Zündholz auf Dynamit

Flüchtlinge, die zuhause bleiben – Binnenvertriebene im Osten der Demokratischen Republik Kongo

von Stephan Hochleithner

Während in der Republik Österreich ein paar hundert Menschen pro Woche um Asyl ansuchen und Teile von Politik und Bevölkerung sich schier überfordert fühlen, sind weltweit etwa 50 Millionen Menschen auf der Flucht vor lebensbedrohenden Umständen. Allein in der Demokratischen Republik Kongo befinden sich aktuell etwa 2,9 Millionen gewaltsam Vertriebene in Bewegung. Ihr Alltag ist seit fast 20 Jahren von grausamer Gewalt geprägt, vom Tod geliebter Menschen, vom wiederholten Verlust alle ihrer Habe und von einer unwägbaren Zukunft. Die Zahl derer, die einen Fluchtversuch in Richtung Europa wagen, ist dennoch verschwindend gering. Der Großteil der Flüchtlinge bleibt innerhalb der Grenzen des eigenen Landes.

Bis etwa zu seinem 20. Geburtstag habe er keine Waffe gesehen, habe gar nicht gewusst, wie so etwas aussehe, erzählt der heute etwa 40-jährige Joseph. Doch dann, mit einem Mal, waren sie überall, die AK-47- Sturmgewehre und Macheten. Über Nacht waren Kämpfer in seine Heimatstadt im Osten der Demokratischen Republik Kongo, kurz DRC, eingefallen. „Als ich mich wieder aus dem Haus traute“, sagt Joseph, „lagen links und rechts der Straßen Leichen, aufgestapelt wie Bauholz.“ Er erinnert sich noch genau an die Schüsse, die Schreie und vor allem an die Todesangst, die seit damals zu seinem Alltag gehört.

Joseph ist ein Binnenvertriebener, von denen es in seiner Heimat viele gibt. Besonders der Osten der DRC, die in ihrer flächenmäßigen Ausdehnung ungefähr der Größe von Mitteleuropa entspricht, ist nunmehr von unaufhörlicher Gewalt geprägt. Millionen unbewaffneter Zivilisten und Zivilistinnen wurden getötet, selbst Kinder, sogar Säuglinge zählen zu den oft brutal ermordeten Opfern.

Auch heute noch sind Massaker und Vergewaltigungen an der Tagesordnung. Als 1994 der Konflikt zwischen Hutus und Tutsis im benachbarten Ruanda eskalierte, schwappte die Gewalt auf den Kongo über, wo ebenfalls Angehörige der beiden Gruppen lebten. Zündstoff gab es auch in der DRC genug, erklärt Joseph. Er steht in einer Runde von Männern und Frauen, die nacheinander oder in kleinen Gruppen an einem Versammlungshaus am Rande der 200.000- Einwohner-Stadt Oicha eintreffen. „Es war, als würde man ein Zündholz in einen Stapel Dynamit werfen“, fährt Joseph fort und erntet zustimmendes Murmeln für seinen Vergleich. Auch die anderen in der Runde sind Binnenvertriebene, Internally Displaced Persons oder kurz IDPs. Die Bezeichnung benennt Flüchtlinge, die die Grenzen des Staates, in dem sie vor der Vertreibung gelebt haben, während ihrer Flucht nicht überschreiten. Weltweit gibt es, abhängig davon, wo gerade welcher Konflikt tobt, etwa doppelt so viele IDPs wie Flüchtlinge. Für 2014 liegt die Schätzung des Monitoring Centers für Binnenvertriebene (IDMC) bei etwa 38 Millionen.

Die Frauen und Männer, die nahe Oicha auf den lokalen Mukamah, einen traditionellen Machthaber in Landfragen, warten, sind Vertreter von IDP-Gebietsgruppen. Deren Mitglieder flohen entweder gemeinsam aus demselben Gebiet oder fanden sich hier in Oicha zusammen. Ihre gewählten Sprecher und Sprecherinnen erhoffen sich vom Mukamah die Zuteilung von Land. Anders als es einem oft erscheinen mag, leben IDPs im Osten der DRC kaum in Camps. Fast alle finden Unterkunft bei Privatpersonen, in deren Haushalten und auf deren Feldern sie mitarbeiten.

