Wo entstehen die neuen Menschen?

Über Keimformen post-kapitalistischer Subjektivitäten

von Andreas Exner

Die Rede von der Keimform suggeriert abgrenzbare soziale Orte, die sich entlang anderer Prinzipien organisieren als ihr Saatbett, die wachsen und einen neuen gesellschaftlichen Strukturbestand ausbilden. Das Neue, so heißt es dann entsprechend, werde im Schoß der alten Gesellschaft ausgebrütet. Unter bestimmten Bedingungen könne dieses Neue die alte Gesellschaft schlussendlich ersetzen.

Der Begriff der Keimform wird in diesem Artikel in einem weiten Sinn verwendet, der sowohl allgemeine Theorien der sozialen Innovation und ihren Begriff der Nische umfasst als auch die spezifische Keimformdebatte, wie sie ausgehend von Texten der Gruppe Krisis entwickelt worden ist.

Die Überlegungen dieses Artikels sind weder Agitation noch Handlungsanleitung. Der Text will nicht anstiften, sondern etwas bedenken. Allerdings geht es ihm auch nicht um eine dem Autor oder der Gesellschaft äußerlich gedachte Theorie ohne Bezug zu Praxis. Der Kern der Überlegungen ist ein zweifacher: Erstens werden technologieorientierte Sichtweisen problematisiert; dabei wird kein Wert darauf gelegt, diese Problematik in eigenen, früheren Arbeiten oder in denen anderer nachzuweisen. Zweitens wird eine kritische Sicht auf einen bestimmten Begriff von Emanzipation entwickelt.

Anlass dazu gibt die These, dass sich die kapitalistische Produktionsweise in bestimmten Praktiken herstellt. Daraus folgt, dass eine Ablösung dieser Produktionsweise andere Praktiken erfordert und sich in der Etablierung neuer Praktiken darstellen würde. Praktiken werden in dieser Hinsicht weit gefasst, und zwar als routinisierte Handlungskomplexe, die Selbstverständnisse, Deutungen der Welt und der anderen, Gefühle, implizite oder explizite Normen, Sprechakte sowie material orientiertes Tun umfassen. Eine Praktik tut also nicht nur etwas mit der Welt, sondern ebenso mit denen, die da tätig sind.

Nun ist ein Teil jener Praktiken, die in einer Gesellschaft vorherrschen, in der die kapitalistische Produktionsweise dominiert, ersichtlich problematisch. Und zwar in dem Sinn, dass sie Hunger, Obdachlosigkeit, vermeidbare Krankheiten und soziale Isolation produzieren. Diese sind zudem mehr oder weniger herrschaftlich geprägt, das heißt, bestimmte Gruppen von Menschen sollen sich anderen dabei unterordnen. Dieser Problemkomplex wird eingangs angerissen, bildet aber nicht den Fokus.

Es gibt daneben noch ein anderes, ebenso weites Feld von Leidenserfahrungen. Diese haben mit dem Selbstverständnis von Menschen sowie mit ihrer psychischen, kognitiven und affektiven Konstitution zu tun. Das damit verbundene Leiden trägt daher historisch spezifischen Charakter. Selbstverständnis und Konstitution wandeln sich historisch. Parallel dazu verändern sich Formen und Wahrnehmungen dieses Leidens. Dieser Überlegung geht der Artikel vorrangig nach. Selbstverständnis und Konstitution im besagten Sinn haben, so die These, viel mit der tagtäglichen Fortführung der kapitalistischen Produktionsweise zu tun. Eine Veränderung dieser müsste daher auch eine Veränderung von Selbstverständnis und Konstitution umfassen, wie sie sich in Praktiken herstellen. Zugleich scheinen bestimmte Selbstverständnisse und Konstitutionen schon Voraussetzung für eine post-kapitalistische Produktionsweise zu sein. Dies ist mit der Rede von Keimformen einer post-kapitalistischen Subjektivität gemeint. Abgesehen von den „harten“ Fragen von Herrschaft, sozialer Isolation, des Hungers der Obdachlosigkeit u.a.m. widmet sich dieser Artikel also der Frage der Selbstverständnisse, der Konzepte des Menschseins, wie sie sich nicht nur ideell, sondern wesentlich in umfassend gedachten sozialen Praktiken dar- und herstellen.

