von Stefan Meretz
Artikel aus: Aufbruch ins Ungewisse
Viele Ansätze erdenken neue Gesellschaften, indem sie interessante aktuelle Entwicklungen prognostisch verlängern. Im Zentrum stehen meist neue Technologien – Jeremy Rifkin (2014) und Ludger Eversmann (2014) machen es vor. Ob die prognostizierte neue Gesellschaft wirklich „neu“ oder doch nur eine modernisierte Variante des Gehabten ist, wird selten thematisiert. Doch was macht das Neue einer Gesellschaft aus? Was überhaupt ist eine Gesellschaft?
Gesellschaft ist der soziale Zusammenhang, in dem Menschen ihre Lebensbedingungen herstellen und den sie herstellen. Gesellschaft ist somit doppelt bestimmt. Sie ist Bedingung des Machens und Gemachtes. Als Vorfindliches ist sie Rahmen des Handelns, als Aktuelles ist sie Ergebnis des (all-)täglichen Handelns. Kapitalismus als derzeit dominante Weise der Herstellung der Lebensbedingungen ist keine Veranstaltung außerhalb von uns, sondern wir stellen die sozialen Formen, die den Kapitalismus ausmachen, her. Jeden Tag, mit Notwendigkeit.
Das Neue einer neuen Gesellschaft ist nun ebenso doppelt bestimmt. Neu ist eine Gesellschaft nur, wenn die Lebensbedingungen qualitativ auf andere Weise als zuvor hergestellt werden und der soziale Zusammenhang, in dem dies geschieht und den wir täglich erzeugen, eben jene neue Qualität hat, dies zu tun. Es geht damit um zwei Themen: Re-/Produktion und soziale Vermittlung.
Re-/Produktion
Wir stoßen sogleich auf das erste Problem: Die Herstellung der Lebensbedingungen erscheint uns als Produktion, der ein anderer Bereich, die Reproduktion, gegenüber steht. Diese Sphärenspaltung ist jedoch nicht naturgegeben, sondern nur Artefakt der gegenwärtigen Produktionsweise. Tatsächlich umfasst das, was wir täglich brauchen und nutzen, Gebrauchsgüter, Dienste, Kommunikation, Zuwendung, Pflege, Erholung, Ernährung – alles: Produktion und Reproduktion, die wir machen. Genau besehen enthalten sich beide Aspekte: Keine Schöpfung von Neuem ohne Erhaltung von Bestehendem und umgekehrt. Dennoch stehen sich im Kapitalismus Produktion und Reproduktion als getrennte Sphären jeweils eigener Logik gegenüber.
Im Kapitalismus trägt der Sonderbereich „Produktion“ den Namen Ökonomie. Diese Bezeichnung geht auf eine Zeit zurück, als Produktion und Reproduktion noch nicht gespalten waren: „Oikos“ war der Haushalt, der beides umfasste. Heute bezeichnet die Ökonomie eine besondere Produktionsweise, die Warenproduktion. Waren – wir sprechen hier nur über solche in einer dominant Waren produzierenden Gesellschaft, nicht über Frühformen innerhalb anderer Produktionsweisen – sind eine historisch spezifische soziale Güterform. Es sind auf Grundlage des (individuellen oder kollektiven) Privateigentums getrennt produzierte Güter, die getauscht werden.
Der verallgemeinerte Tausch auf dem Markt ergibt im Mittel einen Wertvergleich der Waren, der den durchschnittlichen Aufwand zu ihrer Herstellung ausdrückt. Er wird auch Äquivalententausch genannt, weil sich durchschnittlich quantitativ Gleiches gegen Gleiches tauscht. Als operables Mittel des Wertverhältnisses, das sich im Tausch im Durchschnitt herstellt, dient das Geld. Aufgehäuft und in die Produktion investiert wird es Kapital, das unter produktivem Einsatz von Arbeitskraft mehr Geld abwerfen soll. Bei Strafe des Untergangs muss der Kapitalzyklus fortwährend erneuert werden. Die Kapitalverwertung ist selbstreferenziell und hat ihre innere Schranke dort, wo keine Arbeitskraft mehr zu verwerten ist, und ihre äußere Schranke dann, wenn Naturressourcen ausgehen. Die Annäherung an beide Schranken macht sich als systemische Krisen bemerkbar, die ihrerseits von „normalen“ zyklischen Krisen überlagert sind. Kapitalismus in a Nutshell.
