Minimalismus – eine individuelle Notwehrmaßnahme

von Martin Taurer

 

Die kolossale Palette an Produkten, welche überall dort, wo zahlungsfähige Kundschaft winkt, in Stellung gebracht wird, erscheint als eine ungeheure Herausforderung für die um Strukturierung und Einschätzung bemühten Adressaten.

Für professionalisierte Einkäufer in unternehmerischen Strukturen ist die Profitmaximierung die definierte Zielsetzung, welche auf vergleichsweise überschaubaren Märkten als Kompass dient.

Am Ende der Verarbeitungs- und Veredelungsprozesse, wenn es auf den finalen Absatz der Ware ankommt, ist betriebswirtschaftliche Kalkulation jedoch nicht mehr das entscheidende Kriterium für die Kaufentscheidung. Um einen Abnehmer zu finden und damit den Zweck der Realisierung des Gewinns erfüllen zu können, wird tief in die Trickkiste psychologischer Manipulationen gegriffen. Bedürfnisse werden erweitert oder konstruiert, Sehnsüchte werden erkannt und bedient. Mit Nuancen der Abwandlung bereits vorhandener Angebote wird versucht, eine höhere Gewinnmarge gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Falls sich fernerhin andere Anbieter positioniert haben (und keine gewaltsame Verdrängung möglich ist), muss mit kreativen und herausragenden Produktpräsentationen um Aufmerksamkeit gebuhlt werden.

Solcherart umworbene Konsument*innen werden mit einer stetig anschwellenden Unmenge an Gegenständen, Dienstleistungen und Optionen konfrontiert. Die permanente Reizung aller Sinne ist die logische Konsequenz des an Tempo und Intensität zunehmenden Kampfes um Kundschaft. Shopping ist Freizeitgestaltung und soll das verlorene Glück und die Verausgabungen während der Arbeit kompensieren. Wohnräume, Keller, Dachböden und Lagerabteile werden mit Dingen angefüllt, auf Festplatten und in Clouds sammeln sich Bücher, Musik und Filme an, Urlaube werden gebucht und Fitnessprogramme absolviert.

Manche eifrige Käufer*innen überfordern sich selbst in dieser manischen Inanspruchnahme der eigenen körperlichen und psychischen Potenzen. Dergestalt in die (oftmals eben vordergründig dem Kauf- und Konsumverhalten nachfolgende) Burnout-Falle getappt, kann die Lebenskrise existenziellen Charakter annehmen. Äußere Fülle und innere Leere sind die bezeichneten Erscheinungen der als persönliche Unzulänglichkeit empfundenen Strapazen der gesellschaftlichen Monade. Wo die Niedergeschlagenheit in der Art und Weise alltäglichen Ver- und Gebrauchs von Gütern und Leistungen verortet wird, bietet konsumkritisches Verhalten Aussicht auf Erlösung. Der frischeste Ausdruck dieser (keineswegs neuartigen) Reaktion auf die aufgedrängte Sinnstiftung als Abnehmer von Warenangeboten ist die Denkart des Minimalismus.

Ich will hier raus

Was hat es damit auf sich? Anders als bei den schon länger etablierten Formen des sogenannten kritischen Konsums (Fair Trade, Clean Clothes, biologische Landwirtschaft, regionale Produkte …) spielen gesellschaftspolitische Ansprüche, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle. Theorie oder Kritik wird nicht benötigt, Ratgeber-Literatur ist das Mittel der Wahl. Beispielsweise „Simplify your life“ oder „Die Wohnungsdiät“ sind zugehörige Titel, Tipps und Tricks werden in zahlreichen Blogs im Internet ausgetauscht. In seltenen Fällen lässt sich auch eine selektive Fromm-Rezeption finden, welche sich auf sein Buch Haben oder Sein beschränkt. Minimalismus zielt auf individuelle Befreiung ab, will Ballast abwerfen, Hab und Gut reduzieren und Platz schaffen. Die ausrangierten Gegenstände können vernichtet, verkauft, getauscht oder verschenkt werden, im Vordergrund steht die Beseitigung aus dem eigenen Leben und nicht die anschließende (Nicht-)Nutzung. So kann die persönliche Entledigung von der Last der Dinge in Summe durchaus einen Mehraufwand nach sich ziehen, beispielsweise wenn das Reisegepäck an den Urlaubsort gesandt und die Bürde somit delegiert wird. Durch die Entrümpelung des Haushalts sowie Enthaltsamkeit im Konsum soll ein Lebensgefühl forciert werden, welches Leichtigkeit verspricht. Strikte Regeln beim Prozess des Ausmistens sind in aller Regel unerwünscht. In welchem Umfang und Zeitrahmen sich die Reduktion bewegt, soll der Entscheidung der einzelnen Menschen überlassen bleiben, Selbstbestimmung und Zwanglosigkeit werden betont. Nichts muss, alles kann. Wo ein Wille, da ein Weg. Wo Krise war, soll Freiheit sein.

