von Jan Fuhrmann
I Der spezielle kapitalistische Kalkül G-W-G′
Als sich Marx entschied, den kapitalistischen Kalkül als die Metamorphose G-W-G′ darzustellen, zentrierte er nicht nur Ware, sondern auch Zeit und Geld in seinem Kalkül. Während Geld, die Differenz zwischen G und G′, als zeitliche Differenz zwischen Investment und Erlös gedacht war, wurde die Ware W als dinghaftes Ergebnis der kapitalistischen Produktionsweise inszeniert. Am Ende des Produktionsprozesses steht ein materielles Haben, welches durch Verkauf in Profit bringende Waren transponiert. Ware ist Dingform. Die damit verbundene Fixierung auf den Produktionsprozess von W totalisiert die Sequenz G-W-G′ als einzige kapitalistische Form.
Weil Kapitalismus Arbeitskraft ausbeutet, um die Metamorphose von G über die Produktion von W zu G′ zu treiben, muss Marx die Sequenz auf G-W…P…W′-G′ erweitern. Das bedeutet, dass er in den Kalkül das P der Produktion einschreibt. P ist aus der Warenzirkulation suspendiert, dafür stehen die …, und tritt in die Produktionssphäre ein. Um P zu vollziehen, wird das erste W als Investition in Ware, auch Arbeitskraft fällt darunter, verrechnet, sodass P ein veräußerbares W′ in Dingform hervorbringt. Weil Lohnarbeit eingekauft in den Produktionsprozess einfließt, muss sie, um im Kalkül G-W-G′ veräußerbar zu sein, als Ware verdinglicht sein.
Allerdings liegt Arbeitskraft nicht in Dingform vor. Sie ist vielmehr der noch nicht vollzogene Prozess des Anfertigens eines Dings. Sie ist potenzielle, noch nicht entfalte Ware, so konstatiert Marx. Sie äußert sich in der benötigten Zeit zur Modifikation der materiellen Welt zu einer Ware in P. Sofern Arbeit nicht dinghaft ist, geht sie nicht in G-W…P…W′-G′ auf.
II Der allgemeine kapitalistische Kalkül G-X-G′
Wenn im Kapitalismus Profit in erster Line über die Ausbeutung von Arbeitskraft gewonnen wird, kann W als Kurzform für den Prozess der Ausbeutung von Arbeit aufgefasst werden, indem W als materielles Artefakt des Arbeitsprozesses Ergebnis ist und Arbeitskraft als Voraussetzung einschließt. Bei der dinglichen Form der Ware erscheint das unproblematisch. Aber schon beim Barbierbesuch wird das Haar selbst zur Modulationsmasse des Barbiers. Nicht das Schaffen materieller Dinghaftigkeit, sondern die Modifikation durch Entfernung von Haar erzeugt die neue Frisur. Für den akut zu Frisierenden geht es darum, Kommandogewalt für die Dauer des Frisierens zu erhalten, um das Erscheinungsbild der Frisur nach Abschluss des Vorgangs während des Vorgangs zu instruieren. Der Barbier wird zum Instrument und bietet viel weniger Arbeitskraft als Ware an, sondern vielmehr für eine bestimmte Zeit Zugriff auf sein Handeln. Arbeitskraft erscheint dann nicht mehr als potenzielle Verdinglichung der Ware; sie ist vielmehr die ideelle Abgabe der Kontrolle des Arbeitenden über seine Handlungen an eine Kommandogewalt auf bestimmte Dauer. Das lässt sich generalisieren. Arbeitskraft ist die Unterwerfung unter eine Kommandogewalt K für eine bestimmte, oft vertraglich regulierte, Dauer T.
