von Karl Kollmann
Grundriss
„Du lebst. Erinnerst du dich?“ – erst wenn ein Baumarkt in seiner Werbung so hinreißend formuliert, rumort es ein bisschen im Kopf, eine Art gedankliche Blähung mit werblich angestupsten, kurzem Innehalten. Von selbst kommt man da selten drauf – einfach zu viel Alltag. Marx hat zwar dichte Daten zur Entlohnung und den Arbeitszeiten in den Fabriken des neunzehnten Jahrhunderts gesammelt, sich darüber hinaus jedoch kaum für das tägliche Leben der Zeitgenossen interessiert. Das war ebenso bei den ihm nachfolgenden Linken meist ausgeblendet, sieht man einmal von Herbert Marcuse oder Erich Fromm ab. Anders bei den Bezugsgrößen der Konservativen und Rechten. Heideggers „Sein und Zeit“ ist ein solches Kondensat des Denkens über den Alltag in ziemlich verschwurbelter Sprache; Freuds kulturpsychologische Schriften, Georg Simmels Arbeiten zu Geld und Großstadt, oder Berger/Luckmanns „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ mit den alltäglichen Konversationsmaschinen sind da weitaus näher an die Lebenswelt der zeitgenössischen Menschen gerückt, ebenso war Bourdieu sehr nah am Alltag, aber links war er nicht.
Warum interessiert sich „die Linke“ so wenig für alltägliche Verhältnisse, sieht man von arbeitsökonomischen Gegebenheiten (Lohn, Arbeitszeit) ab? Wer ist denn überhaupt heute noch links? Die rosagrünen LOHAS und BOBOs mit selbstgefälliger Gutmenschen-Attitüde sind es definitiv nicht – das sind modisch verbrämte Konservative. Politische Korrektheit ist ihnen ein kleines blockwartähnliches alltägliches Herrschaftsinstrument, eine Sprachpistole die bei Bedarf aus der Tasche gezogen wird: „Nazi“, „Unmensch“, „Kaltland, du mieses Stück Scheiße“. Fangschuss! – das war es dann schon.
Die sozialdemokratischen Parteien haben bereits in den 1980er Jahren auf oligarchische Machterhaltungsstrategien umgeschwenkt und ihre alte Klientel zu Wahl-Konsumenten degradiert. Angepasst an die Logik von Marktgesellschaft und Spätkapitalismus – für Nachdenken, Machtdistanz und längerfristige Ziele nahm sich niemand mehr Zeit. Dazu kommt eine beeindruckende NGO-Industrie, statt der Stimme geht es da halt um die Spende. NGOs sind heute überall, wo mediale Aufmerksamkeit winkt, Flugkosten oder authentische Umweltfragen spielen keine Rolle. Überhaupt ist für gesellschaftlichen Fortschritt kein brauchbarer Akteur in Sicht, es gibt ihn einfach nicht, die Unzufriedenen bleiben rechten Kräften überlassen.
Ansichtssachen
Geburt und Tod sind, soviel steht fest, mittlerweile aus der Lebenswelt ausgesperrt und in halb geschlossene Anstalten verlagert. Passiert etwas grob Unvorhergesehenes, eine Katastrophe, stehen Trauma-Experten bereit. Geburt, Tod, Gewalt, Unfälle, Terror sind Ereignisse, die unsere Nanny-Bürokratie mit Psychotherapie beantwortet. Tote und das Grauen auf der Leinwand bleiben allerdings gutes, großes und wertvolles Theater. Nur wenn der neben einem im Kino sitzende Zuschauer tot im Sessel zusammensinkt, muss diese Erfahrung rasch repariert werden – eine paradoxe und surrogate Wirklichkeit.
Wenn über Alltag gesprochen wird, sollte zuerst etwas über die platte Vertrautheit und die fehlende Fremdheit des Alltäglichen gesagt werden. Wir sind intensiv darin geschult worden, die unendlich vielen Routinen der Lebenswelt halbwach, schläfrig, wie automatisiert zu durchlaufen. Verhaltensmechanisch auf endlos scheinende Spielregeln unserer Lebenswelt zu reagieren, schlafwandelnd vom Wohnplatz durch die Straßen zum Arbeitsplatz zu gehen oder zu fahren und dort dann in dessen mühevoll erlernten Gewohnheiten einzutauchen, wie schon zuvor und danach zuhause. Nur wenn etwas völlig Ungewohntes passiert, wachen wir aus dieser Anpassung auf, dann wird es fremd, unsicher, fragil und bestürzend.
