Politik

Zur Kritik eines bürgerlichen Formprinzips (1995)


von Franz Schandl

Normalerweise geht es in einem Artikel über Politik um eine bestimmte Politik. Diese wird begründet und erklärt, kritisiert oder verworfen. Ganz anders in diesem Beitrag: Er beschäftigt sich mit dem gesellschaftlichen Formprinzip der Politik schlechthin, stellt also nicht einer Politik eine andere gegenüber, sondern stellt diese selbst in Frage. Kurzum, die Gesellschaftskritik kann sich heute nicht mehr darauf beschränken, diese oder jene Politik zu kritisieren und eine andere einzufordern, sondern sie hat zu einer Kritik der Politik als Formprinzip der Moderne vorzudringen.

Fälschlicherweise wird nämlich davon ausgegangen, dass es Politik immer gegeben hat, sie parallel zur menschlichen Gesellschaftlichkeit laufe. Politik wird dahingehend als abstrakt-ontologische, nicht konkret-historische Bedingung angesehen. Wahr ist vielmehr, dass Politik – auch wenn sie wie andere Termini des öffentlichen Bereichs aus der Antike entnommen ist – ein Phänomen der kapitalistischen Moderne ist. Ebenso wenig wie der Staat als die gesellschaftliche Allgemeinheit verstanden werden kann, sondern nur als eine, ist die Politik nicht die gesellschaftliche Verallgemeinerung, sondern nur eine. Die bürgerliche nämlich.

Wie halt so oft: Nicht alles, was geläufig ist, ist auch ewig. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das Wort „Politik“ in unseren Breiten noch weitgehend unbekannt. Bei Kant und Hegel etwa kommt dieser Terminus erst embryonal vor. Politik als Begriff machte im deutschen Sprachraum frühestens mit und nach 1848 Karriere. Eine systematische Kategorisierung wurde erstmals von Max Weber vorgelegt.

Definitionsversuche

Dieser schreibt: „‚Politik‘ würde für uns also heißen: Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt.“ (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie (1922), Tübingen, 5. Aufl. 1972, S. 822) Gemeinhin versteht man als Politik den in bestimmte Körperschaften übersetzten Willen des gesellschaftlichen Souveräns, deren Handeln im engeren und weiteren Sinn. Politik setzt somit Willen und Entscheidung voraus, ist Folge selbstbestimmter Überlegungen.

Wir halten diesen Konsens nicht nur für verkürzt, sondern für falsch. Er verwechselt in der Politik nämlich Willensinhalt und Äußerungsform. Er überbetont das Wollen und vernachlässigt das Können. Politik wird hier zum Ideen- und Interessenswettstreit, zu einem Spiel verschiedenster Anschauungen und Vorhaben. Doch das ist Politik, wird sie tätig, ist sie mehr als Absicht und Proklamation, nur in äußerst bescheidenem Ausmaße.

Politik ist umgekehrt vielmehr die staatliche Pragmatik der gesellschaftlichen Notwendigkeiten. Die staatsbürgerliche Freiheit besteht in nichts weniger als in der Einsicht ebendieser.

Das klingt so nüchtern, wie es ist. Aber nur dieser Standpunkt lässt in der Entpolitisierung mehr erkennen als einen bloßen Verlust der Ideale. Die diversen Ideologien sind unabhängig von ihrer ursprünglichen Herkunft zu dechiffrieren als das stets schwächer werdende Kontrahieren um die sie antreibenden Kräfte. „Die Ideologie der Ideologielosigkeit, d.h. der nunmehr stummen, blinden, voraussetzungslosen Übereinstimmung mit den bereits ausgereiften Fetisch-Kriterien der Moderne wurde jetzt zeitgemäß.“ (Robert Kurz, Das Ende der Politik. Thesen zur Krise des warenförmigen Regulationssystems, Krisis 14 (1994), S. 87) Nach der Phase der Repulsion befindet sich das gesamte politische System heute in jener der Attraktion. Seine Besonderheiten werden als Absonderlichkeiten liquidiert. Kein Aufruf zur Reideologisierung wird daran mehr etwas ändern.

Dieser berauschend bürgerliche Blick der Politik, der sein höchstes Ideal übrigens in der Politikverehrung der Arbeiterbewegung fand, wird zusehends destruiert. Frägt sich nur, ob man diese Entpolitisierung der Politik beklagen sollte, oder ob man diese Rückführung, ihr Reinwerden nicht denn doch einer anderen Beurteilung zuführen könnte.

Verwaltung statt Gestaltung

Auch auf höchster Ebene ist Politik Verwaltung, nicht Gestaltung. „Wer Politik treibt, erstrebt Macht“ (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 822), ist so bloß hartnäckiger Schein. Politik ist eben nicht praktizierte Staatsbürgerkunde, sondern Über- und Umsetzung gesellschaftlicher Notwendigkeiten, die bestimmten Basislogiken und darauf aufbauend Basisbewegungen folgen, in die Sprache des Geldes (Budget) und des Rechts (Gesetzgebung). „Die ‚Politik‘ kann ihrem Wesen nach nicht die ‚Gestaltung‘ der menschlichen und natürlichen Ressourcen organisieren, obwohl sie die Sphäre der direkten gesellschaftlichen Kommunikation ist; aber diese Kommunikation ist nicht ‚frei‘ und nicht offen, sondern eingesperrt in die blinden Codierungen der Warenform und ihrer ‚Gesetze‘, die als bewusstlose Quasi-Naturgesetze der ‚zweiten Natur‘ allen bewusst gestalteten, juristischen Gesetzen der staatlich-politischen Sphäre immer schon vorgelagert sind.“ (Robert Kurz, Das Ende der Politik, S. 95)