Ware W als Dingform kann das Ergebnis der Kommandogewalt K für eine bestimmte Dauer T sein. Aber nicht immer, wenn K mit T kombiniert wird, ist auch W Ergebnis. Und dennoch kann ein Profit G′ erzielt werden. Der Barbier produziert eben keine dingliche Ware, sondern er bewirkt eine Veränderung des Körpers, die durch Steuerung, genauer durch Kommandogewalt über ihn, erzielt wird, ohne dass W Ergebnis ist. Das Schema G-W-G′ transformiert sich in das Schema G-K+T-G′. K+T markiert die Aneignung von Kommandogewalt für eine Dauer zur Profiterheischung. Jede Form der Dienstleistung tilgt aus dem Schema G-W-G′ das W und ersetzt es durch K+T. Beim Frisieren gewinnt nicht die Person, die temporale Kommandogewalt erheischt, einen Profitvorteil, sondern jene Person, die sich der Kommandogewalt unterwirft – sofern selbstständig.
Im Schema G-W-G′ liegt das Verhältnis der Ausbeutung invers. Kommandogewalt wird hier nicht genutzt, um Profit für die Person zu erlangen, die sich der Kommandogewalt ausliefert. Sie ist stattdessen in ein Abhängigkeitsverhältnis gedrängt, das sie eingeht, um ihre Liquidität reproduzieren zu können. Darum wird Profit nicht direkt über die Veräußerung von K+T erzielt, sondern muss als Ergebnis von K+T die Ware veräußern. Ihre Produktion ist nicht mehr in der Relation von W-G′ sichtbar. In der ihr vorausgehenden Relation G-W findet neben Investitionen in der Lohnzahlung eine Aneignung von Arbeitskraft über Kommandogewalt für eine Dauer statt. Im Sinne von Marx verbirgt sich K+T als Katalysator der Produktion im von der Warenzirkulation suspendierten …P… Wird statt G-W-G′ G-W-K+T-W′-G′ notiert entsteht ein höheres Auflösevermögen des Kalküls, weil P nicht suspendiert wird, sondern in K+T Teil des Kalküls ist.
Marxens Analyse reartikuliert also nicht die Universalform, sondern eine spezielle Form des kapitalistischen Kalküls, nämlich den Kalkül eines Waren produzierenden Kapitalismus, dessen Output sich auf einer materiellen Seite dinglichen Habens manifestiert.
Generell ist für Kapitalismus relevant, dass die Tautologie G-G′ in eine Autologie gestreckt wird, das heißt, dass Profit nicht aus Geld, sondern aus der Zwischenschaltung einer dem Geld äußeren Differenz gewonnen wird. An dieser Stelle soll darum G-W-G′ durch G-X-G′ ersetzt werden. X bedeutet so viel, wie Aneignung einer Differenz, zwecks Transformation von G in G′.
III Variablen
Eine solche Ausweitung setzt voraus, dass sich bestimmen lässt, wofür X stehen kann. Bisher angeklungen ist, dass X für zeitliche Dauer T, Ware W und Kommandogewalt K stehen kann. Es kann aber auch für Zugriff Z, Symbol S und Geld G sowie eine Kombination aus allen Variablen miteinander bestehen. Relevantes Kriterium ist, dass die Variablen genutzt werden, um Profit zu erheischen, das heißt, um G in G′ zu transformieren. Entsprechend handelt es sich um keine abgeschlossene Liste.
