Tschibumm-Vocoder-Gestampfes oder noch mehr vor den Gefahren der gschissenen deutschen Gangsta-Rap-Musik gewarnt und aufgerufen werden, dagegen Stellung zu beziehen, auch in der Verantwortung für ihre vielen Altersgenossen, die dem nervtötenden Sog des schlecht Gemachten erliegen.“ Gern geschehen! Gruß, Meindl
* Die ungekürzte Version dieses Textes erscheint im Herbst 2019 in der Anthologie „Lärm“ der Edition Kürbis.