von Martin Scheuringer
Wir könnten unsere Textilien, die uns im Alltag so nah am Körper sind, unsere Mauer, die uns vor Kälte, Wind und Regen schützt, oder unsere Nahrung, die uns stärkt, gestalten. Das wäre ein Einbringen unserer Ideen in die Auseinandersetzung mit dem Stoff, bei dem wir Betroffenen uns zusammensetzen. Lieber kaufen wir ein.
Wir könnten unseren Freunden, Geschwistern, Eltern, Kindern, Bekannten und Kollegen offener, achtsamer und liebevoller begegnen. Das wäre ein kümmerndes Einlassen auf die Anderen ein Äußern und Hören unserer und ihrer Wünsche und Begehren. Lieber führen wir in konformen Masken oberflächliche Gespräche.
Wir könnten unseren Ärger, unsere Hingabe, unsere Verzweiflung, unsere Freude, unsere Geilheit, unseren Frust spüren. Das wäre eine akzeptierende Sensibilität für deren Dasein. Lieber verdrängen wir sie ins Unbewusste.
Wir könnten im Alltag Individualität sein. Lieber beherrschen wir uns. Material und Ideen formen wir gemäß den Imperativen der Arbeit, stutzen, optimieren und begradigen. Glatt, effektiv, schnörkellos soll alles laufen. Liebe, Bett und Zorn sind funktional einzusetzen für die Optimierung der Arbeitskräfte, die mit uns den Alltag teilen. Wir begradigen die Symphonie der Augenblicke zu einem nervtötenden Sinuston, der sich dynamisch ausdehnt. Er wird lauter und die noch vernehmbaren Klänge werden bald von Lärm verschluckt sein.
Als Negation unserer Individualität agiert etwas durch uns hindurch. Am Markt (und der ist schon fast überall und dauernd) wirken wir als Kalkulatoren. Dabei verlassen wir die sinnliche Welt und begeben uns in nur dem Denken zugängliche Sphären, denn unsere Entscheidungen nehmen Bezug zum Preis, der nicht im Wald wächst, auf keiner Wiese blüht und aus keinem Tier gemolken werden kann. Er ist eine Setzung des Willens und der Einbildungskraft.
Ohne Preis können wir nicht kaufen. Eine lästige Notwendigkeit der Marktwirtschaft, in der Dinge nur benutzt werden dürfen, wenn sie Privateigentum sind. Um zu laufen, erfinden wir zu den Qualitäten eines Sockens – wärmend, angenehm, belastbar, waschbar, haltbar, von Bekannten in Muße ohne Chemie hergestellt, aus nachhaltiger Wolle – noch eine hinzu. Alle die genannten Qualitäten werden relativiert zu einem absoluten Referenzpunkt hin: dem Preis. Dieser selbst ist nur dem Denken zugänglich. Er breitet nun seine Relationen auf alle Qualitäten aus, bepreist sie. Qualität 1 ist 10 Cent wert, Qualität 2 23 Cent. Dann wird die Summe gebildet und mit dem Gesamt-Preis der Ware verglichen. Die Qualitäten sind durch uns Kalkulatoren in Quantitäten verwandelt worden.
So agierend fließt unsere Individualität nicht in die Entscheidung ein, denn diese nähme die Qualitäten ernst und wandelte sie nicht in Quantitäten um. Wären wir Individualitäten, wäre der Prozess der Aneignung und Benutzung nicht über den Kauf von Privateigentum organisiert, sondern über ein Besprechen der Nutzung und Herstellung mit den Betroffenen. Oder über ein Schenken von Dingen, die man herstellen wollte, weil man grad gern mit dem Hobel oder der Maurerkelle was machen wollte.
Im Alltag wirkt über unseren Willen also die Struktur der sozialen Wirklichkeit (Eigentum und Kauf) und setzt diese fort. Die Individuen sind vom Kapital aufgesaugt. Aufgehoben sein würde ja das Beibehalten der Individualität auf höherer Stufe meinen, aber Hegel ist mir zu langatmig.
Im Alltag finden wir daher nicht die Muße uns auf das Holz einzulassen, das wir benutzen, sodass wir ein harmonisches Produkt erstellen könnten, in dem wir uns wiedererkennen. Es könnte ein schönes Basteln werden und als Resultat aus unserer Stimmung, Phantasie und seiner Beschaffenheit unseren Alltag verschönern. Allein die Qualitäten des Holzes, unsere Fähigkeiten und unsere Hingabe zum Werken sollten Kriterien für die Entscheidung seiner Gestaltung sein. So ein Stück Holz – ein Tisch oder Bett – bereichert als Vergegenständlichung unserer Individualität unsere gemeinsame Zeit. Oder als Geschenk eines Fremdem erinnert es an Kontakt zu Menschen, die man vielleicht nur einmal getroffen hat.
Im Alltag nehmen wir uns selten Momente heraus, um mit unseren Mitmenschen darüber zu reden, wie es uns miteinander geht, welche Wörter und Taten einen verletzt haben, was wir uns wünschen, welche Phantasien wir haben. Michael Lukas Möller hat darüber hervorragende Anleitungen verfasst. Wir würden uns näher sein, das Leben wäre erotischer, spannender, intensiver.
Im Alltag nehmen wir selten unsere Gefühle genau wahr und teilen diese kaum mit. Einem sich Öffnenden wird Weichheit, unnötige Störung oder Egoismus unterstellt. Hier können wir nur im Gespräch voneinander lernen, wie man in solchen Situationen gut auftritt.
Spricht man über Visionen, ist es nicht anders: einem Träumer wird Dummheit unterstellt, gar die Absicht, uns in den Ruin zu führen, oder die blanke Angst vor Chaos kommt einem mit Wucht entgegen. Diese Reaktionen sind meist durch große Emotionen der anderen belgeitet. Mit diesen gut umzugehen wäre meines Erachtens etwas sehr Wichtiges für die Emanzipation. Hier gilt es viel zu lernen: Wie lasse ich der Angst, der Wut in solchen Momenten einen sinnvollen Platz, ohne selbst davon mitgerissen zu werden?
Das Beruhigende ist: die Vision des guten Lebens ist in Momenten spürbar, ahnbar. Es ist schön mit Menschen zusammen zu sein, die zeitweise ihre Masken ablegen und sich in ihrer Bandbreite zeigen. Die mich teilhaben lassen an ihrer Wut, an ihrer Freude, an ihren Sorgen und ihrer Hingerissenheit für das, was sie gerade tun. Die mich lehren mit ihnen gemeinsam ein Werk zu vollbringen, während wir scherzenderweise den Tag verbringen. Am Ende betrachten wir unsere Stoff gewordene Individualität und schlafen zufrieden ein. Die Party war den ganzen Tag über.
Diese Augenblicke sind Momente des Richtigen im Falschen. Diese Begegnungen funkeln, sie geben Kraft. Es prickelt. Die Luft knistert. Es fallen Güter dabei an. Diese Momente sollen unserer Phantasie Kraft geben für eine emanzipatorische Romantik, die das Begehren der Menschen nach einem guten Leben weckt.