von Annette Schlemm
Wer glaubt noch daran, dass ein Temperaturanstieg auf der Erde um zwei Grad unterschritten werden kann? Dass dies höchst unwahrscheinlich ist, lässt darauf schließen, dass die nächsten Jahrzehnte nicht nur wärmer werden, sondern für viele Millionen Menschen die Lebensbedingungen unerträglich werden. Was bedeutet das für unsere Vorstellungen von einem guten Leben für alle, für unsere Utopien?
Gerade brachte der Solarenergie-Förderverein Deutschland eine neue Karikatur heraus (Mester 2016): Es hat bei der Familie geklingelt, bei der CO2-Qualm das Zimmer vollwabert; im Türrahmen steht Gevatter Tod, und die Frau sagt zu ihrem Mann: „Es ist der Klimawandel!“ Er darauf: „Jetzt schon?“ Wir schauen in diese Karikatur wie in einen Spiegel. Die Vermutung, die Hitzetage und die Statistik der höheren Temperaturen und auch der mangelnde Schnee im Winter seien tatsächlich ein Anzeichen für eine irreversible Klimaveränderung, können wir kaum aushalten. Wir trösten uns mit dem Gedanken, dass die Zukunft sowieso immer ungewiss ist. Es gibt zwar Prognosen, Trends und Szenarien, aber das früher einmal Vorhergesagte sieht in der Jetztzeit immer ziemlich antiquiert aus.
Planetenbewegungen sind noch ziemlich gut berechenbar, so etwas wie der Einschlag eines Asteroiden oder die Explosion eines Supervulkans hätten Folgen, die man recht gut voraussagen kann. Menschen können dann nur noch reagieren. Aber Menschen kriegen eine Katastrophe wohl auch sehr gut hin. Es wird gerade diskutiert, ob das neue Zeitalter der explosiv wachsenden Ökonomie und anderer Parameter und der ebenso explosiv wachsenden Verelendung unzähliger Menschen und der Zerstörung der ökologisch-klimatischen Lebensgrundlagen „Anthropozän“ (vgl. Schlemm 2015a) genannt wird. Der Anbruch des „Anthropozäns“ ist keine gute Nachricht, sondern eher ein Schreckensruf. Die Erfolge der „Beherrschung“ der Natur zeitigen unbeherrschbare Folgen, verheerend für Milliarden Menschen und natürlich auch viele Tier- und Pflanzenpopulationen. Es ist aber nicht einfach „die Menschheit“, die den Planeten derart verwüstet. Es sind Menschen in kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnissen. Man sollte also besser nicht vom „anthropogenen Klimawandel“ sprechen, sondern vom „kapitalogenen Anthropozän“. Der Bericht „Grenzen des Wachstums“ hat einst viele Menschen aufgerüttelt. Die Prognosen sind nicht ganz so eingetreten, wie damals berechnet, aber von der Tendenz her war es sicher richtig, darauf aufmerksam zu machen, dass unsere Wirtschaftstätigkeit die natürlichen Regenerationszyklen nachhaltig stört. Wenn wir weltweit im August (in Deutschland schon im April) alle Ressourcen verbraucht haben, die sich in einem Jahr natürlich regenerieren können, dann bewegen wir uns im wahrsten Sinne wie das Männeken im Trickfilm, das versucht, in der leeren Luft über einen Abgrund zu laufen, und erst nach ein paar Schritten merkt, dass ihn nichts mehr hält. Wie dünn die Luft ist, kann man heute in einer neuen wissenschaftlichen Studie mit der Bezeichnung Konzept „Planetare Grenzen“(vgl. Schlemm 2015b) erfahren. Dieses Konzept fixiert sich nicht nur auf den durchaus breit diskutierten Klimawandel, sondern macht auf andere kritische Bedingungen unserer Existenz aufmerksam wie den Biodiversitätsverlust, stockende bzw. ausufernde biogeochemische Kreisläufe (vor allem Stickstoff und Phosphor betreffend), die Übersäuerung der Ozeane und andere. Für all diese Prozesse ist zu erwarten, dass noch in den nächsten Jahrzehnten ein qualitativer Einbruch geschieht, ganz nach dem Motto „Kleine quantitative Veränderungen führen bei Überschreiten eines Schwellwerts zum Umkippen des Selbstregulationssystems“. Die Studie umreißt „nur“ die naturwissenschaftlich voraussagbaren Folgen des Voranschreitens der derzeitig herrschenden Trends. Wer die Beziehungen zwischen Menschen und Natur als „gesellschaftliche Naturverhältnisse“ begreift, merkt, dass damit nur eine Seite des Ganzen angesprochen wird. Aber solange wir Menschen nicht nur Gesellschafts-, sondern auch biologische Wesen sind, sind wir auf die Funktion wichtiger Regulierungskreisläufe auf unserem Planeten angewiesen, deren Funktionsweise naturwissenschaftlich analysiert werden kann. Gerade um gesellschaftlich bewusst handeln zu können, brauchen wir das Wissen um die bio-geo-chemo-klima-bezogenen Prozesse.