Diese Selbstverständnisse und Konstitutionen, die im Folgenden der Begriff der Subjektform bezeichnet, interessieren unter einem doppelten Gesichtspunkt: einerseits im Besonderen als Quelle historisch spezifischer Leidenserfahrungen wie historisch ebenso spezifischer Möglichkeiten und Limitierungen der Reaktion darauf; andererseits im Allgemeinen als Voraussetzung für eine Ablösung der kapitalistischen Produktionsweise durch eine neue Weise der Produktion und Verteilung von Gütern und Diensten.

Die beiden genannten Bereiche von Leidenserfahrungen können tendenziell getrennt werden, weil sich ihre Ursachenkomplexe unterschiedlich bestimmen. Die genannten „harten“ Fragen können in allgemeinem Sinn als überhistorisch relevante Quellen von Leid betrachtet werden. Herrschaft bedeutet in diesem Kontext eine mit Gewalt durchgesetzte Kommandobeziehung und wäre etwas von Macht Unterschiedenes, die einen wesentlich produktiven im Unterschied zu einem bloß repressiven Charakter trägt. Der Begriff der Hegemonie bezeichnet diesen produktiven Aspekt, die Formung von Subjekten durch leidenschaftliche Verhaftungen an bestimmte, als erstrebenswert geltende Vorstellungen vom „richtigen Menschsein“. Herrschaftsverhältnisse wirken, insoweit sie hegemonial sind, nicht nur oder wesentlich über Gewalt. Der Hegemoniebegriff verweist auf einen fließenden Übergang zwischen Macht und Herrschaft.

Deshalb gilt die Trennung zwischen zwei unterschiedlichen Bereichen von Leidenserfahrungen auch nicht strikt. Denn spezifische Subjektformen sind häufig mit Herrschaftsverhältnissen verknüpft. Dies ist der Fall, wenn sie hegemonialen Charakter haben, d.h. einerseits als allgemein attraktiv wahrgenommen werden, andererseits mit sozialen Trägerschichten verbunden sind, die zugleich politische und ökonomische Herrschaft ausüben. Subjektformen erscheinen dann nicht allein attraktiv und für weitere soziale Gruppen erstrebenswert, sondern werden auch über Prozesse der Institutionalisierung und damit einhergehende herrschaftliche Durchsetzungsmöglichkeiten aktiv verbreitet. Ein Beispiel ist die Modellierung des Subjekts als eines selbstexpressiven, an Selbstentfaltung und zugleich an einem sozialen Markt orientierten Wesens. Diese Subjektform wurde in der so genannten creative class vorgebildet und ist inzwischen – in modifizierter Weise – etwa in den Institutionen der Verwaltung von Erwerbslosen implementiert. Sie wird dort auch beziehungsweise verstärkt mit Zwang in Hinblick auf erwerbslose Menschen durchgesetzt.

Gleichwohl ist der zweite, historisch spezifische Bereich von Leidenserfahrungen nicht auf das Leiden am Zwang zur Verkörperung einer bestimmten Subjektform zu reduzieren. Vielmehr ist die hybride, in sich widersprüchliche Konstellation von Subjektformen eine davon zunächst unabhängige Quelle von Mangelerfahrungen, die als Leiden interpretiert werden können. Dies kann zur Entstehung neuer Subjektformen führen, die, wenn sie auch keine Hegemonie erringen, ebenfalls widersprüchlich aufgebaut sind und deshalb erneut spezifische Leidenserfahrungen generieren können.

In der Rede von der „Emanzipation“ verknüpfen sich Bestrebungen zur Überwindung von Leidenserfahrungen in den genannten „harten“ Fragen mit solchen zur Durchsetzung neuer Subjektformen. In vielen, wenn nicht allen Entwürfen einer anti-kapitalistischen Transformation sind solche neue Subjektformen implizit oder explizit als eine wesentliche Voraussetzung eingelassen. Darauf wird im Folgenden näher eingegangen. Weil Subjektformen grundsätzlich historisch spezifisch sind und immer wieder von kulturellen Gegenbewegungen als repressiv, willkürlich und einschränkend kritisiert werden (können), kann Emanzipation auf dieser Ebene kaum überhistorisch gefasst werden. Insoweit sich die Subjektform selbst als fragil und „leidensanfällig“ erweist und die (post)moderne Kultur auf besondere und konzentrierte Weise um die Frage der „richtigen Subjektform“ kreist, wären von diesem Punkt aus Überlegungen zu einer grundsätzlichen Kritik des Subjekts anzuschließen.