Politik ist jenes Medium, das die gesellschaftlichen Ergebnisse und Resultate in rechtliche und budgetäre Formen gießt, natürlich auch Korrekturen vornimmt, kurzum ein Ausloten der Möglichkeiten rundum die Notwendigkeiten. Diese Möglichkeiten verlassen jedoch nie den vorgegebenen Rahmen der Notwendigkeiten, können ihn nicht sprengen. Politik kann nur leisten, was Ökonomie zulässt, wobei die Ökonomie sich natürlich noch viel mehr leisten würde, würde die Politik es zulassen. Politik ist jedenfalls kein Prinzip, das über die Ökonomie hinausgeht: „Die ‚Politik‘ wird jetzt immer offener und eindimensionaler zur Wirtschaftspolitik. Wie in den vormodernen Gesellschaften alles und jedes religiös begründet werden musste, so muss nun alles und jedes ökonomisch begründet werden. Man sollte nur einmal zuhören, wie das Wort ‚Marktwirtschaft‘ im Munde der versammelten historischen Idioten seit 1989, vom US-Präsidenten über deutsche Grüne bis zu russischen Ex-Kommunisten einen liturgischen Klang annimmt.“ (Ebd., S. 88)

Politik ist das Ein- und Auspendeln gesellschaftlicher Möglichkeiten auf der Ebene der aktuellen kapitalistischen Verwertungsbedingungen. Die Entideologisierung verdeutlicht nur, dass diese sich immer direkter und nackter durchsetzen, den Schein der Weltanschauung ganz einfach nicht mehr zulassen können.

Staatlicher Reinterventionismus

Politik ist die allgemeinste Form des staatlichen Reinterventionismus. Reinterventionismus deshalb, weil dieser primär reaktiv, nicht aktiv vollzogen wird. Politik folgt der Gesellschaft, nicht umgekehrt. In den unterschiedlichsten Ausformungen eines akzentuierten Wollens (Parteien, Verbände, Bewegungen etc.) fluktuiert sie stets um die realfiktive gesellschaftliche Gesamtnotwendigkeit. Politik, in welcher Weise auch immer, ist nichts anderes als die Festsetzung von geringfügigen Abweichungen gesellschaftlicher Vorgaben. Dieser Umstand kommt heute immer mehr zu sich, wurde bisher allzusehr durch die Scheindominanz verschiedenster Ideologien verschleiert. Politik kann als Form gar nicht „grundsätzlich“ oder „prinzipialistisch“ sein, sie ist a priori Kompromiss.

Politik ist wesensmäßig Zusammenfindung, nicht Trennung. Die ideologischen Ansätze, die letztere nahelegen, sind der Politik vorgelagert, ohne sie jemals ersetzen zu können. Heute erscheint das deutlicher denn je. Lassen wir politische Absonderlichkeiten wie den Obskurantismus und das Sektenwesen beiseite – deren Politik kommt ja letztlich nie durch eine Praxis zu sich, bleibt rein deklamatorisch –, dann sind politische Differenzen überhaupt nichts anderes als verschiedene Umschreibungen von normativen gesellschaftlichen Zwängen.

Das Tun des Politikers ist ein Können, kein Wollen. Mehr Fertigkeit denn Handlung, mehr Handwerk denn Kreation. Instinktiv haben die meisten Politiker das auch begriffen, selbst wenn das Subjekt die deutliche Kapitulation vor den Verhältnissen nicht reflektieren will, bzw. sie gar offen eingesteht. So ist es auch verständlich, dass der Durchschnittspolitiker, der oft aus durchaus idealistischen Motiven in die Politik eingetreten ist, meist zu einem abgeklärten und zynischen Typus Mensch wird. Es ist die unreflektierte Ohnmacht, die er empfindet, und doch nicht wahrhaben will. Freiheit und Gewissen, zumindest wie er sie zu denken gelernt hat, sind somit Schimären, Einbildung, nicht Wirklichkeit. Das obligate Politikerschicksal lässt sich so beschreiben: Sie müssen sich dümmer stellen als sie sind, bis sie wirklich so dumm sind, wie sie sich stellen.

Es gibt jedenfalls keinen Grund, die Politiker als gesellschaftliche Ausnahmeerscheinungen vorzuführen, sie gleich Outlaws für vogelfrei zu erklären. Dahingehend ist auch der Begriff der „politischen Klasse“, wie ihn der moderne Soziologismus prägte und die Journaille aufgriff, ein Unbegriff. Bei Politikern ist nur leichter sichtbar, was woanders in viel stärkerem Ausmaße passiert. Das Problem der Politiker ist primär jenes: Sie stehen hinter einer Glaswand, sind nicht unter der Tuchent. Und flüchten sie dorthin, liegt bald ein Journalist dabei, stierend investigierend.