Bürokratie, also Verwaltung des Einzelnen durch die Obrigkeit und der Handel (Wirtschaft) führten zur Entwicklung der Schrift in Mesopotamien und Ägypten. Zählen, Einteilen, Ordnen sind Unterwerfungsmechanismen innerhalb jedes sozialen Gebildes. Aber zur Bürokratie haben Linke seit jeher ein gestörtes Verhältnis, wie David Graeber beobachtet hat, oft vergötzen sie diese geradezu. Dabei sind kapitalistische Unternehmen mittlerweile exzessive Verwaltungskolosse, und staatliche Bürokratien verstehen sich betriebswirtschaftlich sowie kundenfreundlich. Und, brechen wir gleich noch ein anderes sogenanntes linkes Tabu: die Obrigkeit, also heute der Staat, verdient an der Ausbeutung eines durchschnittlichen Arbeitnehmers mehr, als das Unternehmen, bei dem dieser beschäftigt ist. Steuern – nichts anderes als der Obolus an die bürokratische Herrschaft – zahlen wir selbst dann, wenn wir mildtätig gewährte Sozialhilfe beziehen.
Verwaltete Menschen
Ein Kind, das ohne Kenntnis von Geburt und Tod durch die Wirklichkeit geschleust wird und dem zugleich Kindergarten und Schule nicht als fremde, feindselige Außenwelten erscheinen dürfen, ist existentiell schon von vornherein gebrochen und zurechtgerichtet für eine schön inszenierte Verwaltungswelt, für den modernen Überwachungsstaat und seine spätkapitalistische Wirtschaft. Man darf gelegentlich Parteien auswählen, ähnlich wie die Marke des Jogurts oder des Waschmittels.
Das Produkt sind Menschen, die mit Frustrationen nur schwer umgehen können und damit wenig Chance haben, sich mit dem System der Gesellschaft kritisch auseinanderzusetzen, etwa Besseres oder gar Anderes zu wollen. Nichtsublimierbare Unzufriedenheit schafft Destruktion, soviel sollte übrigens zur Kultur bekannt sein.
Nachdenken schadet nicht, es tut auch nicht weh, heißt es manchmal. Jedoch, das stimmt nicht: Reflexion ist meist schmerzhaft. Wenn einer oder eine über die vielen vertanen Chancen auf ein gelungenes Leben in einer nicht glückenden Gesellschaft – und dass das überhaupt ganz anders sein könnte – nachdenkt, macht das depressiv und verzweifelt. Mit Reflexion verhält es sich ähnlich wie mit plötzlichen existentiellen Einschnitten: die platte Vertrautheit des Alltags implodiert und verkehrt sich in feindselige Fremdheit, man stolpert, verletzt sich, blutet. Die geschmeidige ruhige Routine zerbricht, darum lohnt sich Reflexionsvermeidung für den Funktionsapparat in uns. Die Zerstreuungsmöglichkeiten, die Reflexives abhalten oder eindämmen, sind daher unendlich mannigfaltig wie gewinnträchtig geworden.
Unrast
Ablenkung braucht es nicht nur bei großen existentiellen Brüchen. Ohne wiederkehrende Zerstreuungsformen wird „Alltag“ schnell fad, langweilig, Unruhe macht sich breit. Man spult seine eintönigen Routinen dösend, und mit matter, ganz eingeschränkter Wahrnehmung lustlos ab. Nur aufs Wochenende konzentriert sich die Aufmerksamkeit, auf Events, Ereignisse, Erlebnisse, Abenteuer, Neues jenseits vom wochentäglichen Einheitsbrei. Die Alltagsseele weiß das schon – es wird schrecklich werden bis 65 und länger das alles auszuhalten, auch wenn die Arbeitsumstände und Arbeitsorte vermutlich schneller wechseln werden, als einem dann lieb ist. Irgendwie flüchtet man immer vor dem eigenen Tod. Und den Arbeitstagabenden.
Hoffnung konzentriert sich auf die drei Wochenendnächte, vorausgesetzt man hat das nötige Kleingeld fürs Feiern. Und natürlich die Urlaube. Ein großer und vier Wochenendflüge; nach ein, zwei Jahrzehnten funktioniert oft nicht einmal das mehr. Unruhe, Langeweile, Unzufriedenheit und Müdigkeit werden so zu grundsätzlichen Gemütslagen , wie schon bei Schnitzlers Großbürgern vor hundert Jahren.