Die anti-kapitalistische Transformation im allgemeinen

Wenn wir uns für Wege aus der kapitalistischen Produktionsweise interessieren, so gilt es sich vor Augen zu halten, wie dieses Interesse sich bestimmt. Verstehen wir diese Produktionsweise als eine, die auf Lohnarbeit, einer umfassenden Vermarktlichung des gesellschaftlichen Stoffwechsels und der Orientierung am Profit beruht, so lassen sich abstrakt-allgemeine Kriterien des Neuen, das sich da in Keimformen zeigen soll, leicht gewinnen. Es geht um ein Produzieren in Gruppen ohne den Austausch von Tätigkeit gegen Geld und die damit implizierten Hierarchien, um eine Verteilung der Produkte ohne Dazwischenkunft von Märkten und damit auch um ein Produzieren ohne Profit.

Die Debatte um jene Keimformen, die solchen Kriterien heute schon Genüge tun, verbleibt in aller Regel auf jener abstrakt-allgemeinen Stufe, die anti-kapitalistische Transformationsentwürfe schon seit jeher charakterisiert. Konkrete Praktiken der Herstellung und Verteilung von Produkten und Diensten sowie des Zusammenlebens werden nach diesen Kriterien sortiert, als Solidarische Ökonomie oder als Commons bezeichnet oder in der Selbstbeschreibung von Akteuren dieser Praktiken so charakterisiert. Dazu werden strategische Überlegungen über notwendige Rahmenbedingungen angestellt, auf dass aus den Keimformen auch wirklich eine neue Form des Zusammenlebens entstehen möge.

Diese Überlegungen wiederum verorten sich in einem Bogen von mehr oder weniger militanten Strategien sozialen Kampfes bis zu Strategien einer sozusagen umgekehrten Kooptierung eines – so die Hoffnung – implodierenden oder schrittweise schrumpfenden Kapitals durch eine im Gegenzug die Reproduktion des täglichen Lebens immer breiter begründende Keimformpalette.

Welche Kritikfigur wird dabei unterlegt?

Gemeinhin wird die kapitalistische Produktionsweise hier zunächst einmal als irrational kritisiert, und zwar in der Weise, dass sie die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse negiere, was sich nicht zuletzt in ihren wiederkehrenden Krisen zeige, die Lebensperspektiven zerstören und auch viele Leben selbst. Sie ist irrational, weil sie sich nicht einfach der angenommenen Gleichung von Bedürfnis, Produkt und Befriedigung fügt, sondern Umwege nimmt wie das sprichwörtliche Jogurt, das aus Gründen des Profits von der Kuh zur Konsumentin quer durch Europa und noch weiter fährt. Dagegen wird eine rationale Organisation von Gesellschaft in Anschlag gebracht, die dieser Gleichung folgen würde. Demokratische Gremien oder andere, jedenfalls herrschaftsfreie soziale Institutionen und Prozesse der direkten Artikulation von Wünschen würden dann über legitime Bedürfnisse, angemessene Produkte und Prozesse ihrer Herstellung entscheiden, die umstandslos eine Befriedigung der Bedürfnisse zur Folge hätten. Dabei umfasst die Bandbreite der Bedürfnisse in der Regel auch jene nach einer Befriedigung in der Tätigkeit selbst, im Herstellen, das als Lohnarbeit oder marktorientiertes Selbstunternehmertum nur ein weiteres Mal die Irrationalität der kapitalistischen Produktionsweise zeige.

Eine solche Vorstellung von Transformation und auch von Keimform, die jener den Weg bereiten soll, kann auch in historisch jüngeren Varianten kaum ihre Herkunft aus der Zeit des Fordismus leugnen, als von politisch links bis rechts die Gesellschaft als ein planbares Aggregat unterstellt worden ist, das sich nach den jeweiligen Kriterien der Rationalität auszurichten habe.

„Bedürfnisse“ gelten in dieser Sicht als naturgegeben und daher in jedenfalls allgemeiner Form als universell, und sie geltend zu machen als hinreichender Bezugspunkt dessen, was in der Linken oft als „Emanzipation“ bezeichnet wird. „Bedürfnisbefriedigung“ gelingt dann über Produkte und deren Herstellung sowie über die Tätigkeiten und deren Entfaltung selbst.

Gesellschaft, so ist die implizite Voraussetzung, sei sich selbst durchsichtig und könne folglich grundsätzlich nach einem Plan organisiert werden. Dabei sehe ich den Begriff des Plans als Synonym einer gesellschaftlichen, das heißt großskalierten und umfassenden Regelung des Stoffwechsels. Das Raffinement des vorgestellten Plans hat inzwischen freilich sehr zugenommen. Erstens aufgrund der heute verfüg- oder denkbaren digitalen Produktions- und Kommunikationstechnologien, zweitens aufgrund der Form von Gesellschaft selbst, die nicht mehr von fordistischen korporativen Strukturen geprägt ist, sondern eine neue chaotische Undurchsichtigkeit einer Vielfalt sich artikulierender Interessen aufweist; drittens aufgrund von neuen Vorstellungen davon, was „der Mensch“ sei oder sein sollte.