Form und Inhalt

In der gegenwärtigen Politik minimieren sich die Inhalte der Differenzen. Die wahren Differenzen, die keine wirklichen mehr sind – eben weil, obwohl wahrnehmbar, sie nichts qualitativ Unterschiedliches bewirken –, inszenieren sich in Äußerlichkeiten. Politik wird immer reiner, klärt sich auf in der Normierung und Realisierung der sogenannten Sachzwänge, die freilich nichts anderes sind als Systemzwänge. Durch die weitere Globalisierung der Weltwirtschaft werden die Vorgaben immer deutlicher spürbar und die Handlungsspielräume einzelner Staaten oder gesellschaftlicher Gruppen geringer. Die relative Autonomie der Politik wird noch weiter relativiert.

Der herausgehobene Charakter des Formprinzips Politik verlöscht, es ist immer weniger als gesellschaftliche Repulsion wahrnehmbar, seine Kontraktionen werden schwächer. Vor diesem Hintergrund müssen formale Differenzen in Stil und Design, in Sakko und Bluse natürlich an Bedeutung gewinnen. Politiker sind kaum noch an ihren Ausführungen zu unterscheiden, dafür umso mehr an ihren Aufführungen. Nur führen sie sich nicht selbst auf, sondern werden aufgeführt. Die Medien sind Bühne und Politiker haben zu tun, was ihnen vorgeschrieben und eingesagt wird.

Die Form frisst den Inhalt. Je mehr letztere verfällt, desto mehr steigt erstere auf. Es handelt sich dabei keineswegs um notwendige Entsprechungen und Spannungen von Inhalt und Form, sondern um einen schlichten Verdrängungsprozess. Dort, wo der Inhalt kaum noch ein Problem darstellt, verlagert sich das Interesse auf die Form und die Formvollendung. Politisch wird nachvollzogen, was in der Ökonomie analog Folgendes bedeutet: Die Verwertung ist blind gegenüber dem Gebrauchswert (Inhalt), sie dimensioniert sich nach dem Tauschwert (Form).

Wahlen transzendieren zu Modeschauen und Hungerkuren. Medientraining, Schminkkurse und Fitnesscenter verdrängen inhaltliche und strategische Überlegungen, oder gar noch besser: sind dieselben. Politik verkommt im ausgehenden bürgerlichen Zeitalter zu einem Supermarkt. Ähnlichste Sortimente prostituieren sich vor ihren Konsumenten. Verkleidung ist wichtiger als Inhalt, denn gut verpackt ist halb gewonnen. Menschen verschwinden hinter Masken. Was interessiert und zu interessieren hat, ist die reine Oberfläche. Alles, was darunter ist, fadisiert. Und zurecht, erkennt man die grundsätzlichen Differenzen als nichtig.

Stimmungsmaximierung

„Das übergreifende Moment ist die zunehmende Selbstauslieferung der ‚Politik‘ an die selbstläufigen ökonomischen Kriterien.“ (Ebd., S. 98) Die immer stärker sich abzeichnende Vermarktwirtschaftlichung der Politik, ihr Entschlacken von weltanschaulichen Beigaben und Resten ist eines der auffälligsten Phänomene der Epoche. Und doch stellt sich damit die Frage, ob Politik sich damit entpolitisiert – so unser bisheriger Befund, oder ob Politik damit nicht vielmehr zu sich kommt – so die gewagtere These. Lässt erstere von links bis rechts nur den Verfall der festen Wertvorstellungen beklagen, so ermöglicht letztere doch ganz andere Einsichten über die strukturellen Gemeinsamkeiten aller Politiken.

Marktwirtschaftliche Politik bedeutet Zwang zur Stimmenmaximierung, die nichts anderes als Stimmungsmaximierung sein kann. Es geht nicht um den kontinuierlichen Aspekt eines Produkts, sondern um den Verkauf zum richtigen Zeitpunkt. Politik wird gerade durch die Dimensionierung der Werbung und die daraus sich noch verstärkende Unterordnung des Inhalts unter die Form indiskret wie jede andere Ware.

Wenn es der Fall ist, dass viele Menschen sich erst in den letzten Tagen, ja Stunden vor der Wahl oder gar in der Wahlzelle entscheiden, so sagt dies ja nur aus, dass das Wahlverhalten immer weniger von Überzeugung oder Bewusstsein getragen wird, sondern von Stimmungen. Wer versetzt den Wähler in die augenblicklich richtige Stimmung, wer kann ihm im richtigen Moment an? Darum geht es.

Taktizismus

Die Handlungsbedürftigen sind so bloß Ausführungsbedienstete – denn wenn sie gegen bestimmte Stimmungen entscheiden, dann drückt sich das in den Stimmen aus. Und wenn die Stimmen nicht mehr stimmen, dann ist es um die Politiker meistens geschehen. Politik hat dahingehend einen immanenten Hang zur Taktik, ihre Interessen sind geleitet von kurzfristig zu erreichenden Erfolgen.

Die heutige Politik – und auch darin manifestieren sich ihre Grenzen – ist taktizistisch geprägt. Taktizismus meint, dass der Politik insgesamt langfristige Ziele und Überlegungen abhanden gekommen sind, sie sich immer ausschließlicher auf den Augenblick konzentriert. Sie bewältigt Situationen, nicht Problemlagen. Erfolg ist nur noch, was unmittelbar folgt. Die Strategie wird somit reduziert auf die Aneinanderreihung taktischer Schachzüge, sie folgt keiner bewussten Logik, ist horizontlos. Es ist in ihr und mit ihr kein spezifisches Ziel auszumachen, das sich in der Substanz von der heutigen Gesellschaft unterscheidet.