Wenn X=T ist, dann wird über die Aneignung einer temporalen Differenz Profi gemacht. Der Kredit ist dafür die Basisform. Der Kreditnehmer ist jene Adresse, die ideologisch für die Schaffung von materiellem Mehrwert zentriert wird. Für den Kreditgeber ist dies unerheblich, denn für ihn geht es darum, dass Zinsen bedient werden. Sein Kalkül nutzt temporale Differenz aus: G-T-G′. Weil der Kredit an einen Vertrag gekoppelt ist, dupliziert sich die Sequenz G-T-G′ aufseiten des Kreditnehmers, indem sie im Moment von G und G′ aneinander gekoppelt sind. Die Sequenz des Kreditnehmers ist im Moment von T jedoch von der des Kreditgebers entkoppelt, weil sie T ausnutzen muss, um selbst Gewinne zu erzielen, mit denen dann der Kredit bedient wird. Der Kreditgeber gibt den Takt an, innerhalb dessen die Sequenz des Kreditnehmers soweit beschleunigt werden muss, dass das G′ des Kreditgebers bedient werden kann. Jede Sequenz konstituiert darum eine Eigenzeit. Denn, um den Gewinn des Kreditgebers bedienen zu können, muss der Kreditnehmer die temporalen Differenzen, die er nutzt, beschleunigen, das heißt mehr Operationen in der Dauer, die der Kreditgeber einräumt, zu vollziehen, um profitabel sein zu können. In der Dauer T der Sequenz des Kreditgebers wird die Sequenz des Kreditnehmers ausgestülpt, bis sie wieder im Moment der Bedienung des Kredits sich mit G′ der anderen Sequenz synchronisiert. Das bedeutet, dass die Sequenz des Kreditnehmers eine höhere Frequenz aufweist; folglich mehr Ereignisse in gleicher Zeit operieren muss. Darum kann die Duplikation nicht einfach die Spiegelung der Sequenz sein. Sie ist verlängert, also dazu gezwungen, Zeit durch die Zwischenschaltung weiterer Transformationen beschleunigt auszunutzen.
Für die an G-T-G′ duplizierte Sequenz des Kreditnehmers bedeutet dies, dass sie dem ersten G ein X entgegensetzt, dem T eine längere Sequenz von G-X-G-X-G… und dem G′ ein G′. An X wird die Kreditfähigkeit gemessen. Eine solche Messung setzt auf Indizes, wie die der SCHUFA, mittels derer geprüft wird, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass für den Kreditgeber G′ realisiert werden wird. G erfolgt für den Kreditnehmer, sobald seine Kreditfähigkeit validiert ist. Dann setzt der Kreditgeber auf T, das heißt: abwarten. Und der Kreditnehmer muss eine Sequenz initiieren, bei der am Ende ein G′ steht, das größer als das des Kreditgebers ist. Jedenfalls wenn der Kalkül aufgegangen ist. Dafür, dann radikalisiert sich T, kann auch T bspw. am Finanzmarkt durch die Ausnutzung der Volatilität der Kurse genutzt werden.
Sobald temporale Differenz für einen Profitkalkül ausgenutzt wird, führt sie Kontingenz ein, die in der Zukunft auf einen bestimmten, erwarteten Wert dirigiert sein soll. Entsprechend konstituiert sich der Kapitalismus im 15. Jahrhundert im Fernhandel nicht nur über den Handel von Waren, das ist nicht neu, sondern über die Vorfinanzierung per Kredit und der Einführung von Versicherungen, die ihren Profit draus zu ziehen wissen, dass sie einen Risikokalkül einsetzten, der damit rechnet, dass das, was versichert wird, in der Zukunft nicht eintritt.
Im allgemeinen kapitalistischen Kalkül ist T immer relevant und jegliche Variable, für die X steht, mit einem Zeitindex zu versehen. Hier soll dies mit +T markiert sein, womit nicht auf die mathematische Operation der Addition hingewiesen sein soll, sondern auf die Simultaneität der Bedingung der Zeitlichkeit und dessen, was sich in der Zeit operational realisieren lässt.
