von Tomasz Konicz
Was für ein kometenhafter Aufstieg für ein erst kürzlich erfundenes Adjektiv! Vor wenigen Jahren war das Retortenwort „postfaktisch“ de facto unbekannt. Der deutschen Öffentlichkeit wurde es erst im Herbst dieses Jahres von Kanzlerin Angel Merkel nahe gebracht, als sie in Reaktion auf die Wahlen in Berlin von „postfaktischen Zeiten“ sprach, wie die FAZ erläuterte[1].
Kurz darauf wählte die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) „postfaktisch“ zum Wort des Jahres 2016[2]. Damit schlossen sich die deutschen Sprachforscher der Entscheidung ihrer englischsprachigen Kollegen von den Oxford Dictionaries an, die kurz zuvor die englische Entsprechung „post truth“ zum Word of the Year 2016 wählten. Entstanden ist das Wort erst im März 2016, als sich die Harvard-Historikerin Jill Lepore Gedanken[3] machte über den aktuellen Aufstieg des Rechtspopulismus, dessen Anhängerschaft bekanntlich ein eher lockeres Verhältnis zu Fakten pflegt.
Das Adjektiv, das sich in den sozialen Netzwerken wie ein Lauffeuer verbreitete, scheint tatsächlich den Nerv der Zeit zu treffen. Die GfdS wolle damit auf einen „tiefgreifenden politischen Wandel“ aufmerksam machen, der dazu führe, dass bei öffentlichen Diskussionen inzwischen Emotionen die Fakten verdrängten. „Immer größere Bevölkerungsschichten sind in ihrem Widerwillen gegen ‚die da oben‘ bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen bereitwillig zu akzeptieren“, hieß es in der Begründung der GfdS.
Das Wort des Jahres 2016 markiert somit auch eine ideologische Frontstellung: Hier die ewigen, unumstößlichen Fakten von Aufklärung und Demokratie, die oftmals – in Gestalt der Sachzwänge – unangenehm seien, da die Irrationalität und die Lügen der Rechtspopulisten und ihres emotionsgeladenen Hassschwarms im Internet. Seiner Genese im akademischen Überbau gemäß, assoziiert der Begriff die ewigen, harten Fakten mit „denen da Oben“, also mit den kapitalistischen Funktionseliten in Politik, Wissenschaft, Medien und Wirtschaft, während die Irrationalität dem ungebildeten Fußvolk zugeschrieben wird.
Die „Hüter des Rationalismus“ im Gegenwind
In Vollendung hat die Wochenzeitung Die Zeit diese Aufklärungsideologie entfaltet, als sie sich in einem längeren Beitrag[4] mit dem Adjektiv „postfaktisch“ auseinanderzusetzen versuchte. Das abgetakelte Flaggschiff des vom Aussterben bedrohten deutschen Bildungsbürgertums paradierte dabei das ganze Elend der – zur reinen Chimäre verkommenen – spätkapitalistischen Aufklärungsideologie samt ihres hohlen Glaubens an eine kapitalistische Demokratie.
Ausgehend vom postmodernen Zeitgeist, wonach es keine objektive gesellschaftliche Wahrheit gebe, sondern diese in freien Gesellschaften „erstritten und ausgehandelt werden“ müsse, wird hier Wahrheit zur Ansichtssache deklariert, die im Endeffekt auf dem (medialen) Markt der Meinungen gehandelt wird. Basis des „Aushandelns“ von Wahrheit sei laut Zeit die Aufklärungsvernunft:
Seit Descartes versucht hat, logisch zu beweisen, dass er selbst existierte, anstatt sich einfach auf das Wort der Kirche zu verlassen, hatte sich außerhalb totalitärer Staaten ein gewisser Konsens durchgesetzt: Wir halten für wahr, was sich belegen lässt. Weil er nachweisen kann, dass die Erde rund ist, hätte Galileo Galilei heute keinen Prozess mehr zu befürchten.