Gäbe es nicht diese Vielfalt und Pseudovielfalt aus konsumierbarer Unterhaltung, Kaufgelegenheiten, Besorgungen, Arbeit, anderen Verpflichtungen, Fahrtzeiten, Wartezeiten und materiellen Erwartungen oder Hoffnungen, diese vielen fatalen Aussichten auf Neues, dann würde schnell das Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit, Zerriebenheit und Entfremdung offenbar werden. Was alsdann aber nur mit viel Alkohol oder Valium auszuhalten ist – die Banalität des Alltäglichen und Farblosen lugt ohnedies schon aus jeder Ritze hervor und macht Kopfschmerzen.
Unterschreitungen, alltäglich
Es genügt, sich einfach umzusehen: Das Wohnzimmer ist wie immer schon seit Jahren, es ist nicht so schön, wie die Fernseh-Wohnzimmer. Die Wohnung zu klein, zu billig, zu laut; das Stiegenhaus dreckig. Die Straße lärmt, die Dieselautos stinken. Die Umgebung ist abgewohnt – jeden Tag das Gleiche, alles wiederholt sich, nichts wird besser, anders, neu. Nachbarn bleiben Nachbarn und man entkommt ihnen nicht einmal durch Umzug, die Aggressivität der Autofahrer und ebenso der Radfahrer bleibt, geradeso wie die müden und ungewaschenen Benutzer der U-Bahn, die gierigen und abwechslungslüsternen Konsumenten in den Einheitsgeschäften. Dazu die tägliche Frotzelei an den Tankstellen mit ihrem stündlichen kleinen Preiswechselspielchen. Das Service der Heizungstherme steht an, die Kaffeemaschine ist defekt, man benötigt ein paar neue Hemden, da sich die alten auflösen, die Kniegelenke schmerzen. Unendlich viele Verrichtungen um den Alltag halbwegs aufrecht halten zu können. Und dazu die Plattheit der vielen Fernsehkanäle, das „Mitten im Leben“ ist zur Bankenwerbung verkommen und Heimat bleibt ein Wort, das man unter rosagrünen Freunden nicht in den Mund nehmen sollte, außer man heißt van der Bellen und es ist Wahlkampf.
Am Arbeitsort wachsen zwar die Anforderungen, die farblosen Gestalten bleiben indes gleich. Cholerische Chefs, die Arroganz der vielen Wichtigtuer und die Banalität der Sätze, mit denen sie die Umgebung herumschubsen, moderne Sklaven. Und alle versichern sich wechselseitig der Achtsamkeit und des Respekts voreinander, auch die Armee der Intriganten, die es überall gibt. Zögerlich und müde bewegt man sich in diesem dunkelgrauen Kosmos der Alltagsbrühe, alles bleibt banal, abgenutzt, erschreckend, widerwärtig und hoffnungslos.
Terror…
Kapitalismus, Bürokratie und das Techniksystem sind alle miteinander arrangiert und ziemlich gleich schlimm. Na klar wäre es sinnvoll, die infrastrukturellen Schätze, die einmal mit guten Gründen dem Kapitalismus durch Verstaatlichung und Kommunalisierung entzogen wurden (der Verwaltungselite für deren Zwecke übergeben wurden: Eisenbahn, Post, Telekommunikation, Energieversorgung, Wohnen (Sozialwohnungen), Bildung, Kultur, Gesundheit, usw.) nicht erneut der kommerziellen Verwertung zuzuführen (was vielfach ohnedies inzwischen wieder geschehen ist). Und klar, Natur, Biologie, Schwangerschaft lässt sich für modischen It-Girl-Feminismus durch Technik ersetzen: „Ich liebe Babys, aber keine eigenen, denn ich will mit Kacke nichts zu tun haben. Nein, ernsthaft: Damit ich mir Kinder vorstellen könnte, müssten sich die Umstände dramatisch ändern und ich weiß nicht, ob sie das jemals tun werden. Es ist eine Schande, dass Frauen sich immer noch zwischen Mutterschaft und allem anderen entscheiden müssen. Außerdem bin ich überhaupt nicht wild auf eine Schwangerschaft. Dafür sollte es wirklich technische Alternativen geben.“ Ja, warum sollte denn ein Kind nicht auch zum Konsumgut werden – das Entsorgungsproblem wird sich doch irgendwie lösen lassen.
