von Severin Heilmann
Ist das Leben eine ernste Sache? Ein flüchtiger Blick in die Nachrichten genügt und schon erhalten wir indirekt Aufschluss. Ja, das Leben ist eine ernste Sache, lässt sich zweifelsfrei an den Mienen unserer Funktionäre ablesen, jenen Repräsentanten, Hüter, Verteidiger oder Verwalter dieser Ordnung: Ihnen haftet ein unverkennbarer, gestrenger, zuweilen sorgenvoller Ausdruck an, in ihren Wirkstätten, Regierungssitzen, Kirchen, Gerichtsgebäuden, Bankhäusern, Amtsstuben und Kasernen wohnen Gravität und Bedeutungsschwere, es zieht hinunter und selten wird gelacht. Dem Anschein nach steht hier nichts weniger als unser aller Leben selbst auf dem Spiel. Aber welches Leben und welches Spiel?
Es geht ja oft die Rede vom Ernst des Lebens und dass er dann und dann einsetze und doch lässt sich nicht recht ausmachen, worin er denn nun bestehe und welche Veranlassung ihn ins Leben brächte. Zumeist wird dabei – didaktisch ungeschickt, aber treffend – auf die Zeit der Einschulung Bezug genommen, in der dem jungen Menschen die Welt sukzessive in zwei unterschiedliche Sphären divergiert: Die bisherige seiner Kindheit und eben jene der Schule; was später in den Kategorien Freizeit und Arbeit zur vorherrschenden und beherrschenden Lebensrealität werden soll.
Spielen ist zwecklos
Der Zweck der Arbeit ist aber kaum je die Arbeit selbst, vielmehr bemittelt sie dazu, sich in der Freizeit von ihr zu erholen. So hat dann aber auch die Freizeit nicht sich selbst zum Inhalt, sondern eben die Instandsetzung und Instandhaltung für die Arbeit. Was unweigerlich zur Folge hat, dass weder in der Arbeit noch in der Freizeit sich jemand ernstlich dem Spielerischen widmet, selbst dort nicht, wo es die einzig gestellte Forderung des Lebens wäre. Es heißt, „Guter Sex hält fit!“ und „Laufen beugt vor!“, „Küssen stärkt das Immunsystem“, „Spazieren reduziert Stress“ und „Lachen hilft gegen Depression“ – mechanisch und lustlos wird das Freizeitpensum abgearbeitet, weil unser Tun stets einer anderen Sache nutzbringend sein soll. Das Spiel aber genügt sich und braucht keinen von ihm verschiedenen Zweck zu erfüllen.
Nicht genug damit, bedrängt uns im Schulalter der Ernst des Lebens auch in der heimtückischen Frage, was man denn einmal werden wolle. So lernen wir uns der spontanen, lustvollen Möglichkeiten enthalten, die in der Gestaltungsfülle des je gegenwärtigen Moments liegen, und uns stattdessen damit zu bescheiden, was davon für die getroffene Zielsetzung vermeintlich zweckmäßig erscheint. Dieses erhoffte Ziel ist jedoch weder greifbar noch nennbar und wie in einem Irrkreis entpuppt es sich als bloßes Mittel für ein nächstes. Gleichwohl, wir enthalten uns, um zu lernen, um so ein ernst zu nehmendes Mitglied unserer Gesellschaft zu werden, um einen Job zu finden, um eine Familie zu erhalten, um die Kinder in die Schule zu stecken, um ihnen einen Job zu ermöglichen, um ihnen zuzusehen, wie sie in gleicher Weise weiterwurschteln. Angesichts dieser Zirkelschlüssigkeit des Lebens ist die schleierhafte Teleologie unserer Zweckrationalität völlig unhaltbar: Der große Moment wird nie kommen, das ersehnte Ziel am Ende unserer Anstrengungen nie erreicht. Wir ahnen es und sind frustriert und opfern der Zukunft weiterhin Gegenwart.
aber nicht sinnlos
Solange wir sagen, dieses oder jenes habe keinen Zweck oder ein anderes keine Zukunft, anstatt wesentlich zu fragen, ob es denn Gegenwart habe oder jenes Sinn, sind wir stets eher im Dort als im Hier, im Dann statt im gegenwärtigen Moment; so lange wird das Leben nicht die spielerische Leichtigkeit entfalten, durch die es sich selbst würde tragen können. Und so ertragen wir es, nehmen es als Bürde hin und misstrauen ihm grundsätzlich, weil wir in Anbetracht der Unwägbarkeiten dieser Welt nie sicher sein können, ob unser Einsatz sich gelohnt haben wird. So treffen wir Maßnahmen und Vorkehrungen, wir beugen vor und sichern ab. Ernster lässt sich’s kaum leben!
Ernst dieser Sorte ist die eigentliche Antithese des Spielerischen und recht besehen auch des Lebendigen. Ist dem Spiel wie dem Leben die Freiwilligkeit der Teilnahme erste Bedingung, so ist diese im Ernst verschwunden. Seine paradoxe Forderung lautet daher: Du musst spielen!, was einen in eine ähnlich unlösbare Zwangslage versetzt wie Du musst leben! oder lachen! oder lieben! etc. – Lebensäußerungen, die sich spontan und aus sich heraus und ohne weitere Absicht entfalten, lassen sich nicht anordnen, sie entziehen sich weitgehend äußerer wie auch innerer Kontrolle (es ist die Meisterschaft und das Privileg begnadeter Künstler und Schauspieler, sich einem kontrollierten Kontrollverlust zu unterziehen). Ungeachtet dessen verdoppeln wir die Anstrengungen, um der gestellten Forderung nachzukommen, was freilich ihre Erfüllung immer unmöglicher werden lässt. Ich bemühe mich, dich zu lieben! ist eine absurde Absichtskundgabe, nicht anders als Ich bemühe mich, zu lachen! oder zu spielen! usw. Die permanente Frustration in diesem Double-bind-Schlamassel lässt uns mit Verbissenheit und erbitterter Ernsthaftigkeit der Welt entgegentreten.
Ernst spielen
Anders der „heilige Ernst“ (Huizinga) des Spiels: Der ist eine Täuschung, die wir durchschauen und die uns daher nur zeitweilig in ihren Bann zu ziehen vermag. Was aber, wenn das Spiel nicht mehr durchschaubar ist, ist es sein Ernst dann noch? Oder anders gefragt: Ist es bitterer Ernst, das Leben? Oder ist dieser letztlich nur ein gespielter? Unter der Prämisse freilich, dass Leben grundsätzlich Spiel ist (und was könnte es anderes sein?), lässt sich immerhin die Vermutung anstellen, dass Letzteres der Fall ist; dass wir eben nur spielen, nicht zu spielen, wobei wir diesen vertrackten Umstand einfach nicht mehr durchschauen. Die an sich bewusste und faszinierende Illusion des Spiels hätte uns ganz und gar absorbiert. Zuschauer und Darsteller gleichermaßen, spielen wir unsere Rollen mit bedeutungsvollem Ernst, nichts ahnend und klatschen Beifall oder empören uns. Unsere gewohnten Spiele unterbrechen zwar kurz dieses eine, superiore Spiel auf willkommene Art, verschärfen so jedoch auch den Kontrast zu seinem vorgeblichen totalen Ernst. In dieser merkwürdigen Situation wäre angeraten, das Spiel zwar ernst zu nehmen, nicht aber seinen Ernst, jedenfalls nicht zu ernst. Gute Schauspieler vermögen das!