Kapitalismus loszuwerden impliziert, anders zu produzieren, und anders zu produzieren, erfordert eine doppelte Überschreitung: keine Warenform, keine Sphärenspaltung. Warum? Die Ware ist die „Elementarform“ (Marx 1890, 49) der kapitalistischen Handlungsstruktur. Es ist die soziale Form, in der wir produzieren und die wir reproduzieren. Es ist die soziale Mikroform, die die soziale Makroform – Kapitalismus – erzeugt und in ihr ihre Funktion erhält. Wer über den Kapitalismus hinaus will, muss eine andere Produktionsweise an die Stelle der Warenproduktion setzen.
„Kapitalismus abschaffen“ im schlichten Sinne geht also nicht. Andererseits verbleibt bloß innerhalb der Änderungsreichweite des Kapitalismus, wer lediglich abgeleitete Formen – Geld, Gewinn, Zins, Kapital, Betriebsstruktur usw. – modifizieren will. Immanent spricht nichts gegen Genossenschaften, Karmakonsum, Gemeinwohlbetriebe, Arbeiten-ohne-Chef, Ethik und Moral usw., aber sie alle verbleiben innerhalb der Warenform und stellen diese her.
Das Fiese: Die Warenform strukturiert die Handlungsweise, die Exklusionslogik. Dabei geht das warenförmige Handeln des Einen stets auf Kosten eines Anderen: Käufer*in vs. Verkäufer*in, Arbeitsplatzbesitze*r vs. Arbeitslose*r, Markterobernde*r vs. Pleitier, Gewinner*in vs. Verlierer*in. Inklusionen sind keineswegs ausgeschlossen, im Gegenteil. Kooperationen haben die Funktion, die eigene Position in der universalen Konkurrenz zu verbessern. Sie sind der Exklusionslogik als struktureller Handlungsmatrix einverleibt und untergeordnet. Die Gegensätzlichkeit der „Metamorphose(n) der Waren, welche den gesellschaftlichen Stoffwechsel vermittelt“ (Marx 1890, 119), spiegelt sich in den gesellschaftlichen Spaltungen, die sie entlang nahezu jeder sozialen Dimension (modern: „Sektion“) erzeugt: Klasse, Geschlecht, sexuelle Präferenz, Hautfarbe, Alter, Bildung, Sprache etc. Es ist eine sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche durchziehende Logik des Drinnen und Draußen. Dem ist mit Ethik und Moral nur schwer beizukommen. Auch hier sei betont: Immanent spricht nichts gegen Interessenkämpfe, doch sie alle haben nur die Potenz zur immanenten Verschiebung von Kräfte- und Einflussgewichten, nicht zur Aufhebung der Exklusionslogik als Handlungsmatrix.
Eine besondere Form der gesellschaftlichen Spaltung ist die immer noch präsente geschlechtlich strukturierte Sphärenpolarität von Produktion und Reproduktion, von Ökonomie und Privathaushalt (vgl. Scholz 2000). Der Exklusionslogik von Berechnung, Verwertung und Vernutzung steht die Inklusionslogik mit Intimität, Sorge und Liebe komplementär gegenüber. Was nicht verwertbar ist, aber benötigt wird, bleibt der abgespaltenen Privatheit überlassen; was als Gegenstand der Kommerzialisierung entdeckt wird, wird in berechenbarer Form der Verwertung einverleibt (Stichwort: Pflege).