In den vergangenen Jahren haben sich diese Arrangements zunehmend gewandelt. Was früher auf Basis nichtmarktwirtschaftlicher Reziprozität funktionierte, ist nun zunehmend der Kommerzialisierung ausgesetzt. Arbeit, Kost und Logis werden zueinander und mit der Zahl von IDPs und verfügbaren Unterkünften in Rechnung gesetzt: Ein Markt für sichere Zufluchten entsteht, und damit steigt auch die Zahl ausbeuterischer Verhältnisse.

Die Gruppe wartet noch immer auf den Mukamah, als in einiger Entfernung Gefechtslärm anhebt. Alle blicken in die Richtung, aus der Artilleriefeuer zu hören ist. Doch sie erschrecken nicht. Der Beginn der Offensive war im Radio angekündigt worden. Valérie, die Sprecherin der IDPs aus einem etwa 25 Kilometer entfernten Gebiet, ist bereits zum dritten Mal auf der Flucht. Auch sie musste, wie Joseph, alles hinter sich lassen, darunter eines ihrer Kinder. Es war einfach nicht zu finden gewesen, sagt sie. Erst nach Jahren in der Vertreibung fanden sie und ihr erster Mann wieder einen Ort zum Leben, an dem sie auch Zugang zu einem kleinen Feld hatten, das sie – wie fast alle im Osten der DRC – händisch bestellten. Doch schon einige Zeit später wurden sie erneut vertrieben. Ihr Mann und drei ihrer Kinder wurden im eigenen Haus getötet.

Valérie zuckt mit den Schultern. Sie habe dann noch einmal geheiratet, sagt sie, an dem Ort, von dem sie nun nach Oicha geflohen war. Ihr zweiter Mann ist vor einigen Tagen aufgebrochen, um nach dem heimischen Feld zu sehen. Ob es noch existiere, ob es von einem Kollaborateur in Besitz genommen oder von Kämpfern geplündert worden sei. Gehört hat sie seit seinem Aufbruch nichts mehr von ihm.

Land ist im Osten des Kongo von zentraler Bedeutung, nicht nur für die Ernährung der Bevölkerung, sondern auch für soziale Belange. Für IDPs ist Zugang zu Boden eine Frage des Überlebens, denn Nahrungsmittelverteilungen durch internationale Organisationen gibt es in der Regel nicht, und auch sonstige Hilfestellungen für IDPs sind rar. Den NGOs fehlt das Geld, vom kongolesischen Staat ganz zu schweigen. Die Gastfamilien können die Vertriebenen ebenfalls nicht ernähren. Auch sie leben inmitten eines chaotischen Krieges, auch ihnen geht es selten gut genug, um es sich leisten zu können, eine weitere Familie zu versorgen. Und so nehmen IDPs immer wieder immense Risiken auf sich, um in die Gebiete zurückzukehren, aus denen sie vertrieben wurden, um unter Umständen zumindest einen Teil der Ernte retten zu können. Ein großer Teil jener, die dies wagen, bezahlt dafür mit dem Leben.

Finden IDPs keinen Zugang zu Land an ihrem neuen Aufenthaltsort, ziehen sie entweder weiter, in der Hoffnung, an einem anderen Ort fündig zu werden, oder verdingen sich als Tagelöhner und Tagelöhnerinnen. Sie arbeiten im Austausch gegen Essen auf den Feldern lokal Ansässiger, transportieren deren Produkte zu den Märkten, um sie feilzubieten, oder erledigen andere Tätigkeiten, wie Wassertransport oder Aufgaben in der Produktionskette von Palmöl. Alles in Handarbeit, versteht sich, denn Strom gibt es hier nur aus Generatoren. So auch in der Großstadt Butembo, der Handelsmetropole von Nord-Kivu, die nachts in völliges Dunkel getaucht ist. Trotz des Konfliktes verlassen täglich riesige Mengen an Rohstoffen das Land. Palmöl, Holzkohle, Tropenhölzer, Kaffee, seltene Erden, Metalle. IDPs werden in all diesen Bereichen in Produktion und Abbau als enorm günstige Arbeitskräfte eingesetzt, werden nach abgelieferter Menge bezahlt oder erhalten Tageslöhne im Dollar-Cent-Bereich. Der Preis für eine Flasche lokal gebrautes Bier liegt dennoch bei etwa 3 US-Dollar.