Folglich wirkt heute eine Passage wie von Antonio Gramsci hoffnungslos obsolet und regelrecht autoritär, in der er den Kommunismus als Weiterführung und „rationale Organisation“ der Fabrik definiert. Es ist vielmehr eine Weiterführung und ein Ausbau der heute im Kapitalismus hegemonialen Form netzwerkartigen und projekt- wie prozesshaften Arbeitens als „peer economy“ oder „Commons“ ohne Markt und Staat, die als durchaus zeitgemäß und erstrebenswert angesehen wird.

Was wird hier als „Emanzipation“ verstanden?

Würde man Emanzipation als die Abwesenheit von Hunger und Obdachlosigkeit, die Versicherung gegen soziale Risiken und ein relativ hohes Maß gesellschaftlicher Gleichheit bezeichnen, dann könnten wohl die skandinavischen Länder des Fordismus, vielleicht sogar die UdSSR als relativ emanzipierte Gesellschaften gelten. Als emanzipiert wären dann allerdings auch – und mehr noch – eine Reihe von nichtmodernen Gesellschaften zu betrachten.

Dies wäre gleichwohl sehr paradox angesichts einer weiteren Grundannahme in der Linken, die eine emanzipierte Gesellschaft als eine sich selbst durchsichtige, den Gesetzen einer so genannten Vernunft gehorchende versteht. Darin gibt es keine den sinnlichen Gebrauchswert von Dingen überschreitende Aura des Fetischhaften mehr, wie es in nichtmodernen Gesellschaften der Fall ist, keine Mächte der Transzendenz, mythische Vorstellungen, schamanischen Riten und dergleichen. Eine Annahme übrigens, die es dieser Konzeption recht schwer macht, mit der bedeutungsgeladenen Warenwelt der Postmoderne analytisch und normativ einen Umgang zu finden.

Doch Emanzipation beinhaltet in der Regel einen noch weitaus größeren Kreis an Bedeutungen. Da ist zuerst einmal der emphatische Marxsche Begriff davon, der sich mit der Idee eines Beginns der im eigentlichen Sinn menschlichen Geschichte verbindet. Demnach solle erst die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise den genannten planvollen, rationalen, bedürfnisorientierten gesellschaftlichen Entwicklungsprozess einleiten können, worin „der Mensch seine Wesenskräfte“ als die seinen erkennt und praktisch verwirklicht, anstatt sie in den von Marx als Fetisch bezeichneten Formen des Werts von sich und seiner Gesellschaftlichkeit abzuspalten und in Dinge zu projizieren.

Und es ist weitergehend ein emphatisches Verständnis von Emanzipation im Gefolge der Gegenkulturen der 1960er und 1970er Jahre zu berücksichtigen. Diese prägten einen Begriff von Emanzipation als Aufhebung von Normen, die als willkürlich und herrschaftsförmig gedacht wurden und als experimentell-kreative Entfaltung „aller menschlichen Potenziale“. Dieser Auffassung stand die romantisch beeinflusste Formulierung bei Marx, der sich als Jäger am Vormittag und kritischen Denker am Nachmittag in einer fantasievollen Beschreibung kommunistischer Verhältnisse porträtierte, weitaus näher als die Vorstellung einer geordneten Übernahme des Produktionsapparats durch eine kommunistische Partei oder ein anarchistisches Syndikat. Dass jenes Selbstporträt als Subjekt einer radikal-ästhetischen, momentanistischen Existenzweise darauf beruhte, dass, wie Marx schreibt, „die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun“, also zugleich Plansubjekte einen Plan verwirklichen, markiert einen Widerspruch, der bisherige Transformationsentwürfe wie auch die Keimformdebatte zu durchziehen scheint. Bemerkenswert ist dieser Widerspruch, weil Marx sich hier als Jäger, Denker und so fort betrachtet, während die Gesellschaft als ein von ihm scheinbar unabhängig produzierendes Aggregat „die allgemeine Produktion“ regelt. Dies birgt die Frage, wie ein Subjekt beschaffen sein muss, damit es sich einen Teil des Tages von seinen Impulsen zur „Selbstentfaltung“ und Weltwahrnehmung treiben lässt, einen anderen aber den „Notwendigkeiten“ des Lebens folgt und entsprechend anders agiert – und ob so ein Subjekt überhaupt vorstellbar wäre oder je existiert hat.