Die Zeit
Dieser Konsens sei nun aufgekündigt worden, man habe „das Zeitalter faktischer Begründungen als Triebfeder unseres Handelns“ hinter sich gelassen. Die „Hüter des Rationalismus“ (in den Redaktionsstuben der Zeit?) seien „im Jahr 18 nach Google“ diskreditiert, Unwahrheit stehe gleichberechtigt neben Wahrheit, Glauben neben Wissen. Dieses Lamento über den internetbedingten Verlust der Geschäftsgrundlage der bürgerlichen Presse mündet in ein von anachronistischer Aufklärungsromantik triefendes, pessimistisches Fazit: „Die moderne Demokratie als ultimatives aufklärerisches Gesellschaftsprojekt, als einzige Regierungsform, die den Fortschritt für wichtiger hält als den Machterhalt, sieht einer ungewissen Zukunft entgegen.“
Zudem seinen auch die „Anhänger des Totalitarismus“ dazu übergegangen, ihre demokratischen Gegner als „postfaktisch“ zu bezeichnen, lamentierte die Zeit. Das Adjektiv, das zuvor eine gesellschaftliche Entwicklung beschrieb, bedeute inzwischen nichts weiter als: nicht den Fakten entsprechend. Hierfür hätten sich aber bereits die Wörter „falsch“ oder „unwahr“ bewährt.
Und tatsächlich war es ja zuerst der Rechtspopulismus, der zumindest in Deutschland für sich in Anspruch nahm, „unbequeme Wahrheiten“[5] anzusprechen und die Fakten beim Namen zu nennen. Insbesondere der irre Urknall der neusten deutschen Rechten, der sozialdemokratische Salonrassist Thilo Sarrazin, warf sich in die Pose des gegen Tabus ankämpfenden Aufklärers, als er seinen sozialdarwinistischen und rassistischen Gedankenmüll so überaus erfolgreich vermarktete – und etwa Sozialhilfeempfänger und Muslime für genetisch minderwertig brandmarkte[6].
Beide Seiten, die spätkapitalistischen Funktionseliten in den Massenmedien wie ihr durchgeknallter Internetschwarm in den sozialen Netzwerken, berufen sich somit auf die Vernunft, auf Fakten, Fakten, Fakten – um mal einen berühmten Journalistendarsteller zu zitieren[7]. Folglich sind die Unterschiede zwischen diesem rechtsextremen Internetmob und den – ihren Kontrollverlust beklagenden – Akteuren in der Kulturindustrie nur graduell. Denn auch die neoliberalen „Fakten“ der demokratischen Sittenwächter der Zeit scheinen nicht viel erbaulicher zu sein als die „unbequemen Wahrheiten“ des Sozialdarwinisten Thilo Sarrazin.
Die Zeit hat in ihrem Bericht brav Beispiele für typisch postfaktisches Agieren populistischer Bewegungen aufgeführt, unter denen auch folgendes „faktenwidriges“ Verhalten angeprangert wird:
„In Großbritannien konnte die Brexit-Kampagne ein Referendum gewinnen, obwohl sämtliche ökonomischen Institute erklärten, dass der Brexit dem Land erheblich schaden würde.“
Diese von der Zeit hier aufgeführte Realsatire, wonach „ökonomische Institute“ zu einem Hort der Aufklärungsvernunft geadelt werden, ist Folge des relativistischen Wahrheitsbegriffes, der dem spätkapitalistischen Zeitgeist innewohnt. Zur Erinnerung: Wahrheit ist die Folge eines – auf Aufklärungsvernunft basierenden – öffentlichen „Aushandelns“. Und ökonomische Institute besitzen nun mal eine große Handelsmacht auf dem Meinungsmarkt.
Bereits an diesem konkreten Beispiel schlägt die von der Zeit paradierte Aufklärungsvernunft – krisenbedingt – in Mythologie, in blinden Marktglauben um. Das, was sämtliche „ökonomischen Institute“ in den letzten Dekaden als Fakten verkaufen, ernst zu nehmen, heiße, sich vollends im postfaktischen Ideologiedschungel zu verlieren. Demnach müssten beispielsweise „sämtliche ökonomischen Institute“ vor 2008 die Öffentlichkeit beständig vor den drohenden Immobilienblasen in den USA und Amerika[8] gewarnt haben.