Ohne ein eigenes Feld oder ein Grundstück, um ein Haus zu errichten, ist es für einen jungen Mann enorm schwierig, eine eigene Familie zu gründen, erzählen die Geschwister Constant und Julienne. Sie wollen deshalb in Oicha bleiben, denn in der Stadt besteht zumindest die vage Hoffnung auf einen Job. Constant wäre am liebsten Angestellter in einem Gemischtwarenladen, denn mit Handel, so habe er gehört, lasse sich gutes Geld verdienen. Julienne sei dabei, für eine Nähmaschine zu sparen, um als Schneiderin etwas zu verdienen. Doch das mit dem Sparen sei so eine Sache. In einigen Monaten soll ihre älteste Tochter zur Schule gehen, und das ist teuer. Darüber hinaus, meint Julienne, wisse man ja nie, wann man weiterziehen müsse. Auch Oicha ist nicht uneinnehmbar.

Wie um diese Aussage zu bestätigen, schlägt etwas später einige hundert Meter entfernt im Wald eine fehlgeleitete Mörsergranate ein. Die Explosion ist nicht mehr als ein lautes Platzen, kleine Schrapnelle sausen in alle Richtungen. Die Gruppe beschließt daraufhin nach einigen Stunden des Wartens, das Treffen mit dem Mukamah zu vertagen. Es gebe ja ohnehin kein Zeichen dafür, dass er noch auftauchen werde.

Die Offensive nahe Oicha ist eine von mehreren groß angelegten Aktionen gegen Milizen, durchgeführt von der kongolesischen Nationalarmee FARDC und unterstützt von der FIB, der ersten Eingreiftruppe in der Geschichte der Vereinten Nationen. Insgesamt gibt es im Osten der DRC etwa 25 bewaffnete Gruppierungen verschiedenster Größe, mit völlig unterschiedlichen Zielen und Wegen, sich zu versorgen. Obwohl einige davon auch mit sogenannten Konfliktmineralien handeln, spielt dieser Wirtschaftszweig nur eine untergeordnete Rolle in der Fortdauer der Konflikte. Die Finanzierung der Kämpfe funktioniert zu großen Teilen über Produktion und Verkauf von Holzkohle, Besteuerung besetzter Gebiete und Wegezoll.

Die zentralen Dynamiken der Konflikte ergeben sich unter anderem aus dem Erbe des Terrors der europäischen Kolonialverwaltung, insbesondere Streitigkeiten um Land und deren wirtschaftliche Folgen, sowie aus historisch gewachsenen Spannungen und daraus resultierenden politischen Kämpfen. Schlecht oder gar nicht über lokale Zusammenhänge informierte Entwicklungsprojekte des Westens verschlimmern die Situation.

An einer Hütte auf der anderen Seite der Stadt Oicha wartet bereits eine Menschentraube auf Josephs Rückkehr, „seine“ IDPs, wie er sie nennt. Er seufzt, als er sie bereits von Weitem sieht. Auch heute wird er ihnen keine Neuigkeiten bringen. Für Joseph ist Oicha bereits die fünfte Station in den vergangenen 20 Jahren, seinem Leben auf der Flucht im eigenen Land. Auf die Frage, ob er schon einmal darüber nachgedacht habe, den Kongo zu verlassen, antwortet er mit Lachen. „Wohin soll ich denn gehen? In Uganda ist es auch nicht besser.“ Und Europa? Dazu sei er zu alt, sagt Joseph, eine solche Reise würde er nicht überleben. Und seine Frau und die jüngeren Kinder erst recht nicht. „Nach Europa, dahin gehen nur jene, die wirklich gar nichts mehr zu verlieren haben.“

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