Das Plansubjekt

Weit mehr noch als im 19. Jahrhundert ist die gegenwärtige Gesellschaft von einer komplexen und hochgradig spezialisierten Arbeitsteilung charakterisiert, die eine enge Abstimmung einer Vielzahl global verstreuter Arbeitsschritte erfordert, selbst um zum kulturellen Mindeststandard zählende Alltagsgegenstände zu erzeugen. Diese komplexe Arbeitsteilung stellt sich über vom Markt verbundene, hierarchisch organisierte kapitalistische Betriebe im Rahmen staatlicher Regelungen her. Zwar könnte die Komplexität dieser Arbeitsteilung teilweise in lokal-autonome Produktionsprozesse rückgeführt werden, indem neuartige computergestützte Produktionsmethoden nach Art der fabber eingesetzt werden, wie etwa André Gorz vorgeschlagen hat. Doch bleiben auch diese hochtechnologischen Maschinen auf eine äußerst voraussetzungsvolle globale Arbeitsteilung und die ökologisch und sozial sehr problematische Gewinnung dafür nötiger Rohstoffe und Energieträger angewiesen.

Die Frage einer Ersetzung der Vermittlungsfunktion des Marktes ohne Rückgriff auf staatsinterventionistische Methoden, wie sie in Teilen der Keimformdebatte gestellt wird, hat es folglich mit dem klassischen Planungsproblem zu tun. Dieses ist gerade keine im engeren Sinn technische Frage, sondern ganz wesentlich eine der Herstellung von planungsorientierten Subjekten, die ihre Subjektform in entsprechenden Organisationen und darin verstetigten Praktiken institutionalisieren.

Eine solche Entsprechung konnte unter den Bedingungen des fordistischen Produktionsregimes für natürlich und problemlos genommen werden. Die damals vorherrschende Subjektform orientierte sich auf soziale Angepasstheit an standardisierte Normen hin und auf technisch-sachlich verkleidete hierarchische Strukturen. Das kann heute jedoch nicht mehr unterstellt werden. Jeder solchen Lösung widerspricht einerseits die postmoderne Subjektivität, die sich momentanistisch, flexibel, kurzfristig, „individuell“ und hedonistisch ausrichtet. Sie hat eine Vielfalt an Bedürfnissen einschließlich einem nach Differenz entwickelt, die sich weniger auf materielle, sondern mehr auf semiotische Qualitäten oder Einsatzmöglichkeiten von Produkten und deren Kombinatorik ausrichten. Andererseits widerspricht jener fordistischen Ausrichtung eine radikal-ästhetische Subjektivität auch jenseits ihrer spezifischen postmodernen Form bereits in der Gestalt, wie sie etwa im oben referierten Marxschen Zitat zum Ausdruck kommt. Ihr widerspricht auch jene Subjektivität, wie sie in den Subjekttransformationen der Gegenkulturen der 1960er und 1970er Jahre modelliert worden ist. Diese Transformationen sind für kontemporäre, sich emanzipativ verstehende Bewegungen grundlegend.

Der Widerspruch zwischen Plansubjekt, das langfristigen Routinen folgt und sich an der Erfüllung von Normen der Produktion orientiert, und ästhetischem Subjekt, das im Gegensatz dazu im „Hier und Jetzt“ lebt, Impulsen folgt und sich vorrangig an seinem Erleben und dessen experimenteller Erweiterung orientiert, durchzog nicht zufällig die Projekte einer „alternativen Ökonomie“ dieser Gegenkulturen. Dieser Widerspruch führte wohl nicht nur unter den Bedingungen einer Marktökonomie zu vielfachen Erfahrungen des Scheiterns oder der Frustration. Auch in einer nicht-marktförmig vermittelten gesellschaftlichen Produktion wäre ein solcher Widerspruch virulent. Insbesondere unter den Bedingungen einer komplexen und global zerstreuten Arbeitsteilung.

Nachdem moderne Subjektformen grundsätzlich von Widersprüchen durchzogen sind, muss diese Feststellung nicht bedeuten, dass eine solche Perspektive unerreichbar wäre. Der Fokus der Problemskizzierung liegt vielmehr auf einem weiteren, zweifachen Umstand. Erstens bleibt das Planungsproblem unter den genannten Prämissen relevant; die man nicht teilen muss, wenn etwa einfachere Arbeitsorganisation und geringeres technologisches Niveau unterstellt werden. Zweitens beruht zunächst jedwede Form gesellschaftlicher Koordination, ob „bewusst“ oder „unbewusst“ hergestellt, auf bestimmten Subjektformen. Diese selbst stellen sich indes nicht „bewusst“ her, im Sinn einer frei verfügbaren Wahl von Dispositionen nach Maßgabe abstrakter Überlegungen.