Ganz offenkundig wird dies bei der Variable Z, dem Zugriff auf etwas, ein Ding, einen räumlichen Zugang, eine Verfügung usw. Der Zugriff ist zeitlich limitiert, sodass gerade nicht die Übergabe eines Dings, welches gehabt werden kann, vollzogen wird. X=Z+T. Unter Z+T fallen Abos, Vermietungen, Pachten usw. Der Zugriff wird solange gewährt, wie Zahlungen erfolgen, die für eine bestimmte Dauer den Zugriff gestatten. Das kann die Wohnung sein, bei der eine monatliche Miete fällig wird, um sie für einen weiteren Monat bewohnen zu können. Das kann auch das gecharterte Schiff bspw. durch die East India Company um 1600 sein, mit dem erst der Transport der Waren um den halben Globus möglich wurde. Das kann auch das Musikstreamingabonnement oder das Digitalabonnement einer Tageszeitung sein. Charakteristisch für Z+T ist, dass Zahlungen erfolgen müssen, um den Zugriff sowohl auf Materielles als auch Immaterielles aufrechterhalten zu können. Die Zahlung instruiert also keine Veränderung des Habens, sie virtualisiert das Haben in der zeitlichen Limitationalität eines Vollzugriffs. Im Gegensatz zur Ware, die einmal gekauft, solange es ihre materielle Haltbarkeit zulässt, in der Verfügungsgewalt des Kaufenden steht, ist in der temporalisierten Zugriffslogik der Profit daraus gewinnbar, dass durch den Nutzer periodisch Geld nachgeschoben werden muss, um Zugriff behalten zu können. Bei der Mietwohnung ist das existenziell, sodass gleichsam eine Perpetuierung der Herstellung von Liquidität seitens des Nutzers notwendig wird. Vielmehr diese Logik, als die Warenlogik, führt zu einer Beschleunigung des Zwangs zur Reproduktion von Liquidität, bei der sich der Monat als Intervall der Periodisierung etabliert hat. Nun müssen jeden Monat die gleichen Rechnungen gezahlt und das Geld dafür muss beschafft werden.
Im Gegensatz zur Ware ist durch die temporale Limitationalität des Zugriffs Z und dem Ausschluss beim Ausbleiben der Zahlung G eine höhere Integration des Einzelnen in die Ökonomie vollzogen, das heißt ein höherer Zwang zur Reproduktion von Liquidität instituiert. Genauso, wie die auf T limitierte Ausnutzung bspw. im Kredit, entsteht Z+T mit dem Beginn einer an kapitalistischen Praktiken motivierten Seefahrt, also im Moment eines sich globalisierenden Handelskapitalismus. Die Digitalökonomie radikalisiert das Prinzip durch technologische und verbreitungsmediale Koordination von Aneignungsmodalitäten: Airbnb, Uber, Spotify, Mobike, Nitrado usw. usf.
Wenn X=W ist, dann handelt es sich um eine Kopplung an Warenproduktion. Durch die Metamorphose G-W-G′ kann Profit erheischt werden, indem Waren gekauft und zu einem höheren Preis verkauft werden oder indem in die erste Metamorphose K+T durch Produktion von Ware in den Kalkül eingespeist wird. Im Falle der Kombination K+T exponiert der Kalkül die Zeitdifferenz allerdings, wohingegen W sich insofern entzeitlichen kann, wie die Ware selbst eine materielle Stabilität entwickelt. K+T der Produktion in Form …P… entzieht sich dem Moment der Veräußerung, sodass die Transformation G-W-G′ keinen Verweischarakter auf K+T beinhaltet. K+T stellt sich als konstitutives Außen der Transaktion ein. Entsprechend abstrahiert die Ware von ihrer Produktion und kann in ihrer ästhetischen Form entzeitlicht wirken: Warenfetisch.
Die Form G-W-G′ enthält vorerst den Handelskapitalismus und kann unter der Überbrückung räumlicher Distanz Profit erzielen. Hier wird Ware als Ding relevant, sodass über die Aneignung materiellen Habens Zugriff verstetigt wird, der aber nicht dazu dient, ihn zu behalten, sondern, sobald G′ realisiert werden kann, ihn auf einen Käufer zu übertragen. K+T fließt in den Transport, nicht in die Produktion. Der Industriekapitalismus schaltet K+T in der Produktion der Ware vor, um dann einen Profit zu erwirtschaften. Aber gerade weil Arbeitskraft keine verdinglichte Ware ist, muss die Temporalität der Aneignung von ihr über Kommandogewalt mittels Organisation koordiniert und kontrolliert werden. Arbeitskraft wird zum Verwaltungs-, Kontroll- und Instruktionsproblem.