Das Verrückte dieser Sphärenspaltung ist ihre quantitative Verteilung: Entgegen dem Augenschein werden nahezu zwei Drittel der gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten nicht in der Warenform (vulgo: bezahlt) erbracht, sondern jenseits dieser mehr oder minder freiwillig. Gleichwohl bestimmt die Warenlogik die gesellschaftliche Entwicklung umfassend, sie durchwirkt auch die sozialen Beziehungen im privaten Nahraum. Da in abhängiger Weise auf eine funktionierende Warensphäre bezogen, kann die abgespaltene Privatsphäre in ihrer grundsätzlich inklusiven Logik die Ökonomie dennoch nicht ersetzen. Obwohl gesellschaftlich unabdingbar fehlt ihr die produktive Potenz. Eine Alternative kann nur eine Weise der Herstellung aller erforderlichen Existenzbedingungen sein, in der produktive und reproduktive Aspekte nicht konträren Logiken folgen, sondern einander durchdringen und Momente des gleichen Prozesses werden.
Peer-Commons
Eine solche Alternative existiert, es sind die Commons. Sie bilden eine Alternative zur Ware, denn sie repräsentieren eine andere soziale Form die Lebensbedingungen herzustellen. Sie sind die Elementarform einer anderen, einer commonistischen Handlungsstruktur. Ein Commons (das „s“ wird für Einzahl und Mehrzahl verwendet) ist der Prozess der Nutzung und Erhaltung von Ressourcen durch eine Gruppe von Menschen, die ihren sozialen Prozess, das Commoning, selbst organisieren und dabei die Regeln ihres Miteinanders festlegen. Die Resultate dieses Prozesses sind traditionell die Erhaltung der gegebenen Ressourcen (meistens Naturressourcen wie Wald, Boden, Wasser) oder in neuerer Form die Herstellung von neuen Produkten (etwa Wissen, Software, Hardware, Nahrungsmittel, Produktionsmittel). Peer verweist in diesem Zusammenhang auf die Gleichrangigkeit der Beteiligten, die die Grundlage der selbst organisierten, freien Kooperation bildet. Peer-Commons sind vernetzbar, die Resultate des einen Commons können Ressource eines anderen sein. Damit ist ihre prinzipielle gesellschaftliche Integration und Verallgemeinerbarkeit gegeben. Doch in welcher Form können Schöpfung und Nutzung gesellschaftlich vermittelt werden, wie entsteht perspektivisch aus den vielen Mikroprojekten eine gesellschaftliche Makrokohärenz?
Vor der Beantwortung dieser Frage ist es sinnvoll, die unterschiedlichen Qualitäten der Elementarformen der Ware und der Peer-Commons zu verdeutlichen. Obwohl sich die realen Peer-Commons noch nicht auf ihrer eigenen Grundlage entfalten können, sondern sich als Keimformen in einer strukturell feindlichen Umgebung behaupten müssen, sind die Unterschiede in den Handlungslogiken dennoch bereits erkennbar.
Warenlogik und Commonslogik
Die Exklusionslogik als dynamisches Verhältnis von Inklusionen und Exklusionen wurde bereits als konstitutive Handlungsstruktur der Ware bestimmt. Voran kommt, wer sich auf Kosten anderer durchsetzt und dabei partielle Bündnisse eingeht. Dem steht die Inklusionslogik als bestimmendes Merkmal der Peer-Commons gegenüber. Hier geht es darum, möglichst viele und geeignete Mitstreiter*innen zu gewinnen, um die Projektziele zu erreichen. Die grundsätzliche Freiwilligkeit, dem auf Seiten der Ware der Zwang zur Verwertung gegenüber steht, ist die Grundlage dafür, dass die Strukturen integrativ und gewinnend gestaltet werden müssen. Die Entfaltung des Einzelnen wird hier zur Voraussetzung für die Entfaltung der anderen Beteiligten. Diese Beziehungsform kann als positive Reziprozität gefasst werden, der im Fall der Ware die strukturell exkludierende negative Reziprozität gegenüber steht. Während negativ-reziproke Beziehungen tendenziell strukturelle Vereinzelung erzeugen, ist das Resultat positiv-reziproker Inklusionsbeziehungen die strukturelle Gemeinschaftlichkeit.