Die Historisierung von Emanzipationsverständnissen

Ebenso wie die Vorstellung einer planbaren Gesellschaft problematisiert werden muss, und sei diese auf der Grundlage digitaler Kommunikation und computergestützter Produktion gedacht, gilt dies auch für die Idee einer „Emanzipation“ als einer „Befreiung menschlicher Wesenskräfte“. Tatsächlich lässt sich schlechthin nicht sagen, was „das menschliche Wesen“ nun „eigentlich ist“.

„Der Mensch“ ist schon für Marx ein Produkt seiner Umstände, der gesellschaftlichen Verhältnisse. Doch gilt dies in einem solchen Maße, dass auch der Restbestand einer Idee von einem „Kern des Menschen“, der gegen äußerlich gedachte „Zwänge“ „befreit“ werden müsste, zu hinterfragen ist. „Der Mensch“ existiert niemals in einer Weise, die vor jeder Kultur, vor den Wissensordnungen der Gesellschaft, vor sozialen Regelsystemen und Bedeutungen liegt. Insofern ist auch der altbekannte, scheinbare Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft aufzulösen in einen Begriff des Individuums in der sozialen Form des Subjekts. Der Mensch produziert sich selbst zusammen mit seiner Gesellschaftlichkeit, ebenso wie diese ihn produziert und die Weisen seiner Selbstproduktion.

Mit dem hier skizzierten spezifischen Subjektverständnis lassen sich die historischen Bewegungen besser verstehen, die sich nicht selten als „emanzipatorische“ beschrieben haben. So betrachtet verhalfen die Gegenkulturen der 1960er und 1970er Jahre nicht einem „ursprünglichen Wesen des Menschen“ zum Durchbruch gegen das „establishment“ und dessen „verknöcherte Verhältnisse“. Vielmehr handelte es sich um eine „Subjekttransformationsbewegung“ (Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt). Den so genannten 1968ern ging es wesentlich um eine neue Vorstellung von Mensch-Sein. Zwar brachen sie die vermeintliche Naturnotwendigkeit von Arbeit und Orientierung an bestimmten sozialen Normen auf, doch setzten sie neue scheinbare Naturnotwendigkeiten, wie auch das „establishment“ welche vermittelte, das sie im Namen der „Emanzipation“ bekämpften. Nun galt „der Mensch“ als „von Natur aus“ kreativ, spontan, soziale Grenzziehungen überschreitend. Und dieses Subjektmodell wurde zugleich zu einem neuen Sollen.

Widersprüchliche Subjektformen

Kulturelle Gegenbewegungen wie jene der 1960er und 1970er Jahre begleiten die rationalistischen, ordnungsorientierten Formen von Subjektkultur, die im Kapitalismus lange Zeit hegemonial waren, seit dem Beginn der modernen Gesellschaft. Sie lassen sich als ästhetische Bewegungen charakterisieren, die den Menschen als Kreativ- und Künstlersubjekt modellieren, mit einem Fokus auf Wahrnehmung und Erleben. Die Gegenkulturen der 1960er und 1970er Jahre aktualisierten so betrachtet zentrale Sinnelemente der Romantik, vermischt mit Neuerungen aus den Avantgardekulturen von der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Der heute hegemoniale Postmodernismus erweist sich als Resultat einer Kombination dieser zutiefst ästhetischen Orientierung mit einem ökonomistischen Modell des Menschen als eines beständige Wahlhandlungen vollziehenden, an seiner Selbstoptimierung und der ästhetisch-wettbewerblichen Performance interessierten Wesens, das „authentische Individualität“ beweisen soll.

Die politischen Programmatiken und Theorien der Gegenkulturen der 1960er und 1970er Jahre lassen sich zu großen Teilen – allerdings nicht ausschließlich – als Repräsentationen dieser neuen Subjektkultur deuten, vom Situationismus über den Operaismus bis zu den darauf folgenden Spielarten des Post-Strukturalismus und der Dekonstruktion; von den Versuchen einer „alternativen Ökonomie“, die heute als Solidarische Ökonomie oder als Commons erneut verhandelt werden, bis hin zur programmatischen Untergrabung verschiedener sozialer Normen der Angepasstheit an eine organisierte Gruppe.