Dort, wo es bloß um Wählerstimmenmaximierung geht, müssen Inhalte und Formen der Politik sich ebenfalls angleichen, ideologische Versatzstücke immer mehr in der Versenkung verschwinden. Die Wahlstrategie ist die Abschaffung der Strategie überhaupt, sie ist Taktik pur, die sich bloß von Stimmenfang zu Stimmenfang hantelt.

Der Stammtisch

Die Durchschnittsbürger sind in ihrem Reflex gegen die Etablierten nicht oppositionell, sie sind vielmehr renitent. Ihre Aversionen sind nicht spezifisch, sondern diffus, reproduzieren sich primär nach den vorgelegten Fährten der Demagogen. Damit das bürgerliche Individuum auf Propaganda anspricht, muss es aber dementsprechend vorstrukturiert sein. Ansonsten müsste es ja von der Television bis zu den Zeitgeistmagazinen, vom Boulevard bis zum Hörfunk andauernd in subversives Gelächter ausbrechen. Es tut es nicht, es ist anders programmiert. Dummheit, hier verstanden als die sinnliche Übereinstimmung mit dem Schein der Welt, konsumiert es nicht selektiv, sondern in vollen Zügen.

Der österreichische Stammtisch ist gefährlich. Seine Mentalitäten sind schlimmer als sämtliche Politiken. Seine Wurzeln liegen jedoch nicht primär in der ideologischen Manipulation oder medialen Verführung, sondern in den Arbeitsbereichen der Menschen. Nach wie vor vermitteln Produktionshalle und Büro ein Klima von Hierarchie und Entsolidarisierung, Leistungsdruck und Konkurrenz, selbst wenn die Methoden der Formatierung subtiler geworden sind. Die verinnerlichte Entfremdung der abstrakten Arbeit, der Zwang, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, prägt die Menschen. Autoritätshörigkeit, Ausländerhass und Denkfeindlichkeit sind Ausdruck dieses Alltags, der sich dann allabendlich in virtuellen, nichterreichbaren Welten der Television „aufhebt“.

Gerade deswegen ist auch jede Aufklärung – deren Notwendigkeit wir natürlich nicht in Abrede stellen wollen – beschränkt, ist eine konstituierte und konsolidierte Einsicht nur mit einer anderen Aussicht herstellbar, nicht mit pädagogischen Kniffs. Allzuoft erweisen sich die Gegensteuerungen als machtlos gegenüber den Zwängen des Alltags. Seine Diktatur ist die eigentliche.

Es ist Abschied zu nehmen von dem banalen Gedanken, dass Politiker und Funktionäre gutwillige Wähler malträtieren und verführen. Wobei hier aber auch nicht umgekehrt des Volkes Stimme, der obligate Mann auf der Straße, die personifizierte Ausgabe des gesunden Menschenverstands als der die Politik bestimmende Bösewicht zu entlarven ist. Auch er oder sie sind nicht mehr als typologisierte Monaden der gesellschaftlichen Bedingungen, von denen sie partout nicht abstrahieren können, andererseits aber in völliger Verkennung ihrer geistigen Potenz und gesellschaftlichen Situation davon ausgehen, dass die Rezepte eigentlich einfach sind: AK-Gehälter runter!, Ausländer raus! Mörder aufhängen! etc., so die dunkelsten Verdichtungen der gemeinen Ganglien.

Die relative Abgehobenheit der Regierenden von ihrem Volk ist daher mehr zu loben als zu kritisieren. Außer in Ausnahmesituationen gilt es sich immer vor Augen zu halten: Die sogenannten Herrschenden sind progressiver als die Beherrschten. Gegenüber dem Stammtischgeraunze gilt es festzuhalten: Die Politiker sind die besten Politiker wie die Installateure die besten Installateure sind. Oder mit Karl Kraus: „Größere Kretins als unsere Staatsmänner sind wir doch selbst.“ (Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit (1926), München, 6. Aufl. 1979, S. 321)

Regieren als Reagieren

Der demokratische Parlamentarismus lenkt gerade dadurch, dass er für alle so offensichtlich Entscheidungen fällt, Gesetze beschließt, Geld verteilt, immer wieder alle Wünsche, Begierden und Kritiken an seine Adresse. Er wird als die Instanz gesehen, bei der interveniert werden kann. Wir müssen insofern von einer grenzenlosen Überschätzung der politischen Sphäre sprechen. Sie dient als der falsche Reibebaum gesellschaftlicher Interessen, ihre Allzuständigkeit ist rein fiktiv.

Regieren kommt jedenfalls von Reagieren. Auch wenn das etymologisch nicht stimmt, chronologisch ist es richtig. Die Probleme, die auf die Politik zukommen, hat sie in den seltensten Fällen selbst gemacht, aber weil sie diese verwaltet und da und dort mit einem Gesetz, mit einer Förderung, mit einem Appell einspringt, sieht es so aus, als sei sie die Urheberin, als sei etwa die ökologische oder die soziale Misere Folge von Umwelt- und Wirtschaftspolitik und nicht Folge kapitalistischer Produktionsverhältnisse.