Die Produktion der Güter ist bei der Ware durch fremde Zwecke bestimmt, nämlich die Verwertung des eingesetzten Kapitals. Bei den Commons geht es um die je eigenen Zwecke, um die Befriedigung der Bedürfnisse. Bedürfnisse zählen auf der anderen Seite bei der Ware nur, sofern sie zahlungsfähig sind – Ökonomen nennen sie Bedarfe. Doch auch die Bedarfe sind nicht in ihrer vollen Bandbreite gemeint, sondern nur insoweit sie auf den Kauf der aus Sicht des Verkäufers jeweils eigenen Ware zielen. Alle anderen Bedürfnisse werden unberücksichtigt gelassen oder gar verletzt, sie werden externalisiert. Im Ergebnis erfolgt die Vermittlung der Bedürfnisse ex post über den Markt oder den Staat, also nachdem die Produktion bereits gelaufen ist und die Waren zu Markte getragen wurden.
Die Isolation der unterschiedlichen Bedürfnisse voneinander und ihre getrennte Befriedigung bringt die Individuen in eine Situation struktureller Verantwortungslosigkeit – ethisches Handeln wird so zur externen und ebenso fremden Anforderung, die zudem faktisch nicht einlösbar ist. Sie resultiert in struktureller Selbstfeindschaft ausgedrückt als das Gegeneinander unterschiedlicher Partialinteressen, die durch die Personen hindurch gehen: Mobilität gegen Straßenlärm, Arbeitsplätze gegen saubere Umwelt etc. Peer-Commons auf der anderen Seite tendieren dazu, die unterschiedlichen Bedürfnisse zu internalisieren und ex ante zu vermitteln, also bevor die Produktion beginnt.
Die Kommunikation findet nicht wie bei der Ware über den wertvermittelten Umweg des Marktes statt, wo sich nur die Bedürfnisse durchsetzen, die zahlungsfähig sind, sondern die Kommunikation bezieht sich unmittelbar auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen in ihrer vollen Bandbreite, die nun selbst und ohne die Möglichkeit des Einsatzes struktureller Gewalt (als die Geld wirkt) in struktureller Verantwortungsfähigkeit eine Vermittlung finden müssen. Dass dies auf der lokalen Ebene noch vorstellbar, auf regionalen oder überregionalen Ebenen schwierig wird, liegt auf der Hand (dazu gleich mehr). Dabei erscheint der vergrößerte Zeitaufwand für die direkte kommunikative Vermittlung unterschiedlicher Bedürfnisse nur vor dem Hintergrund der durch permanente Verbilligung der partialisierten Produktion erzwungenen Zeiteinsparung als „ineffizient“.
Tatsächlich ist eine Ex-Ante-Vermittlung gesamtgesellschaftlich betrachtet nicht nur effizienter, da durch ihre Ausrichtung eher auf die Vorsorge, Erhaltung und Schadensvermeidung als auf Nachsorge, Verschleiss und Schadensbewältigung (wie bei der Ware) orientiert ist. Sie ist auch individuell befriedigender, da durch die Freiwilligkeit der produktiven Tätigkeiten in der tatsächlichen Zeitverausgabung die Lebensqualität liegt und nicht in die abgespaltene Sphäre der Familie, Ehe, Freizeit, Urlaub etc. ausgelagert ist.
Gleichheit und Gerechtigkeit sind zentrale, positiv besetzte Begriffe in der bürgerlichen Gesellschaft, die gleichwohl historisch überhaupt erst mit der Warengesellschaft entstanden sind. Erst die Befreiung aus personaler Abhängigkeit schuf die Gleichheit der Individuen als Tauschsubjekte auf dem Markt. Erst die sich hinter dem Rücken durchschnittlich herstellende Äquivalenz des Tausches schuf jene Gedankenformen der Gerechtigkeit, die uns heute so selbstverständlich erscheinen. Gegen diese Formen abstrakter Gleichheit und formaler Gerechtigkeit der Ware setzen die Commons hingegen auf die konkrete Besonderheit und empfundene Fairness der beteiligten Menschen. Sie berücksichtigen die Tatsache, dass die Menschen nun einmal besondere Individuen sind, jede und jeder einzelne für sich.