Ich mach da nicht mehr mit

Und tatsächlich. Während gesellschaftliche Transformationsperspektiven bei Minimalist*innen für gewöhnlich noch nicht einmal in Erwägung gezogen werden (können), kann dem Symptom des Überdrusses hier konkret begegnet werden. Wenn Folgeerscheinungen der zugrunde liegenden Gesellschaftsformation vernichtende Wirkung auf den einzelnen Menschen haben, ist Symptombekämpfung plausibel. „Was brauch ich wirklich? Was will ich eigentlich?“, so lauten die keineswegs selbstverständlichen Fragen, welche sich das geläuterte Subjekt nun (erstmals) stellt. Dem als private Krise erlebten Kollaps der eigenen Lebensführung soll mit einer ebenso persönlichen Neuorientierung begegnet werden. In einer mehr oder weniger rigorosen Umstrukturierung des eigenen Alltags wird die Flucht nach vorn gewagt. Der Umkehrschluss ist stets: Wenn das Glück nicht in der Ausreizung konsumtiver Expansion gefunden wurde, ist die Reduktion der Weg zum selbigen. Als Ausweg aus der Sinnkrise wird das eigene Leben zum Experimentierfeld, Möglichkeiten des Verzichts werden ausgelotet.

Hier wird der Monotonie des Kreislaufes von Kaufrausch und Frustration ein Schnippchen geschlagen, ein neues, bisher unbekanntes Abenteuer beginnt. Wo gescheiterte Konsument*innen sich der gängigen Kriterien und Präferenzen wie Preis, Stil, Label, Nützlichkeit oder Exklusivität möglicherweise unzureichend bedienten und sich also kontinuierlich im Konsumwahn erschöpften, bekommen Minimalist*innen nun gleich den ultimativen Maßstab zur Entscheidungsfindung an die Hand. Wird das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet und die Mentalität des „Weniger ist mehr“ nicht ideologisch überhöht, bedeutet das Entspannung. Im Zweifelsfall grundsätzlich Verzicht zu üben, wird angesichts der Fülle an zweifelhaften Waren zum Befreiungsschlag.

Ich kann auch anders

So oder so, frischgebackene Minimalist*innen sind erst einmal mit sich selbst beschäftigt und das ist ja auch der erklärte Zweck der ganzen Veranstaltung. Es gilt, sich auf das Wesentliche zu besinnen. Was das sei, liegt im eigenen Ermessen. Der Verlauf des Reduzierens aller Besitztümer kann plötzlich, schubweise oder kontinuierlich vonstattengehen. Es kann Jahre dauern, bis sich das Gefühl einstellt, angekommen zu sein. Der Blick richtet sich intensiv auf den je eigenen Mikrokosmos, unverhältnismäßige Selbstkritik (Stichwort: innerer Schweinehund) bildet den Ersatz für Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Parallelen zu esoterischen Konzepten sind offensichtlich, häufig befassen sich Minimalist*innen auch mit Zen-Buddhismus, Fēng Shuǐ und Ähnlichem.