Entsprechend ist, wenn X=K ist, immer T, die zeitliche Limitierung der Kommandogewalt für die Dauer der Produktion für die kapitalistische Lohnarbeit relevant. Ist das Lohnarbeitsverhältnis K+T eine Innovation kapitalistischer Produktionsweise, so ist K schon in protokapitalistischen, wie innerhalb der Hanse, sowie präkapitalistischen Produktionsformen, wie der Sklaverei im Oikos, als Totalintegrationen vorzufinden.
Wenn X=S ist und S für Symbol steht, dann kann es sich um ein enrichissement handeln. Das heißt, dass eine dinghafte Ware, aber auch Immaterielles, wie die Marke einer Touristendestination, durch ein Konglomerat aus symbolischen Versatzstücken, amalgamiert durch ein Narrativ, angereichert wird. Für Boltanski und Esquerre handelt es sich um eine epochale Umstellung, bei der Werte durch narrative Anreicherung, nicht durch Gebrauchswert einer Standardform, gewonnen wird. Aber so neu ist die Form des enrichissement nicht. Schon der Handelskapitalismus, später die Kolonialwaren, reicherten den Gebrauchswert mit einem Distinktionswert an, der Luxuswaren über ein Narrativ konstituierte. Die Handelskompanien wie Levant Company, später Vereenigde Oostindische Compagnie und East India Company restabilisierten ihre Rentabilität gerade über Luxuswaren, wie Gewürze, die eben nicht nur das Essen schmackhafter machten, sondern im besonderen Maße auf eine jenseitige Welt verwiesen, und damit den eigenen Lebensstil, den Habitus, nicht nur bestätigten, sondern rekonstituierten.
Wenn X=G ist, dann wird über die Preisdifferenz von Währungen Profit angeeignet. Für Währungsspekulation müssen jedoch Währungen stabilisiert sein. Insofern handelt sich um eine Form, die erst in dem Moment aufkommt, in dem Währungen über Nationalstaaten abgesichert werden. Eine kapitalistische Aneignung kann durch den Tausch in eine andere Währung, dann gewonnen werden, wenn geschickt über die Vermittlung weiterer Währungen in die Ursprungswährung zurück getauscht wurde, und unter Inanspruchnahme temporaler Differenz ein höherer Betrag erlangt ist. Hier wird die Volatilität der Währung ausgenutzt, um Profit zu generieren. Auch hier spielt, wie bei T und Z+T, Haben in Form eines Zugriffs auf Materialität im Sinne von Dinghaftigkeit keine nennenswerte Rolle, um Profit zu generieren.
IV Sequenzialität statt Zirkularität
Wenn das Schema G-W-G′ eine spezifische Form der Aneignung zur Profitgenerierung darstellt und das Schema in G-X-G′ überführt werden soll, stellt sich die Frage der Reproduktion des Schemas anders als sie in der Tradition des 19. Jahrhunderts beantwortet wurde. Marx setzt noch auf die Zirkulation, also auf den Kreislauf. Ist G-W-G′ prozessiert, schließt sich der Kreis, indem G′ erneut beginnt, in W zu investieren. Der Vorschlag W durch X zu ersetzten, setzt jedoch sogleich die Zirkulationsvorstellung unter Druck. Denn sobald X variabel ist, ist es wahrscheinlich, dass das gewonnene G′, welches immer ein Betrag ist, der beliebig aufgespalten werden kann, nicht nur in eine Variable investiert wird. Das heißt, das Bild der Zirkulation könnte nicht mehr die Möglichkeiten der Verzweigungen abbilden. G-X-G′ als Zirkel reduzierte zu stark und würde gleichsam den durch die Variabilisierung errungenen theoretischen Vorteil innerhalb der Zirkulationsvorstellung verspielen.
Statt Zirkulation, statt eines Kreislaufs, der sich an der ewigen Wiederkehr von G-W-G schließt, ist die Vorstellung, wenn auch schon auf die Semantik der DNA und damit in die Ideologie des 21. Jahrhunderts fest eingeschrieben, von einer endlosen Sequenz vielversprechender.