Auch die neoliberale Ideologie setzt hier an, doch für sie ist die individuelle Besonderheit nur Faktor im Kampf aller gegen alle. Die Aufhebung der konkurrenzförmigen Entfaltung der Individualität ist jedoch nicht leere Gleichmachung, sondern die Entfaltung aller in ihrer jeweiligen Besonderheit in einer Weise, dass niemand unter die Räder kommt. Das ist in der exklusionslogischen Praxis nicht denk- und machbar. Hier ist die Freiheit des Anderen die Grenze der eigenen Freiheit. Inklusionslogisch begriffen ist hingegen die Entfaltung der konkreten Besonderheit des individuellen Menschen die Voraussetzung für die Entfaltung aller anderen Menschen. Diese positiv-reziproke Beziehung der Menschen zueinander fassten Marx und Engels (1848) als „Assoziation worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. Die Elementarform der Peer-Commons weist in ihrer sozialen Handlungslogik genau diese Beziehungsweise auf – in Keimform (vgl. Meretz 2014a) und mit allen Widersprüchen behaftet, die sich einstellen müssen, wenn sich die Mikroform nicht auf ihrer eigenen Grundlage, sondern in strukturell feindlicher Umgebung behaupten und entwickeln muss.
Vermittlung
Damit kommen wir zu der Frage, wie denn jene Assoziation, deren inklusive Logik schon Marx und Engels auf den Begriff brachten, aussehen kann und wie ihre gesellschaftliche Vermittlung funktioniert. Es ist klar, dass die Ware als Elementarform, als Mikroform dieser Vermittlung ausscheidet – und damit auch alle warenproduzierenden „Übergangsgesellschaften“ (etwa der Sozialismus welcher Prägung auch immer). Die neue soziale Form der Vermittlung muss vielmehr in der dominanten alten Form direkt entstehen und sich dort verbreiten und schließlich die alte Warenlogik ablösen (zu den widersprüchlichen Schritten der Transformation vgl. Meretz 2014b und 2015).
Gesetzt also, die Elementarform „commonistischer“ Vergesellschaftung sind die Peer-Commons. Wie lässt sich eine gesamtgesellschaftliche Vermittlung auf dieser Grundlage entwickeln? Drei Elemente, die sich teils getrennt, teils in Verbindung miteinander real herausgebildet haben und weiter entwickeln, sollen hier erläutert werden: Soziale Netzwerke, polyzentrische Selbstorganisation und Stigmergie.
Soziale Netzwerke sind Systeme sozialer Interaktionen, die mit Hilfe der Netzwerktheorie beschrieben werden können. Soziale Netzwerke wachsen zunächst langsam und benötigen dafür externen Ressourcen-Input. Oberhalb einer bestimmten kritischen Schwelle wachsen große Netzwerke schnell und tragen sich selbst, indem sie die benötigten Ressourcen selbst erzeugen (Netzwerkeffekt). Teil des Wachstumsprozesses großer sozialer Netzwerke ist ihre interne Ausdifferenzierung durch Funktionsteilung und Clusterbildung. Es bilden sich Hubs (wichtige „Knoten“) mit vielen Verbindungen („Kanten“).
In sehr großen sozialen Netzwerken folgt die Verteilung der Verbindungszahlen der Knoten dem Potenzgesetz: Von wenigen sehr großen Hubs mit sehr vielen Verbindungen bis hin zu sehr vielen Knoten mit wenigen Verbindungen sind alle Verbindungsdichten vertreten. Solche Netzwerke sind damit häufig skalenfrei, das heißt, Netzwerkausschnitte (fast) beliebiger Größe sind strukturell gleichartig (gleiche Verteilung der Verbindungsdichten). Sie sind damit entwicklungsoffen (flexibel restrukturierbar) und fehlertolerant, da im Extremfall des Ausfalls wichtiger Hubs die abgetrennten Teilnetze weiterhin ihre Funktion erfüllen können (etwa in Katastrophenfällen). Die commonistische gesamtgesellschaftliche Vermittlung ist als soziales Makronetzwerk denkbar, das zwei Eigenschaften aufweist, die die beiden nächsten zu erläuternden Begriffe darstellen: polyzentrische Selbstorganisation (Qualität der „Knoten“) und Stigmergie (Qualität der „Kanten“).