Dadurch, dass Politik die Gesellschaft moderiert, erscheint sie als wahres Zentrum, gar als jenes, das eigentlich die Gesellschaft leitet. „Noch heute wird gesellschaftliche Integration oder Lösung aller anderswo nicht lösbaren Probleme zentral von der Politik erwartet.“ (Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen, 3. Aufl. 1990, S. 168) Die sich wiederholenden Enttäuschungen, die die Politik dann liefert, gründen darauf, dass man ihr und sie sich selbst permanent eine Lösungskapazität bescheinigt, die sie ganz einfach nicht hat. Sie kann nicht, was sie verspricht. Aber sie muss versprechen, was sie nicht kann.

Auch der Einwand, dass woanders Entscheidungen getroffen werden, die eigentlich de jure nur dem Parlament zustehen, geht in die Irre, weil er den Charakter des Parlaments als demokratische Vollzugsmaschine vorgelagerter Zwänge nicht erkennen will, sondern einen hehren Demokratismus gegen den realen behauptet. Eine wahrhafte Demokratie wird der wirklichen Demokratie gegenübergestellt, die österreichische Demokratie lediglich als „Torso“ (Sonja Puntscher-Riekmann, Die österreichische Demokratie. Ein Torso, Impuls Grün, Nr. 5 + 6/90, S. 2) begriffen.

Diese Sicht verstellt freilich jede emanzipatorische Kritik an Demokratie und Parlamentarismus, weil sie die Ausformung der Demokratie als deren Deformierung, nicht als deren Verwirklichung auffasst. Es ist geradezu ein Kennzeichen der westlichen Demokratie, dass die wichtigsten Entscheidungen nicht im Parlament fallen. Dieses ist primär dazu da, diese nachträglich oder vorsorglich zu legitimieren. Wobei schon das Wort „Entscheidungen“ eine Übertreibung darstellt, unterstellt es doch, dass etwas ausgeschieden werden kann, während andererseits etwas bewusst befürwortet wird. Dies trifft jedoch bei den gesellschaftlichen Verwirklichungen nicht zu. Was das Subjekt verwirklicht und wofür es sich entschließt, ist weitgehend von seinem Willen unabhängig, ist vielmehr bedingt durch die sich in Möglichkeiten übersetzenden gesellschaftlichen Notwendigkeiten.

Was sich im Parlament realisiert, kann gar nicht dort geschaffen werden. Politik justiert nur Nuancen gesellschaftlicher Zwänge, verteilt um, schwächt ab oder fördert. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes dazu angehalten, die Bedingungen der Kapitalverwertung einerseits zu garantieren, andererseits die ökologisch bedenklichsten und sozial unverträglichsten Entwicklungen abzustellen oder zu mildern. Auch gegen das direkte Interesse dieses oder jenes Kapitals. Dies gleicht natürlich einem Eiertanz, bei dem die Politik immer hintennach ist, in ein Fettnäpfchen nach dem anderen tritt, an der Komplexität der Detaillösungen oft verzweifelt und außerdem noch die medialen Prügel bezieht.

Politikverdrossenheit

Die Krise der Parteienform, die sich natürlich am deutlichsten bei den Großparteien äußert, ist Folge der Krise der Politik, nicht umgekehrt. Nicht die Parteien stürzen die Politik in die Verdrossenheit, sondern das Formprinzip Politik verfault an seinen Instrumenten. Heute muss man sich freilich die Frage stellen, ob die passive und massive Verweigerungshaltung von immer mehr Menschen nicht doch auch progressive Momente in sich birgt. Ob nicht gar das Bejammern der Politikverdrossenheit in Wirklichkeit reaktionärer ist als diese selbst.

Dahingehend hat die allgemeine Politikverdrossenheit neben ihren konjunkturellen Schwächen – sie weiß keine Antworten auf die anstehenden Probleme der Zeit, aber das wissen auch etablierte und oppositionelle Kräfte nicht, nur geben diese es nicht zu – auch strukturelle Stärken. Sie hat nämlich instinktiv erkannt, dass mit Politik heute kaum etwas zu ändern ist.

Fast alles, was die Demokratie trägt (im Sinne jetzt von beinhalten wie konstituieren), ist in Verruf gekommen: Parteien, Politiker, Bürokratien, der Parlamentarismus, die Gesetzgebung, der Proporz. Bejaht, und das dafür umso frenetischer, wird lediglich die leere Hülle, das Füllwort, indem sich nun aber nichts mehr befindet. Diese Kritik ist antidemokratisch, aber nicht in einem progressiven Sinn, sondern in einer reaktionären Variante, die davon ausgeht, man könnte Demokratie von ihren gesellschaftlichen Inhalten säubern, jene jedoch gleichzeitig erhalten, ja verbessern. Ein solcher Kampf gegen den Parlamentarismus und seine Ausformungen, da hat Hans Kelsen (Der Staat als Integration, Wien 1930, S. 82) schon recht, ist nichts anderes als ein Kampf gegen die Demokratie.