… und staatliche Überwachung
Alle Bürger werden mittlerweile halbwegs überwacht und die Raster werden zusehends enger. Das rechtfertigt für Politik und Bürokratie der Terrorsektor des modernen Islam und da sich die Menschen vor Terror fürchten, akzeptieren sie alles, was scheinbar Schutz verspricht. Mit jedem Terroranschlag wird dieses Überwachungsnetz dichter und das kontinuierliche Versagen von Polizei und Geheimdiensten bleibt kaschiert durch heute oder künftig plausible technische Möglichkeiten. Bei der persönlichen Sicherheit, auch der des eigenen Schrebergartens, hat die Polizei – jene nationalstaatliche Bürokratie, der es erlaubt ist, die Einhaltung der Gesetze mit Gewalt bis zum Tod durchzusetzen – versagt, aufgegeben, darum investieren Menschen zwangsläufig Unsummen in Alarmanlagen, Sicherheitstüren und persönlicher Bewaffnung. Sicherheit ist nun weitgehend privatisiert, Europa wird zusehends USA.
Die schwarzen Ritter
Dennoch werden die Kriminalkommissare mehr, im Fernsehen vor allem: Massenmediale Unterhaltung zelebriert Kriminalität und bereitet die Zuseher damit auf die neuen Wirklichkeiten vor. Und immer, seit vielen Jahren schon, sind die vermummten Sonderkommandos dabei. Sie vervielfachen sich, moderne schwarze, anonyme Ritter, die mit ihren Maschinenpistolen das Verbrechen bestrafen, den Aufrührer eliminieren und das Publikum erlösen. Nahezu nahtlos geht das über in die Wirklichkeitsberichterstattung. Wirklichkeit gibt es hauptsächlich nur als Simulacrum (Jean Baudrillard), als virtuellen Nebel- und Schutzschirm.
Täuschung gewinnt
Überhaupt bräuchte es einen anderen Blick. Die meisten Menschen arbeiten erwerbswirtschaftlich, also gegen Geld, und ein großer Teil des Ergebnisses davon ist ein Tribut an die Institution, die uns beherrscht und wo man ab und zu die herrschenden Protagonisten auswählen darf. Früher kassierte der Fürst, heute der Nationalstaat: Umsatzsteuer, Lohnsteuer, Mineralölsteuer, Grundsteuer (zahlen auch die sog. kleinen, armen Mieter), Tabaksteuer, usw. Praktisch wenn die meisten Leute einen guten Sinn darin sehen – solche eigentümlichen Wahrnehmungsmuster hätten sich frühere Gewalthaber sehnlichst gewünscht, eine Gruppe von kreuzbraven christlichen Masochisten, die Verständigkeit für herrschaftliche Tribute haben, besser noch calvinistische Masochisten, denn da dürfen die Braven und Erfolgreichen auch ihren Luxus genießen. Staaten sind raffgierige Gebilde, wenn man die Eliten machen lässt. Eine parteiendemokratische Struktur mit fünfjährigen Wahlzyklen verhindert da nur die besonders großen Exzesse, Menschen gewöhnen sich an Vieles schnell und vergessen rasch. Die Medien mit ihrer heute inhärenten Sekundärwirklichkeits-Beschleunigung, dem Aufblasen von Nuancen, der Skandalisierung, den falschen Maßstäben (- sind jetzt 0,7 Prozent Inflation wenig oder viel?) sorgen dafür. Zuverlässig.
Einmal war die europäische Menschheit nahe dran, am Aufbau von etwas Neuem, Besseren. Das war nach dem Gewaltexzess des Ersten Weltkriegs, 1918. Nach dem nächsten unfassbaren Gewaltexzess, dem Zweiten Weltkrieg, 1945 gab es so eine Chance nicht mehr – Bürokratie und Wirtschaft waren schon zu fest in die Verhältnisse der globalen „Wirklichkeit“ eingefroren. Und 1989 war ohnedies klar, was alle wollten: „Videorecorder, Marlboro und Golf GTI“ wie das ein Ex-DDR-Kabarett beklagte. Und heute? Heute sind reflexionsarme, selbstgewisse Gutmenschen bemüht, vormittelalterliche Religionen zu hofieren, wegen Multikulti, Toleranz und so weiter. Immanuel Kant, Karl Marx, Sigmund Freud und viele andere würden heftig enttäuscht sein: aus ihrer politischen, ökonomischen und sexuellen Aufklärung ist eine BOBO-Retro-Anbiederung geworden. So war das wohl damals – mit dem Aufbruch aus der Unmündigkeit – nicht gemeint.