Polyzentrische Selbstorganisation ist ein Begriff von Elinor Ostrom (2009), der die strukturelle Meta-Organisation in großen Commons-Systemen beschreibt. Anders als in hierarchischen Systemen mit einem Entscheidungszentrum an der Spitze bilden sich viele Zentren heraus, die unterschiedliche Funktionen wahrnehmen. Es sind die Hubs im Netzwerk, die sich durch die Selbstorganisation der Commons entwickeln.
In Anlehnung an Christian Siefkes (2008) sind vier Commons-Typen vorstellbar. Aufgabe der Projekt-Commons ist das Machen, sie setzen ihre selbst gesetzten Produktionsziele um. Die kapitalistische Analogie wäre der Betrieb. Rolle der Meta-Commons als eines der Polyzentumstypen ist die Koordination. Sie schaffen die Voraussetzungen für und die Koordination der Aktivitäten der Projekt-Commons. Die kapitalistische Analogie wären Management oder Planungsstäbe. Infrastruktur-Commons als weiterer Polyzentrumstyp schaffen die Infrastrukturen für die Vernetzung der Projekt- und Meta-Commons durch Organisation der Informations- und Stoffflüsse. Kapitalistische Analogie wäre das Netzmanagement (Strom, Gas, Bahn etc.). Commons-Institutionen sorgen für die Bereitstellung kontinuierlich benötigter gesellschaftlicher Dienste, wie wir sie heute von Gemeindeverwaltungen kennen. Diese hypothetische Skizze ist nur ein Beispiel, das dazu dient, die Vorstellung einer gesellschaftlichen Vermittlung jenseits der Geldlogik greifbar zu machen. Bei der Frage wie die Vermittlung zwischen den verschiedenen Commons organisiert ist, kommt die Stigmergie ins Spiel.
Stigmergie ist eine Form der indirekten Koordination von Aufgaben in großen sozialen Netzwerken mittels lokaler Informationen. Ursprünglich aus der Tierforschung stammend wurde das Konzept auf technische und soziale Systeme übertragen. Francis Heylighen (2007) hat die commonsbasierte Peer-Produktion als stigmergisches System beschrieben und Christian Siefkes (2013) hat den Ausdruck hinweisbasierte Aufgabenverteilung geprägt.
Aus individueller Sicht ist Stigmergie eine Form der Selbstauswahl, bei der sich Individuen einer Aufgabe verschreiben und sich dabei ggf. mit anderen koordinieren, die auch an dieser Aufgabe arbeiten (wollen). Im Gegensatz dazu ist die hierarchische Aufgabenverteilung fremdzuschreibend, da andere entscheiden, welche Aufgabe der Einzelne zu erledigen hat. Aber auch konsensbasierte Entscheidungen, die oft als Alternative zu hierarchischen Strukturen angesehen werden, haben ihre Nachteile. Sie skalieren nicht besonders gut (begrenzte Gruppengröße), tendieren zu ausufernden Diskussionen und sind anfällig für Provokateure. Konsens bedeutet nicht, dass alle Beteiligten einer Entscheidung zustimmen, sondern nur, dass es keine Gründe gibt, zu widersprechen und ein Veto einzulegen. Solche unter Umständen nur mäßige Akzeptanz führt zu unklaren Motivationen, eine Aufgabe nach einer Entscheidung auch tatsächlich mit Energie umzusetzen. Bei freiwilliger Selbstauswahl ist die Motivationslage hingegen eindeutig: Ich tue genau das, was mir entspricht und ich tun will. Anders als in hierarchischen oder konsensorientierten Systemen fallen Entscheidung und Umsetzung zusammen. Damit wird auch jene „knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit“ überwunden, was Marx als Kennzeichen der „höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft“ (1875) ansah.