Letztlich wird die Natur gerade im „Anthropozän“ wirklich zur „gesellschaftlichen Natur“, sie kann nur noch als „natürliche[s] Substrat und Milieu gesellschaftlicher Praxen“ (Tjaden 2009) gefasst werden, nicht mehr als außerhalb des menschlichen Tuns stehend. Die Natur auf dem Planeten Erde ist nicht Natur „an sich“, also so, wie sie wäre, wenn die Menschen nicht mit ihr und von ihr lebten. Insofern haben diskurstheoretische Ansätze Recht: Über „Natur ohne Menschen“ zu sprechen, wäre unangemessen. Gleichzeitig können wir Menschen uns nichts Beliebiges über sie gedanklich konstruieren, denn wir hängen ganz praktisch an ihr fest. Die Gesellschaft kann ebenfalls nicht mehr getrennt von diesen natürlichen Grundlagen gesehen werden. Die Fortschrittshoffnung der letzten Jahrhunderte in Europa setzte ja darauf, dass die Menschheit sich im Verlauf ihrer Geschichte immer unabhängiger von den Naturbedingungen machen könnte. Natürlich ist die Beseitigung und Eindämmung von gefährlichen Einwirkungen der natürlichen Bedingungen ein Fortschritt. Aber der Umgang mit ihnen bedeutet gerade nicht Unabhängigkeit, sondern aktives und bewusstes Handeln. Die Natur ist nicht mehr nur „Umwelt“ gegenüber der gesellschaftlichen Entwicklung. Die große Herausforderung ist nicht mehr „nur“ die Beseitigung der Klassengesellschaften, sondern die Schaffung eines neuen gesellschaftlichen Naturverhältnisses. Je länger wir hoffen: Es wird schon nicht so schlimm werden – desto schlimmer wird es werden.
Nur noch unverbesserliche Optimisten glauben an den Erfolg der kapitalismuskonformen Klimaschutzbemühungen. Die anderen kritischen Faktoren der „Planetaren Grenzen“ werden sowieso nur beiläufig zur Kenntnis genommen. In der Zwischenzeit spüren mehr und mehr Menschen die Folgen von langandauernden Trockenheiten, Überschwemmungen und Hurrikans. Die sich katastrophal verschlechternden natürlichen Lebensbedingungen verschärfen Konflikte, lösen Kriege aus und führen damit auch massenhaft zu Migration und Flucht (vgl. Schlemm 2016). Zu den Ungerechtigkeiten aufgrund von Klasse, Geschlecht und anderen zugeschriebenen oder echten menschlichen Unterschieden gesellt sich eine neue. Die Folgen der „Planetaren Grenzen“ müssen größtenteils von anderen Menschen getragen werden als von jenen, die davon nach wie vor profitieren. Uns selbst begegnen diese Folgen zuerst in Gestalt der zu uns flüchtenden Menschen. Dies verschleiert den Zusammenhang der Verursachung dieser katastrophalen Lebensumstände noch zusätzlich. Europa wird zu der Festung, die schon lange gefürchtet wurde und nun von vielen sogar erhofft wird. Wie auch immer, „die mit der Erderwärmung einhergehenden Raum- und Ressourcenkonflikte werden in den nächsten Jahrzehnten fundamentale Auswirkungen auf die Gestalt der westlichen Gesellschaften haben“ (Welzer 2009: 22).