Anders als es die Vorstellung eines planvollen Übergangs in eine geplante Gesellschaft rationaler Kriterien der Bedürfnisbefriedigung will, zeigen sich transformative Bewegungen unter diesem Blickwinkel als etwas Ungeplantes. Sie sind Antworten auf Brüche in den jeweils vorherrschenden Subjektformen, also der Art, wie Menschen sich selbst, ihre Gesellschaft und ihren Bezug zur Welt verstehen und dieses Verständnis praktizieren. Bedürfnisse entfalten sich nicht, wie Marx noch dachte, sondern sie verändern sich, und das mitunter drastisch.

Jede historische Formation der kapitalistischen Produktionsweise bringt damit ihre je eigenen Keimformen neuer Subjektivitäten hervor, die neue Formen der Organisation von Tätigkeiten anleiten und dadurch Stabilität gewinnen können. Dies gilt im besonderen Maße für die Gegenkulturen der 1960er und 1970er Jahre.

Diese bilden für heute wachsende Bewegungen im Namen von Solidarischer Ökonomie und von Commons ein historisches Sinnreservoir. Die damit verbundenen Praktiken sollen zunächst einmal eine Antwort auf die Mangelerfahrungen des postmodernen Subjekts darstellen. Freilich in modifizierter Form und dies vor allem in den kapitalistischen Zentren, wo nicht die Not zu neuen Überlebenspraktiken drängt. Dieses Subjekt erlebt sich unter gewissen Bedingungen in einem unüberbrückbaren Widerspruch zwischen Modell und Imperativ der kreativen Selbstentfaltung einerseits, die jedoch andererseits nur zur Geltung kommt, insoweit sie sich als marktgängig und sozialen Normen entsprechend erweist.

André Gorz vermutete, dass sich dieser Widerspruch gerade in den Berufen der so genannten creative class besonders schmerzhaft äußere und so genau an diesem sozialen Ort zu einer Transformation der kapitalistischen Produktionsweise dränge. Schmerzhaft äußert sich der für die hegemoniale postmoderne Subjektform typische Widerspruch freilich auch in vielen anderen Tätigkeitsbereichen und Lebenslagen. Dabei muss es nicht nur um eine Schwerpunktverschiebung vom marktorientierten zum kreativ-konsumtorischen Identitätspol des postmodernen Subjekts gehen. Auch neue Identitätspole wären in den Blick zu nehmen. So etwa eine mögliche Remoralisierung des Subjekts, was einen Rückgriff auf die frühbürgerliche Subjektform markieren würde, die sich entlang des binären Codes von moralisch/ amoralisch organisierte. Diese Remoralisierung äußert sich vielleicht auch in Diskurs und Praxis der Solidarischen Ökonomie. Sie zeigt sich weiter gefasst in den verschiedenen Formen von Fair Trade und allgemeiner noch in einer „Moralisierung der Märkte“ (Nico Stehr). Sie zeichnet sich im Commons-Diskurs weniger deutlich ab, wo vielmehr der Fokus auf dem Pol von Kreativität als Selbstexpression zu liegen scheint. Indes muss eine solche Remoralisierung noch keinen Bruch mit der postmodernen Subjektkultur hervorrufen. Und zwar dann nicht, wenn sich moralische Haltungen in die in dieser Subjektkultur prämierte Erzeugung von ästhetischer Differenz als „Lebensstil“ einfügen und diesem zum Ausdruck verhelfen sollen. Remoralisierung scheint sich freilich mit einer ästhetischen Subjektivität noch auf andere Art verkoppeln zu lassen, nämlich als die vorrangig gewaltförmige Ästhetik einer Existenz als „Gotteskrieger“ oder „Gotteskriegerin“.

Wohlgemerkt: In dieser Betrachtung geht es nicht darum, zu moralischen oder besser: ethischen Fragen Stellung zu beziehen. Es ist evident, dass ethisch betrachtet die Solidarische Ökonomie zu bejahen, das Gotteskriegertum abzulehnen ist. Was hier vielmehr in Rede steht, ist die historische Spezifik eines moralisch codierten Subjekts. Ein solches würde dem postmodernen Subjekt widersprechen, das sich nicht moralisch bestimmt, sondern über seine Selbstexpression entlang des Codes kreativ/konventionell. Tendenzen zu einer Remoralisierung des Subjekts in diesem spezifischen Sinn sind möglicherweise ein Hinweis darauf, dass die postmoderne Subjektform in eine Krise geraten könnte. Dies hätte Konsequenzen für Vorstellungen einer Transformation des Kapitalismus oder für seine Ablösung durch sich erweiternde Keimformen.