Dieses Paradebeispiel für die ideologische Verschränkung von Mainstream und Extremismus, das dankenswerterweise ein überangepasster Zeitschreiber fabrizierte, verweist auf die gemeinsame Grundlage beider spätkapitalistischen Ideologieströmungen: auf das verdinglichte Bewusstsein, das sowohl dem Neoliberalismus wie dem Rechtsextremismus innewohnt – und das gerade solche Wortmonster wie postfaktisch fabriziert.
Schon Adorno verwies in seiner berühmten Schrift „Erziehung nach Auschwitz“ darauf, dass die lückenlose kapitalistische Vergesellschaftung ein „verdinglichtes Bewusstsein“ hervorbringe, das letztendlich den innersten Kern rechtsextremer, potenziell eliminatorischer Ideologiebildung darstelle. Das verdinglichte Bewusstsein sei „vor allem eines, das gegen alles Geworden-Sein, gegen alle Einsicht in die eigene Bedingtheit sich abblendet und das, was so ist, absolut setzt“. Träger des verdinglichten Bewusstseins halten ihre Identität, ihr „So-Sein – dass man so ist und nicht anders – fälschlich für Natur, für ein unabänderlich Gegebenes“, anstatt es als ein durch Sozialisation „Gewordenes“ zu begreifen.
Ich bin, es ist – das ist das Mantra des verdinglichten Bewusstseins. Bewegung im Kapitalismus wird als bloßes Oberflächenphänomen wahrgenommen. Laut dem verdinglichten Bewusstsein ändere sich im Kapitalismus alles nur deswegen, damit alles bleiben könne, wie es ist – wie es schon immer war. Gerade dieses kapitalistisch verstümmelte Denken in Dingen, das sich abschirmt gegen die Wahrnehmung von sozialen Prozessen, Entwicklungen, Widersprüchen und der eigenen wie der historischen Bedingtheit der kapitalistischen Gesellschaft, bildet die basale Grundlage des spätkapitalistischen öffentlichen Diskurses.
Deswegen beklagt ja die Zeit selber, dass postfaktisch inzwischen nichts weiter als „falsch“ bedeute, die Beschreibung einer gesellschaftlichen Veränderung, eines Prozesses somit dem Wort abhandengekommen sei. Das Adjektiv postfaktisch ist binnen weniger Monate dem Prozess der Verdinglichung erlegen. Und es ist selber ein Produkt der Verdinglichung.
Das Wort ist bereits Ausdruck eines verdinglichten Bewusstseins, das nur noch in Fakten, und nicht mehr in Zusammenhängen/Prozessen denkt. Letztendlich kritisiert mit dem Begriff postfaktisch, der immer wieder mit dem Internetschwarm der neuen Rechten in Zusammenhang gebracht wird, die herrschende neoliberale Ideologie die eigenen – quasi schon postideologischen – Zerfallsformen in verkürzter Weise. Beiden ideologischen Strömungen, Neoliberalismus wie Rechtspopulismus, sind folglich nicht in der Lage, sich als Produkte desselben ideologischen wie gesellschaftlichen Zerfallsprozesses zu begreifen. Der Neoliberalismus war ja historisch tatsächlich die Brutstätte der neuen Rechten[9].
Dieses Denken in isolierten und verdinglichten Fakten, das Zusammenhänge und historische Entwicklungen verdrängt, ist längst hegemonial. Es ist ein eindimensionales Günter-Jauch-Denken. Ein Millionenpublikum hält die Beantwortung von Faktenfrage in der Quizsendung „Wer wird Millionär“ für der Weisheit letzten Schluss. Und es sind gerade die zu Dingen erstarrten Fakten, die – losgelöst von ihrem sozialen und historischen Kontext – der ideologischen Instrumentalisierung offenstehen. Das Adjektiv postfaktisch ist in sich selbst widersprüchlich: Hier beklagt gerade das verdinglichte Bewusstsein unbewusst diese ihm innewohnende Tendenz zur ideologischen Instrumentalisierung verdinglichter Fakten.
