Der esoterische und der exoterische Marx

Streifzüge 70/2017

von Roman Rosdolsky

Es sind mehr als hundert Jahre verstrichen, seit Karl Marx seine ökonomischen Lehren niederzuschreiben anfing. Eine sehr geraume Zeitspanne, besonders, wenn man die gewaltigen Veränderungen, die die Welt seither erfuhr, ins Auge fasst! Es wäre darum geradezu ein Wunder, wenn alle Lehrsätze von Marx auch heute noch ihre volle Gültigkeit behielten, wenn keiner von ihnen durch die spätere Entwicklung hinfällig geworden wäre. Gewiss, als Ganzes betrachtet, hat das ökonomische System von Marx die Probe der Geschichte bestanden.

Aber Karl Marx war ein Kind seiner Zeit, trotz aller Genialität, dem Einfluss der empirischen Tatbestände und Denkgewohnheiten seiner Zeit unterworfen. Auch in seinem System müssen wir daher Gedankengänge von verschiedener Tragweite und verschiedenen theoretischem Gewicht unterscheiden. In diesem Sinne kann man sehr wohl von einem esoterischen und einem exoterischen Marx sprechen – insofern wir darunter den Unterschied zwischen der eigentlichen Theorie und den daraus abgeleiteten konkreten Schlussfolgerungen und Entwicklungsprognosen verstehen wollen. Es ist klar, dass die erstere ihre völlige Gültigkeit behalten kann, auch wenn die letzteren sich manchmal als voreilig und nicht stichhaltig erweisen sollten. Und es ist klar, dass eine fruchtbare Anwendung der Marxschen Theorie nur möglich ist, wenn man die esoterischen und die exoterischen Elemente derselben auseinanderhält, wenn man das zeitlich Bedingte und Vergängliche vom Unvergänglichen im Marxschen System wohl zu scheiden weiß.

(Notiz aus: Arbeit und Wirtschaft, 11. Jg., Nr. 11, 1. November 1957, S. 348)

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