von Franz Schandl
Bei der Fülle an Demokratierettungsbüchern, muss es der Demokratie wohl wirklich schlecht gehen. Dass da etwas nicht richtig läuft, ist inzwischen Konsens. Doch was ist das genau? Immer noch wird so getan, als sei die Krise der Demokratie eine des demokratischen Betriebs und nicht eine des demokratischen Prinzips. Die herkömmliche Gläubigkeit kann solch einen Gedanken allerdings gar nicht fassen, er wäre reine Häresie. Folgen wir dem Autor, ist Abhilfe in Sicht, ja gar nicht so schwierig: das Schlecht-regiertwerden („mal-gouvernement“), das unsere Gesellschaften zerrüttet, sollte durch ein „gutes Regieren“ ersetzt werden. Das Demokratiedefizit sei beseitigbar, indem man von einer bloßen „Genehmigungsdemokratie“ zu einer „Betätigungsdemokratie“ fortschreitet. (S. 20) „Vertrauensdemokratie“ und „Aneignungsdemokratie“ heißen die weiteren neuen Zielvorgaben.
Allheilmittel ist einmal mehr die Demokratisierung. Der französische Historiker Pierre Rosanvallon, Vorsitzender des Think Tank République des Idées, spricht von einer zweiten „Demokratierevolution“. (S. 341ff.) Die Bürger sollen „auf kontinuierliche Weise an der Kontrolle der Regierenden beteiligt“ (S. 342) werden. Die banale Frage, die sich gar nicht stellen darf, ist freilich diese: Wollen die Leute tatsächlich betätigt werden? Ist das wirklich eines der Grundprobleme? Wird hier nicht das Partizipationsfieber maßlos überschätzt?
Abermals werden „Integrität und Wahrsprechen“ (S. 21) eingefordert. Indes, wenn Demokraten gewählt werden wollen, müssen sie sich bewerben. Doch Reklame ist nicht integer und wahr, sondern indiskret und aufdringlich, ein verführerisches Versprechen, das geglaubt werden will. Schon Immanuel Kant hat auf diese eigentümliche Doppelbödigkeit der modernen Politik hingewiesen, und auch Rosanvallon zitiert Denker, die Ähnliches vertreten, etwa Gabriel Naudé, der bereits Ende des 17. Jahrhundert festhielt: „Wer sich nicht wohl verstellen kann, der kann auch nicht wohl herrschen.“ (S. 171) Die (frühen) Machiavellisten waren oft um vieles weiser und auch ehrlicher als die heutigen Gesinnungsdemokraten. Die kleistern vieles zu, verwechseln oftmals Apologetik mit Kritik.
Was hier zu reflektieren wäre, das ist das Wechselspiel von Täuschung und Enttäuschung, das die Politik (und zwar immer stärker) beherrscht. Was die Leute also einerseits satt haben, von dem kriegen sie andererseits nicht genug. Die Klamotte, wo auf der einen Seite die guten Bürger und auf der anderen schlechte Regierungen stehen, kann nur durch einen idealistischen Zerrspiegel so wahrgenommen werden. Die Bürger sind um keinen Deut besser als die Repräsentanten, die sie hervorbringen und sich gefallen lassen. Ab und an muss man sogar umgekehrt die Abgehobenheit der Regierenden loben.
Befangen in der Welt der politischen Form, vergisst Rosanvallon das gesellschaftliche Umfeld. Die Durchsetzung der Nazis wird ganz eng politizistisch gedeutet: „Dieser Umschwung resultierte aus einer Konzentration aller Gewalten durch die Exekutive und ihre extreme Personalisierung.“ (S. 116) Als hätte eine andere Verfassung, als hätten mehr Legislative und Bürokratie den Nationalsozialismus verhindert. Die zweite demokratische Revolution durch „Wachsamkeitsorganisationen“ (S. 346) zu fördern und dem Populismus mit einer „Behörde für demokratische Debatten“ (S. 268) zu begegnen, klingt weniger verwegen als grotesk. Populismus ist primär keine Frage der politischen Kommunikation und des Umgangsstils, sondern eine der gesellschaftlichen Konstellationen. Kein Demokratiemanagement wird solche Probleme auscoachen.
Manchmal wird es richtig hanebüchen: „Integer ist jene Person, die sich ganz auf die Sache konzentriert, die in ihrem Amt aufgeht, sich völlig mit ihm identifiziert und keinen persönlich Nutzen daraus zieht. (…) ‚Gute‘ Repräsentation bedeutet nunmehr, auf den Mann oder die Frau von der Straße Rücksicht zu nehmen. Von den Repräsentanten und Regierenden wird mittlerweile erwartet, dass sie über das Bekunden von Anteilnahme wie ihre Mitbürger leben“. (S. 318) Auch die obligate Beschwerde über „Karrieristen und Apparatschiks“ (S. 289) darf da nicht fehlen. Sie ist jedoch hohl. Strukturierte und komplexe Apparate samt Personal sind heutzutage notwendig, um überhaupt noch Effektivität zu erzielen und Relevanz zu gewährleisten. Die Karriere wiederum ist Leitprinzip der bürgerlichen Konkurrenzsubjekte. Karrieren zu protegieren, aber keine Karrieristen zu wollen, ist absurd. Es wird doch nicht sein, dass immer bloß die anderen die Karrieristen sind.
Auch der eherne Zusammenhang von Demokratie und Bürokratie bleibt ausgespart. Partizipation und Transparenz erschlagen Effektivität und Potenz des öfteren. Je mehr Demokratie, desto mehr Bürokratie. Damit ist nicht gesagt, dass auf die beiden erstgenannten verzichtet werden soll, aber entscheidend ist immer wie austariert wird, damit die Vorhaben nicht in ihren Resultaten verunglücken und am Ende alle unzufrieden sind.
„Es gibt heute keine demokratische Theorie des staatlichen Handelns.“ (S. 167) Was das? Zwar gibt es Theorien der Demokratie, aber gibt es demokratische Theorien? Auch Demokratietheoretiker sind Theoretiker der Demokratie und nicht demokratische Theoretiker geschweige denn theoretische Demokraten. Irgendetwas passt da nicht, da ist einiges unsauber in den Kategorien. Dünn ist das theoretische Gerüst, üppig das Material, das an ihm hängt. Oft hat man das Gefühl, es gehe vorrangig um verwaltungstechnische Justierungen und pragmatische Finessen. So liest sich der Band wie eine detaillierte Reparaturanleitung, unermüdliche Staatsbürgerkunde in akademischer Überlänge. Es ist ein sehr dozierendes Buch, mit dem man nicht und nicht fertig wird.
Fesselnd wird die Lektüre nie, interessant gelegentlich. Natürlich können wir auch einiges lernen. Dass Begriffe wie Wirtschaftspolitik, Lohnpolitik, Preispolitik laut Rosanvallon allesamt erst ungefähr 100 Jahre alt sind, sollte nicht überraschen. Sie verdeutlichen die engmaschige Verwobenheit von Markt und Staat in der bürgerlichen Moderne. Die neueste Sprachverordnung diesbezüglich hat übrigens den Terminus „Demokratiepolitik“ kreiert, der hauptsächlich adjektivisch („demokratiepolitisch“) verwendet wird. Der dürfte keine zehn Jahre alt sein, darf aber inzwischen in keiner politischen, medialen und wissenschaftlichen Ansage mehr fehlen.
Pierre Rosanvallon, Die gute Regierung. Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt, Hamburger Edition, Hamburg 2016, 376 Seiten, geb. € 35,90