Eine stigmergische Vermittlung der gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten wäre aus zwei Gründen sowohl effektiv (gesicherte Zielerreichung) wie auch effizient (minimaler Mitteleinsatz): wegen des bedürfnisbasierten, motivierten Handlungsantriebs und wegen des minimierten Transaktionsaufwands aufgrund der Selbstorganisation. Es bedarf keiner dritten Instanz, die die Koordination und Planung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene für andere übernimmt, und es bedarf auch keiner zusätzlichen Vermittlung etwa durch Geld. Das stofflich gesehen nutzlose Bewegen von Geld bindet menschliche Energie, die wesentlich sinnvoller für Tätigkeiten eingesetzt werden kann, die sowohl gesellschaftlich benötigt wie auch individuell befriedigend sind (zum Umgang mit unbeliebten Tätigkeiten vgl. Siefkes 2014). Gleichzeitig besteht auch eine funktionale Ähnlichkeit zum Geld als Signalgeber. Während jedoch die signalisierte Information beim Geld eindimensional und nur quantitativ ist („Es rechnet sich – nicht“), ist sie bei der Stigmergie multidimensional und qualitativ. Ihre Vermittlungspotenz ist also wesentlich umfassender, einzelne Vermittlungen können wesentlich spezifischer gestaltet werden.
Stigmergie folgt dem Netzwerkeffekt. Je mehr Menschen oder Projekte sich einer Aufgabe verschreiben, desto größer sind die Ressourcen und damit Möglichkeiten, das angestrebte Ziel auch zu erreichen. Diese positive Rückkopplung verstärkt sich selbst und führt zu einem exponentiellen Wachstum, was bereits heute in vielen Commons-Projekten zu beobachten ist. Nachteil des Netzwerkeffekts ist die kritische Masse die erreicht werden muss, um die Schwelle zu überschreiten, ab der das Projekt „wie von selbst“ wächst und sich trägt.
Im Unterschied zu hierarchischen und besonders zu konsensorientierten Entscheidungsstrukturen skaliert Stigmergie besonders gut für sehr große und komplexe Systeme. Stigmergie braucht Vielfalt und eine große Zahl von Menschen, die sich für eine Aufgabe interessieren könnten. In Anlehnung an das Linus-Gesetz (sinngemäß: „Viele Augen sehen alle Fehler im Programmcode“, vgl. Raymond 1999) lässt sich ein Stigmergisches Gesetz der gesellschaftlichen Vermittlung so formulieren: „Gibt es genug unterschiedliche Menschen, so findet sich für jede Aufgabe ein Nerd, der/die sich ihrer annimmt“. Eine gesamte Gesellschaft erfüllt genau diese Anforderung.
Zusammenfassend: Jede Gesellschaft lässt sich als soziales Netzwerk fassen, auch der Kapitalismus. Die unterschiedlichen Qualitäten liegen in der Form der Knoten und ihrer Verbindungen, die die gesellschaftliche Vermittlung ausmachen. Im Kapitalismus haben wir es mit einem Doppelnetz zu tun. In einem Teilnetz sind die Knoten die Unternehmen (samt Lohnarbeiter*innen), deren Verbindungen ex post als gesellschaftlich gültige Austauschrelationen (worüber die Wertäquivalenz entscheidet) über Märkte realisiert werden. Diesem Netz ist eine zweite, abgespaltene Netzstruktur zugeordnet, deren interne Verbindungen über die konkreten Lebensbedürfnisse entstehen.
Die Struktur des gesamten Netzwerks und die Proportionalität der Gesamtheit der Verbindungen ergibt sich als Resultat eines unbewussten Prozesses „hinter dem Rücken“ (Marx 1890, 59) der Beteiligten. Die beiden Teilnetze funktionieren somit nach unterschiedlichen Logiken, die Verbindungen zwischen ihnen basieren auf gegensätzlichen Interessen und haben abstoßenden Charakter; gleichwohl bleiben es Verbindungen. Wie dargestellt resultiert diese widersprüchliche anziehend-abstoßende Wirkung aus dem Doppelcharakter der Ware, deren Exklusionslogik für das ganze Netz, also die gesellschaftliche Vermittlung insgesamt, bestimmend ist. Sie manifestiert sich im Konkreten in vielfältiger Weise entlang diverser willkürlich zu erzeugender menschlicher Unterscheidungsmerkmale und ist mit „Konkurrenz“ viel zu undifferenziert beschrieben.
