von Leo Tolstoi
I.
Ich hatte schon mehrmals Gelegenheit, den Gedanken auszusprechen, dass der Patriotismus für unsere Zeit ein unnatürliches, unvernünftiges, schädliches Gefühl sei, welches einen großen Teil der Übel verursache, unter denen die Menschheit leidet, und dass daher dieses Gefühl nicht genährt und groß gezogen werden müsste, wie es jetzt geschieht; sondern im Gegenteil unterdrückt und durch alle Mittel, die vernünftigen Menschen zugänglich sind, vernichtet werden sollte.
II.
Der Patriotismus ist das Gefühl einer ausschließlichen Liebe zu seinem Volke und als die Doktrin vom Heroismus des Aufopferns seiner Ruhe, seines Besitzes und sogar seines eigenen Lebens zum Schutz der Schwachen vor der Vergewaltigung und Vernichtung durch die Feinde – war die höchste Idee jener Zeit, als jedes Volk es für möglich und gerecht hielt, zum Nutzen seiner eigenen Macht und Wohlfahrt die Menschen eines anderen Volkes zu plündern und zu morden.
III.
Die kleinen bedrückten Völkerschaften, die der Macht der großen Staaten zum Opfer gefallen sind, die Polen, die Iren, die Tschechen, die Finnen, die Armenier sind, indem sie dem Patriotismus der Sieger reagieren, dermaßen von ihren Bedrückern durch dieses überlebte, unnütz gewordene, sinnlose und schädliche Gefühl des Patriotismus infiziert worden, dass sich ihre ganze Tätigkeit auf diesen Patriotismus konzentriert. Und sie, die sie selbst unter dem Patriotismus der mächtigen Völker zu leiden haben, sind bereit, den anderen Völkerschaften gegenüber, um dieses Patriotismus willen, dasselbe zu tun, was ihre Sieger an ihnen getan haben und tun.
IV.
Die regierenden Klassen Deutschlands hatten den Patriotismus ihrer Volksmassen bis zu einer solchen Höhe entflammt, dass in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts dem Volke ein Gesetz vorgelegt wurde, demzufolge alle Menschen ohne Ausnahmen Soldaten werden mussten. Alle Söhne, Gatten und Väter wurden im Morden unterrichtet, mussten zu unterwürfigen Sklaven eines jeden höheren Vorgesetzten werden und unweigerlich zum Mord derer bereit sein, die zu morden ihnen befohlen wird. Solange Regierung und Heere existieren werden, ist das Aufhören der Rüstungen und Kriege nicht möglich.
V.
Alle Völker der sogenannten christlichen Welt sind durch den Patriotismus bis zu einem solchen Grade von Vertierung gebracht worden, dass nicht nur die Menschen, die durch die Verhältnisse gezwungen werden zu morden und gemordet zu werden, den Mord wünschen und sich über das Morden freuen; nein auch die Menschen, die ruhig in ihren Häusern wohnen, ja, alle Menschen Europas und Amerikas befinden sich, dank der schnellen und leichten Verkehrsmittel und dank der Presse bei jedem Kriege in der Lage der Zuschauer im römischen Zirkus, freuen sich wie diese über das Morden und rufen ebenso blutgierig wie diese ihr ‚Pollice verso!‘“
VI.
Zu der Befreiung der Menschen von dem furchtbaren Übel der Rüstungen und Kriege, unter dem sie gegenwärtig zu leiden haben und das immer mehr und mehr wächst, sind nicht Konferenzen, nicht Traktate und Schiedsgerichte nötig, sondern die Vernichtung jener Gewalt, die sich Regierung nennt und von der die größten Leiden der Menschheit herrühren.
Zu der Vernichtung der Regierungen ist nur eines nötig: Die Menschen müssen begreifen, dass jenes Gefühl des Patriotismus, welches allein dieses Werkzeug der Vergewaltigung stützt, ein rohes, schädliches, schimpfliches und schlechtes Gefühl ist, vor allem aber ein unmoralisches.
VII.
Jetzt gibt es Leute, die speziell dazu erzogen und vorbereitet werden, um andere Menschen zu töten und zu vergewaltigen, Menschen, denen das Recht zusteht, zu vergewaltigen und zu diesem Zwecke über eine wohlgeordnete Organisation verfügen.
Dann aber werden keine Menschen mehr erzogen werden, niemand wird das Recht zur Vergewaltigung zustehen, es wird keine Organisation der Vergewaltigung mehr geben, und, wie dieses den Menschen unserer Zeit eigentümlich ist, die Vergewaltigung und der Mord werden immer und bezüglich aller als etwas Schlechtes gelten.
Die Vernichtung der Regierungen wird nur die traditionelle unnütze Organisation der Vergewaltigung vernichten und jeder Vergewaltigung die Berechtigung absprechen.
aus: Leo Tolstoi, Patriotosimus und Regierung (1900); Übers. v. Eugen Diederichs; in: Leo Tolstoj, Rede gegen den Krieg. Politische Flugschriften. Hgg. von Peter Urban, Insel Verlag 1968.