Stabil, dass macht ein operationale Schließung des Ökonomischen aus, ist die Reproduktion von G in der Sequenz, also die Reproduktion von Zahlungen. Die Basisform der Sequenz ist endlos, ihr Anfang nicht bestimmbar, ihr Ende nicht absehbar, in …-G-X-G-X-G-X-G-X-G-X-G-X-G… kondensiert. An G spaltet sich die Sequenz kontingent auf. Die Aneignung von X ist kontingent und multimodal. Kontingent ist sie, weil an G nicht nur W, sondern auch Z, T, G, S oder K anschließen können. Multimodal ist sie, weil G in Abhängigkeit zu den realisierten Beträgen sich in die differenten Variablen, für die X stehen kann, in der nächsten Operation aufspaltet. Ein Teil wird in G, ein Teil in K+T, ein Teil in W usw. investiert. Die Sequenz verschränkt sich mit anderen Sequenzen.
In der Kreislaufvorstellung realisiert sich ein Doppelkreislauf mit jeweils entgegengesetzter Zirkulationsrichtung durch die Spiegelung von G-W-G in W-G-W. Für die Sequenzvorstellung, und das ist entscheidend, ist das Bild der Spiegelung ausgeschlossen, weil es davon ausginge, dass sich zwei spezifische Sequenzen aneinander synchronisierten. Der Exchange zwischen den Sequenzen relationiert nicht in dem Sinne, dass er die beiden Sequenzen miteinander verschränkt, denn der Exchange simultanisiert das Ereignis der Transformation von G-X mit der Transformation X-G nur situativ in der jeweiligen Transaktion, ohne die Sequenz dauerhaft binden zu können. In der nächsten Transaktion lösen sich die Sequenzen voneinander und binden sich für ein nächstes Exchangeereignis an eine andere Sequenz. Beide vollziehen sich zeitgleich, sodass sie nicht sequenzialisiert werden können. Die im konkreten Ereignis an ihrer jeweiligen Inversion synchronisierten Sequenzen operieren parallel, wodurch trotz Sequenzialität eine permanente Simultaneität ökonomischer Operabilität gegeben ist.
Das heißt, für das Ereignis synchronisieren sich zwei Sequenzen aneinander und fallen im nächsten Ereignis der Sequenz wieder auseinander, weil sie sich schon wieder an andere Sequenzen binden. Lose Kopplung entsteht durch Exchange zwischen G und X, ohne, dass die Folgepositionen der jeweiligen Sequenz durch den Exchange determiniert wären.
Das ist relevant, weil dann kein historischer Zusammenhang zwischen den Sequenzen aufgebaut werden kann. Ein Zusammenhang der Sequenz wird erst durch Beobachtung durch Organisation möglich. Sie kann die Abfolge von Sequenzereignissen rekonstruieren, die sie selbst initiiert hat, und durch Programmierung weitere Ereignisse der Sequenz instruieren. Partiell, auf ihre Sequenz eingeschränkt, kann sie beobachten, ob sie im Sinne von G-X-G′ oder im Sinne von X-G-X ihre Sequenz vollzogen hat. Das heißt, dass sowohl kapitalistische Praktiken, als auch davon abweichende Praktiken simultanisiert sein können. Das heißt auch, dass jeweils nur die eigenen Sequenzen beobachtbar sind und die anderen Sequenzen sich der Beobachtung entziehen.
Eine Dominanz der kapitalistischen Praxis resultiert dann nicht durch Auslöschung alternativen Praktiken. Die Dominanz resultiert daraus, dass Profit mehr zukünftige Zahlungsmöglichkeiten generiert, durch die sich die Sequenz an G stärker mit anderen Sequenzen verschränken können wird. An G′ multiplizieren sich die Möglichkeiten darüber zu entscheiden, wie über die differenten Variablen von X G′ angeeignet werden kann. Sequenzen, die sich aus kapitalistischen Praktiken ergeben, steigern durch stetige Kapitalakkumulation ihre Multimodalität, sodass sie sich mit anderen Sequenzen im höheren Maße verschränken, als es für Sequenzen alternative Praktiken gilt. Sie brechen tendenziell ab. Sequenzen kapitalistischer Praktiken weisen durch ihren höheren Grad der Verschränkung eine größere Robustheit gegenüber dem Abbruch einzelner Sequenzen auf.
