von Maria Wölflingseder
Er soll zwar dem 200-Jahres-Regenten nicht die Show stehlen. Trotzdem ein kleiner Vorgeschmack anlässlich seines runden Geburtstags, der im nächsten Frühling gefeiert wird. In jener Stadt geboren, in der der Namensgeber der Lehre der Klassenlosen Gesellschaft sechs Jahre zuvor gestorben war, wuchs er in bitterer Not auf. Etliche Jahre verbrachte er in Armen- und Waisenhäusern und bereits als Kind mit Gelegenheitsarbeiten. Lesen und Schreiben hat er in den wenigen Schuljahren nur dürftig gelernt. Wenn die Rutenschläge auf ihn niederprasselten, schwor er sich, seinen Traumberuf zu ergreifen. Das ist ihm auf wundersame Weise gelungen. Er wurde nicht nur „der berühmteste Mann der Welt“ – wie Kurt Tucholsky ihn bezeichnete, sondern auch der unwiderstehlichste – so mein Prädikat.
Obwohl seine Berufsbezeichnungen ganz anders lauten, wurde in ihm allen voran der Philosoph, der Gesellschaftskritiker, der Revolutionär gesehen. Ja, ein wahres Genie! Aber selbst dieser Begriff greift zu kurz. – Auch bei seinen nicht musikalischen Tätigkeiten strahlt er „einen explosiven musikalischen Rhythmus“ (Claire Goll) aus. Als ihn Claude Debussy das erste Mal sah – da war er noch jung und unbekannt –, rief er ihn zu sich, um ihm seine Bewunderung auszudrücken: „Sie haben einen angeborenen Instinkt für Musik und Tanz. Sie sind ein wahrer Künstler.“
Viele haben über ihn geschrieben. Viele rätselten über sein „Geheimnis“. Schon allein die Vielfalt der Erkenntnisse zeigt, was er nicht alles verkörperte. Ja, er artikulierte sich lange Zeit ohne jegliche Worte, sondern ließ nur seinen Körper sprechen – ausdrucksstärker als es Worte vermögen! „Womit er das alles erreicht, ist völlig unbegreiflich. Manchmal nur mit einer kleinen Bewegung – er kann mit den Schultern weinen. … Und er bewegt sich nicht, und man hört ihn jeden Gedanken denken.“ (Tucholsky) In Windeseile eroberte er nicht nur die Herzen der Proletarier aller Länder, sondern auch jene der Reichen und Gebildeten, und natürlich die der Kinder. „Er hat eine Komik des Nichttuns entwickelt, die ganz ungeheuerlich ist. … und ganze Völkerschaften liegen unter dem Tisch“, bemerkte der bezauberte Tucholsky.
Nie habe ich die deutschsprachigen Intellektuellen der 1920er und -30er Jahre so verzückt erlebt, wie angesichts seiner Kunst! Was haben Brecht, Eisler, Benjamin, Adorno, Kracauer, Arendt, Kafka, Kisch, Polgar, Roth nicht alles in ihr gesehen.