Das Verquere an der aktuellen Situation ist nun, dass in einer Zeit, wo die Demokratie sich selbst destabilisiert, weil destabilisieren muss, die subjektiven Träger alternativer Ansätze gerade zu ihrer Rettung antreten, sich nicht überlegen, was nachher kommt, sondern wie sie die Form erweitern können. Um uns nicht misszuverstehen: „Niemand wird die historische Notwendigkeit der Demokratie und ihre große Bedeutung für ein Hinauskommen über die Enge der ständischen Agrargesellschaft bestreiten. Aber auf diesen Lorbeeren kann sich die Menschheit nicht für immer zur Ruhe setzen. Dass die Demokratie selbst, wie ihr Name schon sagt (Volks-Herrschaft), nur die bisher modernste Form der Diktatur einer zwanghaften gesellschaftlichen Form über die Entwicklung menschlicher Bedürfnisse und Beziehungen ist, kann das absolut in dieser Form befangene demokratische Räsonnement nicht einmal im Traum realisieren.“ (Robert Kurz, Die Demokratie frisst ihre Kinder; in: Rosemaries Babies. Die Demokratie und ihre Rechtsradikalen, Unkel/Rhein und Bad Honnef 1993, S. 14)

Demokratie und Emanzipation

Die bürgerliche Demokratie ist nicht mehr entwickelbar, sie ist vielmehr ein Auslaufmodell, das die besten Zeiten hinter sich hat. Der unerträgliche Promi-Kult verdrängt die letzten Inhalte, aber er verdrängt etwas, wo es schon nichts mehr zu verdrängen gibt, seit sich der Typus der Volkspartei endgültig durchgesetzt hat. Die bürgerlichen Politiken, die rechten und die linken, lösen sich auf, weil es um nichts mehr geht außer Nuancen. Die Differenzen sind inszeniert, ein mediales Spektakel, nicht mehr.

Wobei natürlich nicht verschwiegen werden soll, dass für das einzelne Individuum diese Nuancen der Parteiungen sehr wohl elementaren Charakter annehmen können. In unserem Beitrag geht es aber darum, das bisher vernachlässigte Integrative zu betonen, nicht so sehr sich noch einmal an den sekundären Differenzen abzuarbeiten. Die Politiken von rot und schwarz, grün und braun, können dahingehend nicht als bloßes „Einerlei“ bezeichnet werden, so gleich sie in ihrer Struktur auch sind.

Klar sein sollte: Keine Demokratiereform erweitert mehr die realen Möglichkeiten der Menschen. Die direktdemokratischen Ergänzungen sind populistische Überspitzungen der parlamentarischen Demokratie. Sie sind Zeichen der Krise, nicht eines Aufbruchs, Zeichen eines unsicher gewordenen politischen Systems, das der Populismus reitet. Selbstverständlich ist die Demokratie (und zwar mit allen ihren zusammengehörigen Arten und Unarten) gegen diesen zu verteidigen, aber eben nicht mehr von einem demokratischen Standpunkt aus.

Demokratie und Emanzipation sind keine Synonyme mehr, sie sind zu Antipoden geworden. Zu Demokratie ist kein Komparativ mehr möglich, ihre Hochzeiten sind endgültig vorbei. Ihre Kapazität ist am Ende. Die ihr zugrundeliegenden Mechanismen können nicht prinzipiell ausgeweitet werden, ohne sie letztendlich funktionsunfähig zu machen. Die Demokratisierung der Demokratie ist nicht kommunizierbar und kommunikationsfähig. Demokratie hat ihr dynamisches Prinzip unwiederbringbar eingebüßt.

Revolution oder Politik?

Und nun? – Was also tun, sollte unsere fundamentale Kritik stimmen?

Forderungen nach konsequenter Interessenspolitik können kaum noch auf fruchtbaren Boden fallen. Da wächst nichts mehr heran; diese Phase, deren deutlichster Ausdruck der Klassenkampf war, ist vorbei. Die politische Bewegung des variablen Kapitals, die Arbeiterbewegung, ist tot, und nicht nur, weil die Sozialdemokratie sie zum Stillstand gebracht hat, oder der real existierende Sozialismus, der real nie existierte, gescheitert ist. Der neue Sozialismus wird keiner der Arbeiterbewegung sein. Er unterscheidet sich somit von allen Ersten, Zweiten und Dritten Wegen. Der neue Sozialismus wird dort ansetzen, wo Marx angesetzt hat, in der Produktion. Sein zentrales Instrument ist die Wertkritik, an der letztendlich alle gesellschaftlichen Fragen zu diskutieren sind.

Aktuell wollen wir hier aber natürlich keinen politischen Nihilismus verkünden, der meint, aus dem Konstatieren eines Absterbens, einen Verzicht auf die Teilnahme am politischen Leben ableiten zu können. Das wäre zu schlicht gedacht. Auch das Absterben ist ein Leben. Nur muss klar sein, wo ihre Grenzen sind, bzw. dass Politik vergeht, eben weil mit ihr immer weniger geht. Nur weil sie abstirbt, können wir uns freilich nicht politisch totstellen. Politik wird daher vorerst noch Begleiter sein müssen, nüchtern behandelt aber als sich stets relativierendes Prinzip, nicht mehr illusionsbeladen als hehres Ideal, gar verbunden mit dem Wunsche nach einem politischen Zeitalter. Reformistisches Dribbeln eben.