In der Skizze des Commonismus als freier Gesellschaft existiert nur ein Netz, das gleichwohl in sich hochgradig differenziert und polyzentrisch strukturiert ist. Die Sphärenspaltung ist aufgehoben. Die Knoten sind hier sowohl Peer-Commons (institutioneller wie informeller Art) wie auch Einzelpersonen, die je nach selbstbestimmter Zielsetzung eher mehr produktions- oder reproduktionsorientiert sind, was zudem beständig wechseln kann. Ihre Verbindungen untereinander entstehen aus ex ante bewusst eingerichteten oder im Prozess erzeugten stigmergisch vermittelten Beziehungen, die auf den Bedürfnissen der Beteiligten (Individuen oder Kollektive) beruhen. Planung wie Ausführung der gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten findet über das gesamte Netz verteilt statt und richtet sich permanent neu aus am Maßstab des Grades der Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen. Die Bewusstheit ist dabei nicht bei einer Institution (etwa eine Planbehörde) oder gar einer Person repräsentiert (wie in der nordkoreanischen Juche-Ideologie), sondern im Sinne kollektiver Bewusstheit vom gesellschaftlichen Prozess über das ganze Netz verteilt. Statt fetischistischer Dingfixierung (Statussymbole etc.) liegt der Fokus auf der Gestaltung und Intensivierung der zwischenmenschlichen Beziehungen.
Perspektivenwechsel
Niemand kann die Organisation einer freien Gesellschaft voraussagen. Darum geht es auch nicht. Es geht darum, die Vermittlung jenseits der Warenform prinzipiell denkbar zu machen, um daraus Inspiration und konkrete Kriterien für die Gestaltung der realen Commons-Projekte zu entwickeln. So sollte eines dieser Prinzipien deutlich geworden sein: Statt (fremder) Planung und Organisation der Produktionsprozesse geht es um die Selbstplanung (Meretz 1999) und Selbstorganisation (Schlemm 2006) durch die Produzent*innen. Statt für andere die Prozesse zu organisieren und zu planen, geht es darum, die Bedingungen und Infrastrukturen für die Organisation der Prozesse durch die Menschen selbst zu schaffen.
Die Frage ist also nicht, ob geplant wird, sondern wo, durch wen, für wen und orientiert an welchen Kriterien. Jede Gesellschaft ist in diesem Sinne eine Plangesellschaft. So aktivieren und fordern etwa Marktsysteme die Selbstplanung, dies jedoch unter den Bedingungen der Exklusionslogik auf volles eigenes Risiko und nicht auf Basis von Freiwilligkeit und Abgesichertheit. Fremdbestimmung und Existenzbedrohung schränken Kreativität und Motivation ein. Zentralplansysteme haben im Unterschied zu Marktsystemen die gesamtgesellschaftliche Proportionalität im Blick, können jedoch aufgrund ihrer unflexiblen hierarchischen Struktur nur zäh auf Veränderungen reagieren. Die Menschen sind zwar grundsätzlich abgesichert, in ihren schöpferischen Handlungsmöglichkeiten jedoch durch die Planvorgaben eingeschränkt.
Der Perspektivenwechsel besteht nun darin zu erkennen, dass die Menschen selbst am besten wissen, wie die konkreten Anforderungen vor Ort und an der Sache bewältigt werden. Sie brauchen dafür geeignete Entfaltungsvoraussetzungen, die unter warengesellschaftlichen Bedingungen – mit Markt oder Zentralplan oder Mischformen – nicht gegeben sind. Erst die Aufhebung der Warenform durch die Peer-Commons schafft die Voraussetzungen für eine gesellschaftliche Vermittlung durch stigmergische polyzentrische Selbstorganisation, die ihrerseits die Voraussetzungen für die allgemeine menschliche Selbstbestimmung und -entfaltung schafft.
Die neue Qualität liegt im Sozialen, in der neuen Art und Weise, die Lebensbedingungen und damit sich selbst als Mensch zu produzieren. Neue Technologien bieten hierbei wichtige Möglichkeiten – ohne das Internet keine vernetzten Peer-Commons, ohne neue Produktionsmittel keine relokalisierte Produktion. Sie allein erzeugen jedoch nicht den gesellschaftlichen Umbruch. Umbrüche sind soziale Prozesse, das müssen wir schon selber tun.