Eine profunde Erklärung für die universelle Resonanz dieses kleinen, zarten, komischen Mannes mit den großen Augen gibt Siegfried Kracauer 1931. Er „vollbringt das Wunder, das Könige nicht mehr bewirken“. Er hat sich „in einem Jenseits der Politik“ behauptet. Ihm ist es gelungen, „an diesem schwer erreichbaren Ort seine Residenz aufgeschlagen zu haben und dennoch allen Menschen erreichbar zu sein“. Der Triumphator ist ein Habenichts, ein Heimatloser. „Dass ihm fehlt, was die anderen besitzen, ist aber eines der Geheimnisse seiner Macht. Religionsbekenntnis, Vaterland, Reichtum und Klassenzugehörigkeit setzen Unterschiede zwischen den Menschen, und nur der Ausgestoßene, der keinen Anteil an ihnen hat, lebt unabhängig von jeder Begrenzung. … Was bleibt noch übrig, wenn die Merkmale fortfallen, durch die sich die Menschen gemeinhin erst in bestimmte Menschen verwandeln. Übrig bliebt (bei ihm) der Mensch schlechthin, oder doch ein Mensch, wie er allerorten zu verwirklichen ist. … Denn nur, wenn die Attribute ausgeschieden sind, die den einen eignen und den andern nicht, kann der Mensch sichtbar werden, der eine Möglichkeit sämtlicher Menschen wäre. Vielleicht ist der eigentliche Grund für seinen Triumph: zum ersten Mal seit unvordenklicher Zeit wieder den bündigen Beweis erbracht zu haben, dass dieser Mensch kein Abstraktum ist, sondern leibhaftig unter uns umgeht.“
Die Rede ist von dem, den viele nur als Schauspieler wahrgenommen haben. Aber seine Bedeutung als erster wahrer Filmdichter, als Regisseur und als Komponist ist mindestens genauso hervorragend: Charlie Chaplin!
Trotz seiner tristen Kindheit und der schier aussichtslosen Zukunft spürte Chaplin, was er wollte. Als Fünfjähriger stand er das erste Mal auf der Bühne in einer „schmutzigen, widerwärtigen Kantine“, die hauptsächlich von Soldaten besucht wurde. Seiner Mutter, Sängerin und Tänzerin, versagte die Stimme beim Vortragen eines irischen Gassenhauers. Im lärmenden Durcheinander der Zuschauer hörte er, wie der Direktor vorschlug, ihn auf die Bühne zu schicken, da er seine kleinen Vorstellungen vor Mutters Freunden kannte. „Ich war noch nicht halb zu Ende, da regnete es schon Geld auf die Bühne. Ich hörte sofort auf und verkündete, ich wolle erst das Geld aufsammeln und dann weitersingen. Dies rief großes Gelächter hervor. … Als ich den Refrain wiederholte, imitierte ich in aller Unschuld, wie Mutters Stimme brach, und ich war überrascht über die Wirkung, die das bei den Zuschauern hatte. Es gab Gelächter und Beifall …“
Chaplins Eltern waren von Jugend an talentierte und erfolgreiche Music-Hall-Künstler in London. Die Mutter Sängerin und Tänzerin. Der Vater Sänger, der auch in den USA tourte. Von ihnen hat Chaplin offenbar seine hohe Musikalität geerbt. – Die Eltern trennten sich bereits, als Charlie ein Jahr alt war. Der Vater zahlte keinen Unterhalt, die Mutter gewann ihre Singstimme nicht mehr zurück und wurde später psychisch krank. Da von Entertainern damals erwartet wurde, das Publikum zum Trinken zu animieren, verfiel Chaplin senior dem Alkoholismus, an dem er 38-jährig starb. Trotz der deprimierenden Armut und des Hungers vermittelte die Mutter Charlie und seinem vier Jahre älteren Halbbruder Sidney das Gefühl, dass etwas „Einzigartiges“ in ihnen sei. Sie konnte wunderbar Geschichten erfinden und erzählen, und weckte sein Interesse für Theater und Gesang. Auch die Schule eröffnete ihm neue Horizonte, jedoch wurden ihm „Geschichte, Poesie, die Naturwissenschaften und Arithmetik“ zu langweilig und schlecht vermittelt. Aber bereits das Schreiben-Lernen seines Namens brachte eine neue Erkenntnis: Chaplin. Das Wort faszinierte mich und sah, wie ich fand, ganz aus wie ich.“