Dies gilt einerseits für die neoliberalen „Sachzwänge“ und den korrespondierenden Sachzwangdiskurs, mit denen etwa die Agenda 2010[10] durchgesetzt wurde – und die nur bei Ausblendung der Widersprüche, Krisenprozesse und der historischen Bedingtheit des Kapitalismus als solche wahrgenommen werden können. Zwänge, die von „Sachen“, von Dingen, verursacht werden – auch dies ist ein Paradebeispiel für eine Sprache der Verdinglichung, die ja nur auf den realen Fetischismus der kapitalistischen Gesellschaft verweist.
Und selbstverständlich hat auch Sarrazin in der 2010 ausgebrochenen Sarrazin-Debatte[11] die durch diese Agenda-Politik ausgelöste Prekarisierung und Pauperisierung breiter Bevölkerungsschichten als ein Ding, als ein Faktum wahrgenommen – und nicht etwa als Folge eines durch innerkapitalistische Widersprüche angetriebenen gesellschaftlichen Prozesses der sozialen Exklusion. Um dieses – aus dem sozialen und historischen Kontext herausgelöste – Faktum einer wachsenden Unterschicht in Deutschland bildete sich, vermittels der Sarrazin-Debatte, ein Morast aus sozialdarwinistischer und rassistischer Ideologie, der als Initialzündung der neuen deutschen Rechte diente.
Vollauf verständlich wird die Genese des verdinglichten Bewusstseins aber nur bei gleichzeitiger Reflexion des fetischistischen Charakters kapitalistischer Vergesellschaftung und der gesamtgesellschaftlichen Funktion des Kapitals als automatisches Subjekt, das zwar von den konkurrierenden Marktsubjekten alltäglich buchstäblich erarbeitet wird, aber marktvermittelt „hinter dem Rücken der Produzenten“ (Marx) eine Eigendynamik entwickelt und diesen als eine äußerliche und fremde Macht in der Form krisenbedingt zunehmender Sachzwänge, Marktvorgaben, Verwerfungen und Widersprüche entgegentritt.
Diesem allgegenwärtigen Gefühl der Heteronomie, der „Fremdbestimmung“, entspringen gerade die ganzen gegenwärtig blühenden Verschwörungsideologien, die im Antisemitismus kulminieren. Adorno deutet dies zumindest an, indem er bemerkt, dass der Typus des verdinglichten Bewusstseins „sich selber gewissermaßen den Dingen gleichmacht“, um hiernach nach Möglichkeit „die Anderen“ den Dingen gleichzumachen.
Was hier aufscheint, ist die absurde Stellung des Marktsubjekts innerhalb des Automatismus der Kapitalverwertung. Das Kapital als automatisches Subjekt macht die Menschen einerseits zu Objekten seiner Verwertungsbewegung, zu Dingen, zu Waren, die auf dem Arbeitsmarkt gehandelt werden – und die sich dieser vermittelten Form der subjektlosen Herrschaft wie einem menschengemachten Naturgesetz mit einem unterschwelligen Gefühl von Ohnmacht anzupassen haben. Zugleich besteht die einzige Chance, noch eine schale Imitation von Subjektivität auszuleben, darin, dass man als ökonomische Charaktermaske (Marx) daran mitwirkt, diesen Automatismus uferloser Kapitalverwertung „subjektiv“ zu perfektionieren – und hierbei wiederum „die Anderen“ zu Objekten degradiert und „den Dingen gleichmacht“.
Innerhalb des nur zu realen Fetischismus, den das automatische Subjekt perpetuiert, sind die Insassen der kapitalistischen Tretmühle immer beides zugleich: Subjekt der Akkumulation und deren ohnmächtiges Objekt. Alle Insassen der globalen kapitalistischen Tretmühle fungieren als Subjekt-Objekte der verselbstständigten Verwertungsbewegung, die sie selber perpetuieren, wobei das konkrete Verhältnis zwischen diesen beiden Polen von der konkreten hierarchischen Stellung im Reproduktionsprozess des Kapitals abhängt.