Wo sich die inneren Widersprüche der postmodernen Subjektform nun genau auf welche Arten artikulieren, vor allem aber wie Menschen darauf mit neuen Subjektmodellen reagieren, ist kaum noch untersucht. Dem bisherigen historischen Muster folgend wäre im Sinn des Keimform-Theorems hier jedenfalls nach neuen radikal-ästhetischen Entwürfen „des Mensch-Seins“ zu suchen. Dabei wäre der Frage nachzugehen, inwieweit sich diese Entwürfe entweder in die Imperative der Marktgängigkeit, der sozial anerkannten, „individuellen“ Ich-Performance und in die Vorstellung eines beständig zwischen Optionen „souverän“ und explorativ wählenden Menschen einordnen, wie sie das postmoderne Subjekt formuliert; oder inwieweit sie eine nicht mehr zu überbrückende Differenz zu diesem Pol der postmodernen Identität aufmachen; und schließlich wäre danach zu fragen, ob die Keimformen einer post-kapitalistischen Organisation von Produktion und Verteilung von Gütern und Diensten solche möglicherweise neuen Subjektentwürfe reflektieren.

Wenn darauf Antworten skizziert werden könnten, wären wir indes von einer Antwort auf die Frage, ob die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise bevorsteht, noch weit entfernt. Dies nicht nur weil sozialer Wandel kontingent verläuft und eine zwangsläufige, lineare Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise nur im Rückblick so erscheint, als Artefakt einer spezifischen Perspektive. Mehr noch spielt dabei eine Rolle, dass bisherige Subjekttransformationen, welche die kapitalistische Produktionsweise bekanntlich nicht erledigt haben, sondern modernisierten, von einer Reihe anderer Faktoren abhingen: von neuen materialen Kulturen in der Form neuer Technologien, vom Buchdruck über Film und Fernsehen bis zur Computertechnologie; von neuen humanwissenschaftlichen Interdiskursen, die „den Menschen“ als „aufgeklärtes“, „sexuelles“ oder „wahlhandelndes Wesen“ modellierten; und vom Umstand, dass mehrere solcher subjektbildender Praktiken und Diskurse den sozialen Wandel unabhängig voneinander in eine ähnliche Richtung trieben.

Es gilt in einer solchen Perspektive folglich nicht nur nach den Potenzialen neuer Technologien oder alternativen Praktiken des Tätigseins und der Lebensreproduktion Ausschau zu halten. Vielmehr wäre von Bedeutung, neue Weisen „des Mensch-Seins“ oder des „Mensch-Sein-Wollens“ aufzuspüren. Dies freilich kann nicht eine klassisch politisch gedachte Strategiebildung anleiten. Dafür sind nicht nur die Prozesse sozialen Wandels zu komplex, sondern ist auch die Triebkraft neuer Subjektformen ungeeignet.

Zwar bilden sich neue Subjektformen in Reflexionsprozessen und zunächst vor allem diskursiv. Doch ist ihr Substrat die Erfahrung eines Mangels, und in der Regel wird der darauf reagierende Aufbau eines neuen Ideal-Ich (Jacques Lacan) als Inkarnation eines „neuen Menschen“ von einer leidenschaftlichen Verhaftung an dieses Ideal begleitet. Es ist damit die Repräsentation des Subjekts als eine widerspruchsfreie, perfekte Einheit gemeint, die affektiv positiv besetzt wird und über die tatsächliche Hybridität des Subjekts hinweghelfen soll. Das Streben nach Glück, das den Menschen scheinbar überhistorisch auszeichnet, entpuppt sich in diesem Zusammenhang vielmehr als das Streben nach einer Passung der eigenen Lebenserfahrung mit dem jeweils hegemonialen oder eben gegenkulturell formulierten Ideal-Ich. Diese Verhaftung ist es, die bestimmte Entwürfe eines alternativen Lebens attraktiv macht oder sie stattdessen in engen Zirkeln theoretischer Debatten belässt.

Dieser Versuch, einen neuen Blick auf die Frage der Keimform einzuführen, kann zwar eine Grundannahme dieses Theorems bestätigen: dass nämlich kulturelle Neuerungen und damit verbundener sozialer Wandel in der bisherigen Geschichte der Moderne tatsächlich in Nischen entstanden sind und dann diffundierten. Zugleich muss er jedoch einen technologischen Determinismus ebenso ernüchtern wie einen rationalistischen Zugang.

 
image_print