Seinen Vater hat Charlie selten gesehen. Aber wenn er anwesend war, dann „beobachtete ich ihn wie ein Habicht, und keine seiner Gesten entging mir“. Egal ob er seine zweite Familie zu Hause mit Varieté-Szenen überraschte oder einfach beim Essen. „Vater kam nach Hause und begrüßte uns freundlich. Er faszinierte mich. Bei den Mahlzeiten beobachtete ich jede seiner Bewegungen, wie er aß, wie er sein Messer wie einen Bleistift hielt, während er das Fleisch schnitt. Noch jahrelang habe ich ihn nachgeahmt.“
Diese Sätze in Chaplins Memoiren verweisen auf seine großartigste Fähigkeit. „Der Mensch muss eine unerhörte Beobachtungsgabe haben, ein stehlendes Auge. Er kann die Bewegungen aller Handwerke nachmachen. Einmal frisiert er den Kopf eines Bärenbettvorlegers: mit welch femininer Grazie und mit welch gelangweilter Selbstverständlichkeit er Kamm und Bürste handhabt und nach dem Schamponieren leicht und elegant und oberflächlich den nassen Kopf abtrocknet! Das zeigt die natürliche Komik dieses großen Künstlers. Wenn unsere Mimen auf der Bühne einen Handwerker nachmachen, dann sieht man, dass sie ihn niemals beobachtet haben: so klopft kein Schuster, so schreibt kein Schreiber, so bewegt sich kein Kutscher. Chaplin kennt sie alle.“ (Tucholsky) – Ja, er kennt sogar die Bewegungen eines Huhns, das er im Film „The Goldrush“ darstellt. „Es war der Unterschied zwischen einem Mann, der komische Szenen spielt, und einem, der sie durchlebt. Und dieser Unterschied wurde sichtbar in tausenderlei Finessen der Körperhaltung, der Gestikulation und des Gesichtsausdrucks. Diesem haaresbreiten Unterschied verdankt Chaplin den Triumph seiner Kunst.“ (Harvey O’Higgins)
Die unsterbliche Figur des Tramps mit den „Insignien“ unmöglicher Hose (in der auch ein Hund Platz hat), zu kleinem Sakko, zu großen Schuhen, kleiner Melone, Spazierstöckchen und Bärtchen ist zwar spontan entstanden, aber letztlich geht sie auf seine Beobachtungen im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurück. Auf die Beobachtung des kleinen Mannes, „der etwas auf sich hält“. Genau wie die anderen Gestalten: das schüchterne Mädchen, der dicke Kerl, der gerne Faustschläge austeilt, oder der feine Herr mit Zylinder. Chaplin wandelt sie in Archetypen. So blieb der Vergleich mit Moliere, Shaw und Shakespeare nicht aus.
Charlie Chaplin entblödete das Kino. Philippe Soupault gibt zu bedenken, wie schwierig es ist, jemanden zum Lachen zu bringen und „dass viele Formen, das zu erreichen von irritierender Grobschlächtigkeit sind. Man schämt sich manchmal, weil man gelacht hat. Chaplin erzwingt das Lachen, ohne dass man das jemals bedauern würde. Seine Komik, könnte man sagen, ist von höherem Wesen.“
Joseph Roth schreibt in seinem Artikel „Der Spaßmacher der Welt“: „Chaplin ist ein Poet, ein Romancier, ein Satiriker. Chaplin ist ein Anarchist. Er hasst die menschliche Gesellschaft und alle ihre Einrichtungen, vom Nudelbrett und Porzellanteller angefangen bis zur Polizei. Immer lehnt er sich auf: gegen die pietistische Kirche, gegen die Ehe mit einem rabiaten Weib, gegen die Reichen, gegen die Ordnung. Er stellt die göttliche Ordnung wieder her und der menschlichen gegenüber. Er revolutioniert. … Er ist immer geschlagen, demütig, er fällt von einer Niederlage in die andere. Er kann sich vor den Verfolgern kaum retten. Aber dass er sie zum Narren hält, dass er, ein Schwächling, die großen Riesenkerle schließlich besiegt: das ist der Sieg des Geistes über das Grobe. Der Sieg der Revolution über die Brutalität.“
Chaplins Kunst ist so einfach und gleichzeitig so tiefgründig. Deshalb erreichte sie Kinder und Erwachsene gleichermaßen. Und sie wurde überall ein wenig anders aufgenommen, ohne dass sie missinterpretiert worden wäre. In Russland weinten die Menschen bei manchen seiner Filme, während sie in England seinen Humor schätzten. In Deutschland waren sie vornehmlich an der intellektuellen Seite der Filme interessiert, und in Frankreich ernannten sie ihn gar zum Dadaisten.