Die menschliche Geschichte ist somit eine Geschichte von Fetischverhältnissen. Die Menschen bringen selber als Gesellschaftssubjekte unbewusst eine gesamtgesellschaftliche Dynamik hervor, die ihnen als ein fremdartiges „Ding“ erscheint. Früher in die Form des Götterglaubens gekleidet, artikuliert sich nun der durch die Aufklärung säkularisierte Fetischismus im verdinglichten Bewusstsein mit seinem „Sachzwängen“. Dies ist das historische Ergebnis einer verkürzten Aufklärung samt ihrer instrumentellen Vernunft, die sie hervorbrachte: einer Vernunft, die selbst die monströsesten Zwecke mittels rationeller Mittel zu verfolgen trachtet. Erst die Überwindung dieses reellen gesellschaftlichen Fetischismus – und somit die bewusste Verständigung der Gesellschaft über Form und Inhalt ihrer Reproduktion – würde die Verdinglichung des Bewusstseins überwinden und dem Rechtsextremismus den Nährboden entziehen.
Die kritische Theorie hat das Umschlagen der bürgerlichen Aufklärung in Mythos – unter Eindruck des von Nazideutschland begangenen Zivilisationsbruchs – in der berühmten „Dialektik der Aufklärung“ thematisiert, wie schon deren Einleitungssatz klarmacht:
Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.
Und dies ist eben die große Leerstelle, ja eigentlich die Lüge der Aufklärungsvernunft, die in den Massenbetrug der Kulturindustrie führte – und die insbesondere in Krisenzeiten Aufklärung in Mythos umschlagen lässt: Die Menschen sind nicht die „Herren“ ihres eignen gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses. Die Aufklärung gab vor, den Menschen ihr eigenes Schicksal in die Hände geben zu können – und zugleich steigerte die rationell immer dichter verwaltete kapitalistische One World das Gefühl der Ohnmacht, der Heteronomie ins unermeßliche.
Die kapitalistische, rein instrumentelle Zweckrationalität, deren sich die für diese Zusammenhänge blinde – und daher ideologisch verkürzte – Aufklärungsvernunft rühmt, dient auf gesamtgesellschaftlicher Ebene einem irrationalen, fetischistischen und in sich widersprüchlichen Selbstzweck: der uferlosen Akkumulation von Kapital, die vermittels der Verwertung von Arbeitskraft in der Warenproduktion realisiert wird. Doch zugleich ist das Kapital bestrebt, diese seine Substanz – die wertbildende Arbeit – durch konkurrenz- und marktvermittelte Rationalisierungsmaßnahmen aus dem Produktionsprozess zu verdrängen. Diese widerspruchserzeugende Eigendynamik macht den Kapitalismus, der sich erst vor rund 300 Jahren auf breiter Front durchsetzte, zu einer historisch kurzlebigen und äußerst instabilen Gesellschaftsformation.
Fakten schaffen durch Personifizierung von Krisenursachen
Gewissermaßen muss das Kapitalverhältnis vor diesem inneren Widerspruch in immer neue Expansionsschübe fliehen, neue Verwertungsfelder erschließen, um die Verdrängung lebendiger Arbeit in alten, etablierten Industriezweigen zu kompensieren. Ohne neue Expansion zerbricht das Kapital an sich selbst. Die bürgerliche Volkswirtschaftslehre hat für diesen Prozess den Begriff des industriellen Strukturwandels geprägt – und diesen zugleich mit dem Glaubenssatz versehen, dass er immer genug neue Arbeitsplätze schaffte, wie durch Rationalisierung wegfielen.