Diese Gestalt wird entweder von Verwüstung und Barbarei, mit der Auflösung der zivilisatorischen Errungenschaften und unsäglichen Kämpfen gegeneinander verbunden sein, oder die Not wird gewendet durch neue gesellschaftliche Verhältnisse ohne Ausgrenzungen, ohne dass sich Teile auf Kosten anderer Teile (z.B. auch natürlicher) des Ganzen zu erhalten oder auszuweiten versuchen. Man könnte auch sagen, nicht am Klassenkampf geht der Kapitalismus unter, sondern an den natürlichen Grenzen. Aber diese natürlichen Grenzen sind nicht unabhängig von der Gesellschaft. Dass wir den Umgang mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen noch nicht so regeln können, dass ihre Reproduktionszyklen aufrechterhalten und gestärkt werden, liegt an unserem unzulänglichen gesellschaftlichen Entwicklungsstand. Deshalb ist es auch gar nicht so sinnvoll, über uns scheinbar äußerliche „planetare Grenzen“ zu sprechen, sondern wir sollten über einen „sicheren Entwicklungsbereich“ für ein gutes Leben für alle reden.
Konkrete Utopien
Gesellschaftliche Verhältnisse, in denen wir als Menschen gesellschaftlich so agieren, dass wir wachsende Bedürfnisse bei Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung unserer Naturverhältnisse ermöglichen, sind deshalb keine Utopie, sondern werden zur Not-Wendigkeit des 21. Jahrhunderts. „Nur noch Utopien sind realistisch“ (Negt 2012). Gemeint sind konkrete Utopien im Sinne Ernst Blochs. Solche Utopien unterstellen der Wirklichkeit eine Tendenz zum „verhindert Fälligen“, und sie bauen auf die Latenz als das „Korrelat der noch nicht verwirklichten objektiv-realen Möglichkeiten in der Welt“ (Bloch PH: 727). Dieses „Noch-Nicht“ war bei Bloch vorwiegend hoffnungsvoll konnotiert, obwohl er auch mit der Enttäuschbarkeit der Hoffnung rechnete. Zu den „noch nicht verwirklichten objektiv-realen Möglichkeiten in der Welt“ gehört auch die Möglichkeit des Untergangs der Zivilisation oder einer langandauernden verlustreichen Barbarei.
Dass etwas möglich ist, das Wünschbare wie das Gefürchtete, bedeutet überhaupt nicht, dass es die Entwicklung wie eine Art Entelechie bestimmen kann. Möglich ist das Ende der menschlichen Vorgeschichte im marxschen Sinne der Aufhebung der Entfremdung wie auch die schlimmsten Zukunftsvarianten. Jede Utopie muss sich dem Crashtest stellen, sie muss die Möglichkeit des Untergangs und der Barbarei in Rechnung stellen und sich ihrer erwehren. Viele Utopien sind ja „Schönwetter-Utopien“. Sie gehen von bestimmten Problemen aus, die durch die Utopie gelöst werden sollen, und ignorieren andere. Utopien im 21. Jahrhundert müssen die sich destabilisierenden ökologischen Bedingungen in Rechnung stellen. Das bedeutet zum Beispiel, dass nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass immer mehr Einsatz von Energie immer mehr menschliche Arbeitskraft ersetzt. Auch der Einsatz von erneuerbaren Energien würde bei ihrem weiteren Wachstum die Aufnahmefähigkeit der Atmosphäre für Abwärme übersteigen. Man kann also den Trend der Arbeitsproduktivitätssteigerung durch gesteigerten Energieeinsatz nicht weiter verlängern. Der Ausgleich zerstörter ökologischer Netzwerke und der Neuaufbau unserer Zivilisation unter den neuen Bedingungen (z.B. nach der Überschwemmung der meisten Küstenregionen und der Ausweitung von Wüsten bis weit in die heutigen Hauptanbaugebiete hinein) werden ebenfalls viel Arbeit erfordern. Die Voraussetzung, dass Menschen in einer neuen Gesellschaft wenig notwendige Arbeit, dafür viel freie Zeit hätten, muss also wohl fallen gelassen werden. Die Utopie muss also ohne solche „Schönwetter“-Bedingungen auch funktionieren, und sie muss den Crashtest auch möglichst besser bestehen als die anderen nicht wünschenswerten Alternativen.