Chaplin war auch der erste, der Tragisches und Komisches genial miteinander zu verbinden wusste. 1921 schuf er die erste sozialkritische Komödie „The Kid“, die ebenfalls von seiner Kindheit in London geprägt ist. – Über ein halbes Jahrhundert nach seinem Leben in größter Armut wird Chaplin unter vielen anderen von der „Société des Auteurs et Compositeurs Dramatique“ geehrt. Roger Ferdinand hebt in seiner Rede hervor, die Größe dieses Künstlers bestehe vor allem darin, den Erinnerungen seiner Kindheit treu geblieben zu sein: „Selbst wenn wir es nicht wüssten, könnten wir uns vorstellen, welchen Preis Sie für diese wunderbare Gabe bezahlt haben, fähig zu sein, uns zum Lachen und dann plötzlich zum Weinen zu bringen. Man kann vermuten oder, noch besser, wahrnehmen, durch welches Leid Sie selbst gegangen sein müssen, um fähig zu sein, all die kleinen Dinge darzustellen, die uns so tief berühren und die Sie aus Augenblicken des eigenen Lebens übernommen haben.“
Hans Siemsen, wohl der innigste Chaplin-Liebhaber unter den Publizisten seiner Zeit, verweist auf die Botschaft an die Unterdrückten zu Beginn des 20. Jahrhunderts: „Chaplin lehrt, dass man nichts ernst nehmen soll, nichts als die allereinfachsten menschlichen Dinge. Und dass man sich vor nichts fürchten soll, nicht vor den großen Bankgebäuden, nicht vor den Generalen und Unteroffizieren, nicht vor der Würde, nicht vor der Macht und nicht einmal vor dem schrecklichen, dicken Mann! Er lehrt die vollkommene, die radikale Respektlosigkeit. Gott segne ihn! Er ist ein Revolutionär.“
Auch Alfred Polgar gehörte zu den „Chaplin-Forschern“. Nach vielen Erkenntnissen kommt er jedoch zum Schluss: „Dass nämlich alles Gesagte, auch wenn es tausendmal richtiger und besser gesagt wäre, doch an das Geheimnis der Chaplin-Wirkung nicht rühren würde. Ganz gewiss liegen da die Dinge komplizierter, ganz gewiss auch liegen sie einfacher. Es ist ein Echtheits-Zeichen der Genialität, dass die kommentier-hungrigen Worte sie immer nur, in mehr oder minder engen Kreisen, ohnmächtige Raubvögel, umfliegen, aber nie in ihr Wesentliches stoßen können. Ließe sich das Phänomen Chaplin erklären, wäre es keines.“
So bleibt nur noch mit Tucholskys Vehemenz die Aufforderung: „Versäumen Sie nicht, ihn sich anzusehen. Sie lachen sich kaputt und werden ihm für dieses Lachen dankbar sein, solange Sie leben.“
Zur Verführung
Charles Chaplin: Die Geschichte meines Lebens, 1964
Wilfried Wiegand (Hg.): Über Chaplin, 1978, erw: 1989
Dorothee Kimmich (Hg.): Charlie Chaplin – Eine Ikone der Moderne, 2003
Til Radevagen (Hg.): Alte Welt, Neue Welt, Charlie Chaplin – Ein Hauch von Anarchie, 1989
David Robinson: Chaplin – Sein Leben, seine Kunst, 1989, 2017
Kevin Brownlow, David Gill: Der unbekannte Charlie Chaplin, DVD, 1983, 2012
Hans Siemsen: Charlie Chaplin, 1924
Patrick Roth: Besuch bei Chaplin, 2013