Das Kapitalverhältnis ist folglich seit seiner gesamtgesellschaftlichen Durchsetzung in einem historischen Prozess zunehmender globaler Widerspruchsentfaltung verfangen, der vom verdinglichen Bewusstsein schlicht nicht wahrgenommen wird. Es war ja immer schon so, wie es ist. Wenn nun – wie in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts und in der gegenwärtigen Krisenperiode – dieser „industrielle Strukturwandel“ in eine schwerwiegende Strukturkrise gerät, muss das verdinglichte Bewusstsein „Fakten schaffen“. Vermittels der Personifizierung von Krisenursachen werden Sündenböcke (zumeist sind es die Krisenopfer oder gesellschaftlich schwache und marginale Gruppen) aufgebaut, die „Dingen gleichgemacht“ werden, indem die Krisenverwerfungen zu den Eigenschaften dieser Gruppe – ihrem Wesen – halluziniert werden. Mit ihnen wird dann entsprechend verfahren: Deportation, Konzentrierung in Lagern, alles Weitere will man dann nicht mehr wissen (Outsourcing der Barbarei[12]).
Somit weist auch die klassische Kritische Theorie eine verhängnisvolle Leerstelle auf, da sie die Gesellschaftssphäre der Ökonomie weitgehend ignorierte – und folglich keine konsistente Krisentheorie entwickelte. Dabei ist der Zusammenhang zwischen zunehmender Krisenintensität und der um sich greifenden Irrationalität eigentlich evident. Der aufsteigende rechtsextreme Massenwahn, das Umschlagen der instrumentellen Vernunft in Mythos, vollzieht sich offensichtlich – in den 1930ern wie auch heutzutage – in Krisenzeiten. Die eskalierenden inneren Widersprüche der als gesellschaftliche Totalität wirkenden Realabstraktion des Kapitalverhältnisses verehren ja ganz konkret die einzelnen Menschen, die Marktsubjekte, die einem immer stärkeren ökonomischen wie ideologischen Druck ausgesetzt sind (von Abstiegsängsten bis zur reellen Verelendung).
Dieser unverstandene, zumeist nur gefühlte Krisenprozess lässt die in der verwalteten spätkapitalistischen Welt schon immer schwelende Angst immer stärker anschwellen, sie steigert sich ins Panische, ins Paranoide, wie die überall aufkommenden Verschwörungstheorien belegen, die letztendlich im Antisemitismus münden. Und es ist diese aus verdinglichter Verblendung resultierende Angst vor dem unverstandenen und irreversiblen Krisenprozess, die die zentrale irrationale Triebkraft der neusten deutschen Rechten bildet.
Die Rechte praktiziert damit genau das, was sie schon immer in Krisenzeiten gemacht hat: Sie transformiert die in der Bevölkerung krisenbedingt aufkommende Angst in Hass – gegen Gruppen, die zu Personifikationen der unverstandenen Krisendynamik gerinnen. Gestern waren es Griechen und Südeuropäer, heute sind es Flüchtlinge, morgen ist es eventuell wieder der Jude. Deutschlands Halb- und Vollnazis laden die Ängste mit Hass und Irrationalität auf, doch sind diese Ängste selbst keineswegs reine Chimären.
Die irreversible systemische Krise des Spätkapitalismus hat einen Reifepunkt erreicht, der sie selbst in den erodierenden Zentren kaum noch übersehbar macht (von einigen duchgeknallten Forentrolls abgesehen). Die reihenweise in der Peripherie scheiternden Staaten, die um sich greifenden Bürgerkriege vor Europas Haustür, die eskalierenden geopolitischen Spannungen, die mühsam mit widerlichen geopolitischen Deals eingedämmte Flüchtlingskrise – sie sedimentieren im kollektiven Unbewussten der spätkapitalistischen Metropolengesellschaften zu der alles erstickenden Angst, die in rechtsextremer Ideologie und Praxis ein irrationales Ventil findet. Und der nächste Krisenschub auf den mittels Liquiditätsschwemme überhitzten Finanzmärkten kommt bestimmt.