Mittelfristig gilt es freilich, sich radikal umzuorientieren: Was gefragt sein wird, ist keine andere Politik, sondern eine die Politik bewusst aufhebende Anti-Politik, d.h. eine Kommunikationsform, die sich nicht bloß von der etablierten Politik absetzt (um ihr im Ernstfall dann wie bisher zuzusetzen – man denke an das realistische Koalitionssyndrom), sondern von der Politik als Formprinzip überhaupt. Diese Form ist ihr wesentlicher Inhalt, unabhängig von ihren inhaltlichen Erfüllungen. Politik hat bürgerliche Willensform und somit schlussendlich kapitalkonforme Inhalte zur Bedingung. „Das Allgemeine sorgt dafür, dass das ihm unterworfene Besondere nicht besser sei als es selbst“, schreibt Adorno. (Negative Dialektik (1966), Frankfurt am Main 1992, S. 306)

Eines der Grundmissverständnisse linker Theorie war die metaphysische Trennung von Form und Inhalt. Diese führte dazu, dass die Form als quasi wesenslose Hülle erscheinen musste, die mit beliebigen Inhalten auszufüllen sei. Das affirmative wie leere Verständnis von Politik, Recht, Demokratie oder Staat ist Ausdruck dieser Haltung. Diese Begriffe wurden nicht als Realkategorien erkannt, sondern als beliebig verwendbar den wildesten Definitionen und Kombinationen zugeführt. So entstanden Unbegriffe wie sozialistische Demokratie, Arbeiterstaat oder revolutionäre Politik. In der Ontologisierung bürgerlicher Werte und Termini stand die organisierte Arbeiterbewegung dem Bürgertum in nichts nach.

Gerade weil es an der kommunistischen Perspektive mehr denn je festzuhalten gilt, gilt: Revolutionäre Politik ist unmöglich. Aber nicht weil der Kapitalismus endgültig gesiegt hat und die Revolution ein Hirngespinst ist, sondern weil sozialistische Revolution und bürgerliche Politik ganz einfach nicht zusammenpassen. Politik, die nicht als Metakategorie bewussten Handelns mit Kollektivbezug verstanden werden darf, ist untrennbarer Modus der kapitalistischen Warengesellschaft.

Eine prinzipiell andere Politik ist somit ausgeschlossen, ein Widerspruch in sich. Sozialistische oder emanzipatorische Politik ist unmöglich, kann es per definitionem nicht geben. Eine sozialistische Kommunikationsform hat somit erst Chancen, wenn die gesellschaftlichen Zustände sich selbst umwälzend aufheben. Alles andere sind voluntaristische Proklamationen, die sich stets an der Realität blamieren.

Von der Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners ist zu einer emanzipatorischen Kommunikation des größten gemeinsamen Zählers überzugehen. Das kann nur gehen, indem alle gesellschaftlichen Probleme a priori und a posteriori in eine farbenreiche, esoterische wie exoterische, alles umfassende Gesellschaftskritik einmünden, die vor allem nicht aus taktischen Gründen entradikalisiert, sondern jene im Gegenteil theoretisch und argumentativ zuspitzt. Eine solche Bündnispolitik hat das Verausgaben, nicht das Vereinnahmen zum Ziel. Sie dient der gegenseitigen Befruchtung, nicht der Sterilisierung.

Freilich ist wenig getan, wenn man die gesellschaftlichen Konflikte – letztendlich allesamt Kontraktionen des Werts, der die gesellschaftliche „Elementarform“ (MEW, Bd. 23, S. 49), die Ware bestimmt – nur noch in postmoderner Beliebigkeit nebeneinander stellt und je nach Konjunktur mal dies und mal das als Schwerpunkt gelten lässt. Man darf nicht auf das soziologistische Gerede von der Komplexität und Unüberschaubarkeit hereinfallen. Nur die Erscheinungen sind komplex, das Wesen ist trotz aller Wucherungen und Ausgestaltungen ganz einfach: Alles und jedes steht direkt und indirekt im Dienste der Verwertung des Werts, der Bildung von Kapital. Daran wird alles ausgerichtet und (in doppeltem Wortsinn) hingerichtet. Die konstatierten Komplexitäten sind nichts anderes als die zeitgenössische Übersetzung des Scheins.

Wohlgemerkt, plädiert wird hier für eine Radikalisierung, nicht für eine Rabiatisierung der Linken. Kompromisslosigkeit und Zuspitzung ist in der Theorie gefordert, nicht jedoch in der Praxis. Ohne das hier in der nötigen Differenzierung ausführen zu können, wird letztere in vielen Bereichen äußerst behutsam und moderat sein müssen. Als Richtschnur mag gelten: Am Ziel festzuhalten, ohne das Maß aus den Augen zu verlieren, das den Weg ermöglicht.

Wir wollen in die Gesellschaft rein, damit sie an uns leichter über sich selbst hinauswachsen kann. Das erfordert eine ganz neuartige Komposition von harten und weichen Komponenten, welche sich sowohl wohltuend von der Starre und Enge kommunistischer Parteien, als auch von der überemotionalisierten Bauchpolitik alternativer Klüngel unterscheidet. Hart und weich, offen und geschlossen, autoritär und antiautoritär, hierarchisch und egalitär, partizipativ und exklusiv sind nicht mit „gut“ und „böse“ zu übersetzen. Diese Paare sind somit keine antagonistischen Widersprüche, sondern müssen als dialektische Gegensätze einer neuen Organisierung entwickelt werden.