Einen weiteren großen Strang bildet die Selbstzurichtung als effizientes Konkurrenzsubjekt. Mit der Stoppuhr in der Hand werden frei gewordene Zeitressourcen bewertet und neu investiert, Ersparnisse bei Wartung, Anschaffung und Entsorgung diverser Produkte bestätigen die kalkulierenden Marktteilnehmer*innen in dem gefassten Entschluss. Der eigene Alltag wird detailliert nach Verschwendung und Überfluss durchleuchtet, mit betriebswirtschaftlichen Methoden und eiserner Disziplin sollen das qualitative Optimum und das quantitative Minimum ermittelt werden. Das beim großen Ausmisten nicht nur materieller Besitz, sondern auch Beziehungen zu anderen Menschen einer Prüfung unterzogen werden, ist hier besonders relevant. Bekanntschaften, welche zu wenig Benefit bringen, werden höflich (unter Berufung auf die konzeptuelle Lebensführung) beendigt. Diverse Coachs sowie Beratungsunternehmen haben den Trend längst erkannt und bedienen sich diverser Versatzstücke des Minimalismus. Die immer wiederkehrende Betonung des undogmatischen, selbstbestimmten Zugangs beim Entrümpeln des eigenen Lebens bietet hierbei Interpretationsspielraum für mannigfaltige Variationen entlang des Leitmotivs. Anders als beim sogenannten Downshifting, also der Verringerung der Arbeitszeit, um Bestrebungen abseits des Verwertungsdrucks zu pflegen, taugt Minimalismus auch als reines Instrumentarium zum Zwecke der Ausdehnung des eigenen Leistungspotenzials.

Ich weiß, was ich will

Des Weiteren bietet sich auch ein gerne genutztes Spielfeld für Selbstgefälligkeit und prahlerische Darbietungen. In hippen Video-Blogs werden entleerte Wohnungen zur Schau gestellt. „Weniger ist mehr (Prestige)“, lautet die Losung einer typischen Room Tour durch die aufgeräumten, akzentuierten Einrichtungswelten der Minimalismus-Koryphäen. Weiß ist meist die Farbe der Wahl, demonstriert werden Stilsicherheit und konzentrierte Kongruenz. Die Authentizität, welche aus der harmonischen Einheit von Lebensführung und Habseligkeiten bezogen wird, zeugt von der Sehnsucht nach Versöhnung mit der Warenwelt. Die aus intensivem Nachsinnen resultierende Auswahl der mehr oder weniger wenigen verbliebenen Gegenstände bietet mehr Identifikationsfläche als die einstmalige Opulenz. Es wimmelt von Produktempfehlungen, Präsentationen, Liebhaberstücken und Rezensionen.

Ich hab das nicht mehr nötig

Dennoch. Das erklärte Ziel ist erreicht, der Ausbruchsversuch aus erdrückendem Overkill partiell geglückt, die Notbremse wurde gezogen. Im Gegensatz zur unattraktiven Wehrlosigkeit einer kritischen Theorie der Gesellschaft gegenüber der realen Macht der Institutionen bietet das Schema Minimalismus den übersättigten Teilen der Weltbevölkerung leichte Kost und simple Handlungsanleitungen mit Aussicht auf konkrete Selbstermächtigung. Wo krisenhafte Erscheinungen unterschiedlicher Art zur ständigen Begleitung der alltäglichen Wahrnehmung geworden sind und apokalyptische Szenarien ein beliebtes mediales Genre bilden, kann auf diese Weise ein Gefühl der Sicherheit generiert werden. In krasser Verkennung der sozialen Interdependenz und gesellschaftlichen Eingebundenheit bietet partieller Konsumverzicht ein Gefühl von Unabhängigkeit. Abstinenz zu lernen, erscheint dann als Vorbereitung auf kollabierende Produktionsketten und ähnliche Szenarien. Infolge dieser Überschätzung der individuellen Geltung wird der realen Ohnmacht eine Pseudomacht entgegengesetzt, hier zeigt sich eine Schnittstelle zu anderen konsumkritischen Spielarten.

Gerade weil Minimalismus die persönliche Alltagsgestaltung fokussiert und gesellschaftspolitische Visionen außen vor lässt, kann hier auf die typischen Feindbilder wie beispielsweise Großkonzerne oder personifizierte Kritik verzichtet werden. Da die Probleme auf das eigene Konsumverhalten zurückgeführt werden, gilt es also (neben der Selbstbefreiung), mit gutem Beispiel voranzugehen. Nach Produktionsverhältnissen wird kaum gefragt, Warenfetisch oder Verblendungszusammenhang sind ohnehin kein Thema.

 

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