Bei der Beschäftigung mit diesem Thema (Schlemm 2013) habe ich nach Erfahrungen mit dem Umgang mit solchen kritischen Umweltbedingungen gesucht. Falls die Unterlagen verlässlich sind, so lässt sich z.B. aus einem Vergleich der Inselgruppen Polynesien und Melanesien folgern, dass gerade dort, wo die Lebensbedingungen eher schwer sind, egalitäre und offene gesellschaftliche Strukturen sich bewährt haben, während hierarchisch-geschlossene Strukturen dort entstanden, wo die Probleme geringer waren (Seibel 1978). Auch die Commonsstudien (Ostrom 1999) zeigen, wie durch kollektive, den territorialen Bedingungen angepasste und flexible Regelungen empfindliche ökologische Ressourcen in angemessener Weise bewirtschaftet werden können. Von den westafrikanischen Krahn wird berichtet, dass diese Gesellschaft in „ständiger Bedrohtheit“ lebt und ihr Überleben vor allem durch die bestmögliche Mobilisierung der individuellen Handlungsfähigkeit gesichert wird (Seibel 1978).
Utopien, die auf die Selbstentfaltung gesellschaftlicher Individuen setzen, sind also durchaus geeignet, den Crashtest zu bestehen. Die Wahrscheinlichkeit dieser Entwicklungsmöglichkeit gegenüber den Trends der Ab- und Ausgrenzung und der unmäßigen weiteren Ausbeutung von Mensch und Natur ist in den letzten Jahrzehnten leider eher nicht gestiegen. Vielleicht verläuft die Entwicklung auch wie eine Berg-und-Tal-Bahn. Die menschliche Zivilisation auf kapitalistischer Basis befindet sich auf der Bergspitze eines bestimmten Zivilisationstyps mit hoher gesellschaftlicher Produktivkraft, jedoch auf ausbeuterischen Grundlagen. Von da aus gibt es vielleicht keine direkte Stufe hin zu Fortschritt und allgemeinem Glück. Der Aufstieg zum nächsten Berg erfordert erst einmal ein Zurück ins Tal, gefolgt von einem neuen Aufbruch mit anderen Mitteln. Wir können nicht „durch die Luft“ zum nächsten Gipfel. Aber wir können ihn immer im Blick behalten und auf dem Weg bleiben …
„Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.“
(Antonio Gramsci)
Literatur:
Bloch, Ernst (PH): Das Prinzip Hoffnung. Werkausgabe Band 5. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 1985.
Mester, Gerhard (2016): Karikatur „Klimawandel vor der Tür“. Online: http://www.sfv.de/fotos/l/Mester_Klimawandel_vor_der_Tuer.jpg (abgerufen 2016-09-29)
Negt, Oskar (2012): Nur noch Utopien sind realistisch. Politische Interventionen. Göttingen: Steidl.
Ostrom, Elinor (1999): Die Verfassung der Allmende: jenseits von Staat und Markt. Tübingen: Mohr.
Schlemm, Annette (2013)): Kapitalistische Naturverhältnisse führen zum Anthropozän. Online: https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2015/05/29/anthropozaen/ (abgerufen 2016-09-29)
Schlemm, Annette (2015b): Planetare Grenzen. Online: https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2015/05/31/planetare-grenzen/ (abgerufen 2016-09-29)
Schlemm, Annette (2016): Migration und Flucht im Kapitalozän. Online: http://www.thur.de/philo/pdf/2016_Migration und Flucht im Kapitalozän.pdf (abgerufen 2016-10-01)
Seibel, Hans Dieter (1978): Die Entstehung von Macht und Reichtum. In: Argument, Sonderband 32(1978), 101-116.
Tjaden, Karl Hermann (2009): „Gesellschaft“ und „Naturverhältnisse“ – Ansätze zu einer Konkretisierung der Begriffe. In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung. Nr. 79, September 2009. Online: http://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/article/490.gesellschaft-und-naturverhaeltnisse-ansaetze-zu-einer-konkretisierung-der-begriffe.html (abgerufen 2016-09-29)
Welzer, Harald (2010): Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird. Frankfurt am Main.: Fischer.