Der Widerspruch Lohnarbeit-Kapital, der immer bloß ein kapitalimmanenter gewesen ist, ist nicht mehr dazu angetan, Theorie und Praxis zu leiten. Daraus aber einen gänzlichen Verzicht auf eine Leitlinie abzuleiten, wäre verkehrt. Heute gilt es, alles an der Wertkategorie zu dechiffrieren, den Widerspruch zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkraftentwicklung, zwischen den materiellen Möglichkeiten der Menschen und den verwertbaren Möglichkeiten des Kapitals, zentral zu thematisieren.

Ökologische Zentrierung

Es ist die Ökologiebewegung, die anders als alle Bewegungen vor ihr im Prinzip keine Sonderinteressen mehr vertritt, sondern Allgemeininteressen. Sie ist die erste Formierung, der dieser Gedanke in umfassendem Sinne zugrunde liegt. Die Bedeutung der Sonderinteressen erfährt durch sie eine markante Relativierung. Der Ökologiebewegung geht es der Intention nach ums Ganze.

Unser Vorwurf an viele Mentoren der Ökologiebewegung geht auch nicht dahin, dass sie das Primat der Ökologie behaupten, sondern richtet sich gegen die daraus resultierende Subtraktion aller anderen Anliegen. Das ist nicht nur bündnispolitisch verkehrt, sondern auch inhaltlich falsch, da es die gesellschaftlichen Probleme nebeneinander und nicht miteinander betrachtet und behandelt, sie sachlich isoliert, eine gemeinsame Grundlage dieser nicht wahrnehmen will. Schließlich die potentiell progressiven Bedürfnisse dividiert statt potenziert, sie auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zurechtstutzt.

Mit der Zentrierung der Ökologie wurde die abstrakt übergeordnete Frage auch konkret übergeordnet. Es geht ums Ganze, nicht mehr primär um Verwirklichung von Teilen auf Kosten des Ganzen. Die Ökologiebewegung ist die einzige qualitativ neuartige Bewegung, auch wenn ihr Denken und Handeln noch im bürgerlichen Horizont befangen ist. Es ist hier eine Differenzierung anzusetzen, was wesentliche Intention einerseits bzw. wesentliche Ausformung andererseits betrifft. Diese widersprechen sich. Was sie aber ausdrückt und unterscheidet, ist ihr ganzheitlicher Anspruch, kurzum die Gattungsfrage. Ökologische Bedürfnisse können so nicht mehr schlichtweg etwa durch Produktionsausweitung und Produktivkraftentwicklung „gelöst“ und verwaltet werden wie dies bisher für die Bedürfnisse der metropolitanen Arbeiterklasse gegolten hat.

Ökologische Fragestellungen gehen somit direkt an die Substanz der gegenwärtigen Gesellschaftsformation, auch wenn die aktuellen Lösungsansätze (Vermarktung der Natur, Verursacherprinzip) sich nach den alten Formeln abspulen. Die Ökologiebewegung ist ihrer wesentlichen Intention nach eine Bewegung gegen die privaten und staatlichen Verfügungsgewalten über Produktionsmittel und Produktivkraftentwicklung, sie richtet sich somit gegen die bewusstlose und blindwütige Verwertung des Werts, stellt ihr, wenn auch absolut vage, eine andere Gestaltung der stofflichen Lebenszusammenhänge gegenüber. Die Ökologiebewegung ist in ihrer Potenz die revolutionäre Bewegung. Der biedere und traditionelle Ablauf ökologischer Konfrontationen sollte darüber nicht hinwegtäuschen. Sie rüttelt mehr am Kapitalismus als die Arbeiterbewegung das je getan hat.

Tatsächlich, um gleich zahlreichen empirischen Einwänden entgegenzukommen, ist dem natürlich nicht so. In ihren wesentlichen Ausformungen ist die Ökologiebewegung zahm und artig, vergleicht man sie mit der aufsteigenden Arbeiterbewegung. Ihre Kritik ist von einer Kritik an den Missständen noch zu keiner Kritik der Zustände vorangeschritten. Sie bleibt isoliert, entwickelt sich an den Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Prozesse (z.B. Umweltschäden, Umweltkatastrophen), ohne diese in einen gesellschaftlichen Kontext einordnen zu können.

Die Ökologiebewegung repliziert geradezu die herrschenden Werte, ja pocht auf deren Einhaltung gegen die herrschende Ökonomie und Politik. Den aktuellen Anforderungen antwortet sie mit Fanatismus oder Pragmatismus. Theorie erscheint ihr als Luxus. Von theoretischen Gehversuchen, die sich an Markt und Geld versuchen, hat man bisher nichts vernommen. Im Gegenteil, die Ökologiebewegung gefällt sich geradewegs im staatstragenden Ton, singt Loblieder auf die bürgerlichen Werte und den freien Markt, achtet das Gewaltmonopol und preist den Rechtsstaat.

Karl Marx’ Betrachtung der sozialen Revolution des 19. Jahrhunderts trifft auch auf jene des 21. zu: „Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muss die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen.“ (MEW Bd. 8, S. 117) In diesem Sinne.

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