Und gewissermaßen sind die rechten Internettrolle sogar weiter als die neoliberalen Apologeten in den Redaktionsstuben, die sich über sie empören. Der Erfolg des amerikanischen, europäischen wie deutschen Präfaschismus beruht gerade darauf, dass diese Krisenverwerfungen zumindest dumpf wahrgenommen und in entsprechende Krisenideologien eingebaut werden – während der neoliberale Medienmainstream aller Evidenz zum Trotz so tut, als ob es ewig so weitergehen könnte wie bisher. Der berüchtigte „Angstmob“ von Clausnitz[13] etwa hat die dumpfe Ahnung der kommenden Verwerfungen dem neoliberalen Mainstream voraus. Mit den debilen rechtsextremen Rufen nach einer Abriegelung der Grenzen soll ja letztlich die Krise „draußen“ gehalten werden.
Die Ängste dieser Menschen ernst nehmen, hieße somit, ihnen zu sagen, was Sache ist: dass sie angesichts der eskalierenden Krisendynamik wohlbegründet sind. Die Angst muss daher klar benannt und der theoretischen Reflexion zugeführt werden. Es hieße für die Linke, zu einer radikalen Kritik am Kapitalismus überzugehen. Nicht, weil es aus wahltaktischen oder gar „revolutionären“ Erwägungen geboten ist, sondern weil die Kategorien und Vermittlungsebenen des Kapitals in Auflösung übergehen, wie selbst ein flüchtiger Blick in die Peripherie des Weltsystems offenbart.
Es geht darum, zumindest zu versuchen, einen öffentlichen Diskurs über Alternativen zum drohenden kapitalistischen Kollaps zu initiieren. Auf die letale Krise des Kapitals müsste die Linke mit einer radikalen Suche nach grundlegenden gesellschaftlichen Alternativen antworten. Die unbewussten, ins Irrationale abdriftenden Ängste – die Triebfeder des Faschismus – könnten so der bewussten Reflexion zugeführt werden, indem die Systemkrise als deren Ursache benannt wird. Die Suche nach, der Kampf um eine Alternative zur kapitalistischen Dauerkrise würde zu einer neuen Perspektive, zu einer blanken Überlebensnotwendigkeit menschlicher Zivilisation.
In der Krise steht auch die Linke am Scheideweg: Wird der Ausbruch aus dem kapitalistischen Gedankengefängnis gewagt oder verfestigt sich das Abdriften in Ressentiments? Es gibt kein Zurück zur „sozialen Marktwirtschaft“ oder zur Wirtschaftswunderzeit. Stattdessen müsste endlich wieder nach vorn geblickt und der kategorische Bruch gewagt werden. Denn es macht einen bedeutenden Unterschied, ob der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen in Barbarei kollabiert oder von einer emanzipatorischen Bewegung überwunden wird. Das hieße, die weit verbreiteten Ängste ernst zu nehmen – und an deren Überwindung in einer transformatorischen Bewegung zu arbeiten.
Links in diesem Artikel:
[1] http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/postfaktisch-ist-das-wort-des-jahres-2016-14566525.html
[2] http://www.heise.de/tp/features/Postfaktisch-ist-Wort-des-Jahres-2016-3567402.html
[3] http://www.newyorker.com/magazine/2016/03/21/the-internet-of-us-and-the-end-of-facts
[4] http://www.zeit.de/kultur/2016-12/postfaktisch-wort-des-jahres-post-truth-demokratie-jill-lepore
[5] https://www.streifzuege.org/2015/generation-sarrazin
[6] http://www.sopos.org/aufsaetze/4ca59c0843dfe/1.phtml
[7] http://www.berliner-zeitung.de/-focus–chef-helmut-markwort-unterlag–titanic–das-gericht-schuf-fakten-16196618
[8] http://www.konicz.info/?p=125
[9] http://gegenblende.dgb.de/24-2013/++co++a91f8176-4d3a-11e3-81b0-52540066f352
[10] http://www.heise.de/tp/features/Happy-Birthday-Schweinesystem-3398095.html
[11] http://www.sopos.org/aufsaetze/4ca59c0843dfe/1.phtml
[12] https://www.heise.de/tp/features/Outsourcing-der-Barbarei-3336631.html
[13] http://www.focus.de/politik/deutschland/sie-rufen-wir-sind-das-volk-fremdenfeindlicher-mob-veraengstigt-fluechtlinge-in-sachsen_id_5299864.html