Dadurch, dass sich multimodale Verzweigungen von Sequenzen an G ergeben können, gewinnt die kapitalistische Organisation gleichsam eine Flexibilität, die darin liegt, die Sequenzen auszuweiten. Die Organisation der Reproduktion kapitalistischer Praktiken kann sich dadurch variabilisieren und ausdifferenzieren. Aus diesem Grund realisiert sich niemals eine reine Form der Kapitalakkumulation, selbst dann, wenn sich eine Organisation im Kerngeschäft an G-W-G′ reproduziert, denn es werden sich an G Verzweigungspunkte finden, an denen sich Sequenzen verschränken, bei denen W durch X variabilisiert ist. Folglich operiert der kapitalistische Kalkül polyvalent und ist multimodal verschränkt. Daraus erwächst seine Dynamik und Restabilisationsfähigkeit.
V Perpetuierung des kapitalistischen Kalküls
Und das wiederum bedeutet, dass die Profiterheischung nicht an ein materielles Haben gekoppelt sein muss, es aber dennoch hin und wieder ist. Sowohl Haben tritt als materielles Kondensat, als Abfallprodukt der Profiterheischung, auf und ist im Warenkonsum Sackgasse der spezifischen Sequenz. Weil die Sequenz aber mit anderen Sequenzen verschränkt ist, bricht mit dem Ende einer Sequenz nicht die kapitalistische Praxis zusammen. Würde sich die kapitalistische Praxis nur in der Zirkulation G-W-G′ reproduzieren, dann würde sie gleichsam synchron W-G-W vollziehen müssen. Die Sequenz W-G-W jedoch findet rasch ein Ende, weil ihr Zweck nicht Selbstzweck ist. Ihr Zweck ist der Erhalt von W. Mit der Erfüllung ihres Zwecks findet die Sequenz ihre Ende. Entsprechend verweist Robert Kurz darauf, dass der Kreislauf W-G-W kein Kreislauf sein kann. W wird nicht weitergegeben, sodass sich rasch eine Absatzkrise einstellte.
Gerade nicht W, weil Konsumption leicht zu befriedigen ist, ist der Motor kapitalistischer Praxis, sondern im besonderen Maße Z+T, allein schon weil die temporale Limitierung des Zugriffs nicht nur Liquidität im Moment einer initialisierenden Transaktion, die ein Haben bewirkt, benötigt, sondern sie in Permanenz gestellt wird. Die konkrete Verzeitlichung des Zugriffs erfordert ein stetige Beschaffung von Geld als Liquiditätsmittel. Liquidität muss dann permanent hergestellt werden. Kapitalismus perpetuiert sich dadurch als Selbstzweck.
Insofern, das ist das Resultat der hier angestellten Überlegung, ist Haben als materielles Kondensat bspw. in der Ware relevant für eine spezifische Aneignung der Differenz zwischen G und G′, aber nicht die alleinige kapitalistische Praxis. Sowohl historisch lassen sich verschieden Formen finden, die parallel zu G-W-G′ prozessieren, als auch analytisch lässt sich zeigen, dass sowohl T, K, Z, W, G, S Aneignungsformen sein können, durch die G in G′ transformierbar wird. Kapitalismus, er weist eine Kopplung ans Materielle auf, ist in seiner Reproduktion in gesteigerter Weise an das Immaterielle gekoppelt, reproduziert und perpetuiert sich an der Ausnutzung von Zeit. Über die zeitliche Limitierung von Zugriff, der nur durch Zahlung ermöglicht wird, verstetigt sich der Zwang Liquidität herzustellen.